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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2018
19. Jahrgang
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Von PD Dr. Dorothea Magnus, LL.M., Hamburg
Das Europäische Parlament hat am 12. Oktober 2017 der Verordnung des Rates zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft zugestimmt.[1] Deutschland und weitere 19 Mitgliedstaaten hatten sich vorher auf die Errichtung dieser supranationalen Behörde geeinigt. Die Aufgabe der Europäischen Staatsanwaltschaft (im Folgenden: EUStA) wird es sein, Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu ermitteln, zu verfolgen und anzuklagen. Damit schützt sie ein genuin originäres Rechtsgut der EU: deren Haushalt, der schätzungsweise jedes Jahr 50 Milliarden Euro Verlust erleidet durch Delikte wie etwa Betrug zulasten der EU-Strukturfonds oder grenzüberschreitendem Mehrwertsteuerbetrug großen Ausmaßes. Die Behörde soll ihre Arbeit voraussichtlich im Jahr 2020 aufnehmen. Erklärtes Ziel ist zudem eine engere Zusammenarbeit und ein effektiver Informationsaustausch zwischen europäischen und einzelstaatlichen Behörden, eine stärkere Abschreckung gegenüber Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union und die Steigerung der Strafverfolgungsquote, so dass es zu mehr Verurteilungen kommt und rechtswidrig erlangte Unionsmittel wieder eingezogen werden können.[2]
Bislang konnten nur die nationalen Behörden Betrugsfälle zulasten der EU strafrechtlich untersuchen und verfolgen. Ihre Kompetenzen endeten jedoch an den nationalen Grenzen. Auch zeigte die Vergangenheit, dass die Mitgliedstaaten selbst nur ein geringes Interesse daran hatten, Straftaten zu Lasten des Unionshaushaltes aufzuklären und zu verfolgen, weil, so lässt sich vermuten, die Vorteile dieser Taten nicht selten der nationalen Wirtschaft zugutekamen.[3] Eine Regelung auf Europäischer Ebene entspricht auch dem Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV), nach dem die Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union auf mitgliedstaatlicher Ebene nicht zu erreichen bzw. auf der Unionsebene besser zu ermöglichen sein muss. Ein solcher "Mehrwert" der Bekämpfung auf EU Ebene lässt sich am ehesten bei Delikten gegen den EU-Haushalt begründen, da die Deliktsverfolgung in diesem Bereich auf nationaler Ebene nachweisbar nicht immer mit großer Konsequenz erfolgt ist.[4] Bestehende EU-Stellen wie OLAF (Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung), Eurojust (Europäische Stelle für justizielle Zusammenarbeit) und Europol (Europäisches Polizeiamt) sind indes nicht befugt, strafrechtliche Ermittlungen durchzuführen bzw. abzuschließen und verfügen daher nicht über die Mittel, um einzelne Straftaten strafrechtlich untersuchen, verfolgen und anklagen zu können. Eurojust ist nach wie vor nur ein Forum für Kooperation und Koordination, die Behörde kann keine eigenen Ermittlungen durchführen. Ähnlich ist es bei Europol, das zu eigenen Ermittlungen ebenso wenig befugt ist. OLAF wiederum darf zwar selbst ermitteln, aber keine Sanktionen verhängen. Dies ist die Aufgabe der einzelnen Mitgliedstaaten. Da weder die bestehenden EU-Institutionen noch die nationalen Strafverfolgungsbehörden über die Grenzen hinweg Delikte gegen den Unionshaushalt wirksam bekämpfen können, soll diese Lücke in der Strafverfolgung die EUStA schließen.[5] Eine Zusammenarbeit mit diesen anderen EU-Institutionen ist aber ausdrücklich gefordert.[6]
Die EUStA wird als Institution der Union errichtet und besitzt eine eigene Rechtspersönlichkeit (Art. 3 EU-VO). Die Behörde, die in Luxemburg ansässig sein wird, setzt sich aus zwei Ebenen zusammen. Auf zentraler Ebene trägt ein Europäischer Generalstaatsanwalt, der zwei Vertreter hat, die Gesamtverantwortung für das Amt, er organisiert die Arbeit der EUStA, leitet ihre Tätigkeit und trifft Entscheidungen gemäß dieser Verordnung und der Geschäftsordnung der EUStA. Zudem vertritt er die EUStA gegenüber den Organen der Union, den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und gegenüber Dritten, Art. 11 EU-VO. Er sitzt den Ständigen Kammern vor, welche die von den Delegierten Europäischen Staatsanwälten geführten Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen überwachen und leiten. Sie gewährleisten außerdem die Koordination der Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen in grenzübergreifenden Fällen. Gemäß den Bedingungen der EU-VO und ggfs. nach Prüfung des vom betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalt vorgeschlagenen Entscheidungsentwurfs, treffen die Ständigen Kammern Entscheidungen bezüglich der Anklageerhebung, Einstellung eines Verfahrens, der Anwendung eines vereinfachten Strafverfolgungsverfahrens, der Verweisung eines Verfahrens an die nationalen Behörden oder der Wiederaufnahme von Ermittlungen, Art. 10 EU-VO. Zudem können sie den Delegierten Europäischen Staatsanwälten Weisungen erteilen, wie etwa Ermittlungen aufzunehmen etc. Die Ständigen Kammern setzen sich zusammen aus dem Europäischen Generalstaatsanwalt oder einem seiner Vertreter, welcher den Vorsitz führt. Den Vorsitzt der Ständigen Kammern führt der Europäische Generalstaatsanwalt oder einer der Stellvertreter des Europäischen Generalstaatsanwalts oder ein gemäß der Geschäftsordnung der EUStA zum Vorsitzenden benannter Europäischer Staatsanwalt und zwei ständigen Mitglieder, welche die Geschäftsordnung der EUStA festlegt, Art. 10 Abs. 1 EU-VO.
Von jedem der Mitgliedstaaten wird jeweils ein Europäischer Staatsanwalt abbestellt, der – unter Leitung des Europäischen Generalstaatsanwaltes – in Luxemburg seine Arbeit aufnimmt. Die Aufgabe dieser Europäischen Staatsanwälte ist es insbesondere für die Ständige Kammer und im Einklang mit etwaigen von dieser erteilten Weisungen die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen, für die die mit dem Verfahren betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwälte in ihrem Herkunftsmitgliedstaat zuständig sind, zu beaufsichtigen. Diese Aufsicht von zentraler Ebene soll eine EU-kohärente Ermittlungs‑ und Strafverfolgungspolitik gewährleisten. Die EUStA fungieren "als Verbindungsstellen und Informationskanäle zwischen den Ständigen Kammern und den Delegierten Europäischen Staatsanwälten in ihrem jeweiligen Herkunftsmitgliedstaat. Sie überwachen die Durchführung der Aufgaben der EUStA in ihrem jeweiligen Mitgliedstaat in enger Abstimmung mit den Delegierten Europäischen Staatsanwälten", Art. 12 EU-VO. In Ausnahmefällen kann auch der Europäische Staatsanwalt Ermittlungsmaßnahmen und andere Maßnahmen anordnen oder beantragen, er besitzt alle Befugnisse und Pflichten eines Delegierten Europäischen Staatsanwalts, Art. 28 Abs. 4 EU-VO. Zudem sitzt je ein Europäischer Staatsanwalt pro Mitgliedstaat zusammen mit dem Europäischen Generalstaatsanwalt in dem Kollegium. Dieses tritt regelmäßig zusammen und ist für "die allgemeine Aufsicht über die Tätigkeiten der EUStA zuständig. Es entscheidet über strategische Fragen und über allgemeine Angelegenheiten, die sich aus Einzelfällen ergeben, insbesondere mit Blick darauf, die Kohärenz, Effizienz und Einheitlichkeit bei der Strafverfolgungspolitik der EUStA in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen, sowie über in dieser Verordnung angegebene andere Fragen", Art. 9 EU-VO.
Auf dezentraler Ebene gibt es die sog. Delegierten Europäischen Staatsanwälte, die im jeweiligen Mitgliedstaat ansässig sind und die eigentlichen Ermittlungen entsprechend den Rechtsvorschriften des jeweiligen Mitgliedstaats durchführen. Pro Mitgliedstaat soll es mindestens zwei oder mehr Delegierte Europäische Staatsanwälte geben, die in Bezug auf Ermittlungen, Strafverfolgungsmaßnahmen und Anklageerhebung die gleichen Befugnisse wie nationale Staatsanwälte haben. Da zwei oder mehr Delegierte EUStA nicht die gesamte Ermittlungsarbeit leisten können, werden sich diese aller Voraussicht nach der nationalen Staatsanwälte und deren Hilfspersonen, der Polizei, bedienen, um die Ermittlungsarbeit personell bewältigen zu können. Sie sind u.a. für die Anklageerhebung zuständig und haben "insbesondere die Befugnis, vor Gericht zu plädieren, an der Beweisaufnahme teilzunehmen und die zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe gemäß dem nationalen Recht einzulegen", Art. 13 EU-VO. Sie können auch Aufgaben als nationale Staatsanwälte wahrnehmen, soweit sie dadurch nicht daran gehindert sind, ihre Pflichten als Delegierte Europäische Staatsanwälte zu erfüllen. Eine nicht unproblematische Folge davon ist, dass die Delegierten EUStA dann zwei Vorgesetzten unterstellt sind, die beide weisungsbefugt sind.[8] Dieses Problem wird so zu lösen sein, dass bei Übernahme eines Falles, der in die Zuständigkeit des EUStA fällt, der Delegierte EUStA nur den Weisungen seines EUStA und der Ständigen Kammer unterworfen ist, und bei allen anderen Fälle, die in die Zuständigkeit der nationalen Staatsanwälte fällt, der Delegierte EUStA seinem vorgesetzten nationalen Staatsanwalt weisungsabhängig ist. Nur auf diese Weise lassen sich Interessenskonflikte und sich widersprechende Anweisungen vermeiden.
Mit dem Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 hat die Europäische Staatsanwaltschaft eine explizite primärrechtliche Grundlage – Art. 86 AEUV – bekommen.[9] Innerhalb des Regelungsbereichs der EU-Verordnung über die Europäische Staatsanwaltschaft gilt der Anwendungsvorrang des EU-Rechts (Art. 5 Abs. 3 EU-VO), d.h. im Kollisionsfall bleibt die nationale Vorschrift bestehen, darf aber nicht angewendet werden. Das entspricht dem Verhältnis von EU-Recht zu nationalem Recht: In der Normhierarchie steht das gesamte Primär- und Sekundärrecht der EU über dem einfachen Recht und auch über dem Grundgesetz. Indem Deutschland nach Art. 23 GG Souveränitätsrechte an die EU abgetreten hat, tritt das nationale Recht zurück, sofern der Anwendungsbereich des EU-Rechts eröffnet ist. Außerhalb des Regelungsbereichs der EU-Verordnung gelten in Deutschland hingegen die StPO und das StGB. Dies betrifft insbesondere den Verfahrensablauf im Zwischen-, Haupt- und Rechtsmittelverfahren, die Anklage, Verurteilung sowie die Rechtsfolgen.[10]
Die Delegierten EUStA sind befugt, die folgenden wesentlichen – hier knapp skizzierten –Ermittlungsmaßnahmen anzuordnen oder zu beantragen. Sie sind ein Mindestbestand an Ermittlungsmaßnahmen für Straftaten, die mit einer Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens vier Jahren bedroht sind (Art. 30 EU-VO):
Diese Ermittlungsmaßnahmen können unter Bedingungen gestellt oder teilweise beschränkt werden, sofern das nationale Recht bestimmte Beschränkungen enthält, etwa für bestimmte Personen- oder Berufsgruppen, die rechtlich zur Geheimhaltung verpflichtet sind. Eine solche Bedingung kann auch ein Richtervorbehalt sein, sofern das nationale Recht einen solchen vorsieht. Dass es hier zu Unterschieden im Schutzniveau kommen kann, die zu Lasten eines einheitlichen, präventiven Rechtsschutzes gehen, wenn ein Mitgliedstaat keinen Richtervorbehalt für diese grundrechtsrelevanten Zwangs-und Ermittlungen enthält, sei nur kurz angemerkt. Zusätzlich zu diesen Maßnahmen können die Delegierten Europäischen Staatsanwälte weitere Maßnahmen ergreifen, die nach dem nationalen Recht in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen den nationalen Staatsanwälten zur Verfügung stehen, Art. 30 Abs. 4 EU-Verordnung. Vereinzelt wurde – freilich noch zum Verordnungsvorschlag der Kommission – der Einwand vorgebracht, bei der Anordnung und Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen könne sich die EUStA "eines multiplen Verfahrens bedienen, da sie prinzipiell die Möglichkeit hat, auf sämtliche Verfahrenssysteme der Mitgliedstaaten zurückzugreifen und diese zu kombinieren".[11] Die endgültige EU-Verordnung schränkt jedoch diese Möglichkeit massiv ein, indem sie bestimmt, nur der jeweils betraute Delegierte EUStA führe die Ermittlungen durch und sei dabei an das Recht seines Mitgliedstaates gebunden. Abweichungen hiervon sind nur nach den in Art. 26 Abs.4 EU-VO streng geregelten Kriterien möglich.[12] Schließlich kann der betraute Delegierte EUStA auch anordnen oder beantragen, dass der Beschuldigte im Einklang mit dem nationalen Recht festgenommen oder in Untersuchungshaft genommen wird. Hält sich der Beschuldigte in einem anderen Mitgliedstaat als dem auf, in welchem der betraute Delegierte EUStA angesiedelt ist, so erlässt dieser einen Europäischen Haftbefehl. Für alle Ermittlungsmaßnahmen gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, indem die Maßnahmen zu Informationen oder Beweismitteln führen sollen, "die für die Ermittlungen nützlich sind, und keine weniger eingreifende Maßnahme zur Verfügung steht, mit der sich dasselbe Ziel erreichen ließe", Art. 30 Abs. 5 EU-VO. Auch bei den Ermittlungsmaßnahmen stellt die Verordnung einen engen Bezug zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten her, richten sich doch "die Verfahren und Modalitäten für die Durchführung dieser Maßnahmen nach dem geltenden nationalen Recht", Art. 30 Abs. 5 EU-VO.
Inwieweit allerdings Beweiserhebungs- und Beweisverwertungsverbote zu berücksichtigen sind, regelt die EU-Verordnung nicht explizit. Art. 37 EU-VO besagt insoweit nur, Beweismittel dürften "nicht allein deshalb als unzulässig abgelehnt werden, weil sie in einem anderen Mitgliedstaat oder nach dem Recht eines anderen Mit-
gliedstaats erhoben wurden". Da eine Regelung in der Verordnung fehlt, müsste nach der Maßgabe des Art. 5 Abs.3 EU-VO mithin das jeweilige nationale Recht heranzuziehen sein. Werden die Beweismittel in einem anderen Mitgliedstaat erhoben und hat das nationale Strafverfahren andere Regeln für die Erhebung oder Beibringung der Beweise, so besagt Erwägungsgrund 80 EU-VO jedoch, die von der EUStA vorgelegten Beweismittel müssten zugelassen werden. Dahinter steht das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Zwangsmaßnahmen und Beweisen, das nicht unproblematisch ist, werden doch die Zwangsmaßnahmen und Beweise ohne weitere Prüfung als rechtmäßig anerkannt.[13] Die Anordnung der Anerkennung von Beweisen dürfte, so steht zu befürchten, die Einrichtung eines speziellen Beweiszulassungsverfahrens auf nationaler Ebene ebenso verhindern wie die Annahme einer weitreichenden Verwerfungskompetenz des erkennenden Gerichts.[14]
Bei grenzüberschreitenden Fällen unterstützen und konsultieren sich die Delegierten Europäischen Staatsanwälte, Art. 31 EU-VO. Die Zusammenarbeit sähe beispielweise so aus, dass ein Delegierter Europäischer Staatsanwalt, der in Deutschland mit dem Fall betraut ist, dessen erforderlichen Ermittlungen aber in Frankreich durchzuführen sind, über die Ermittlungen entscheidet und seinen Delegierten französischen Kollegen anweist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Für die Begründung und Anordnung dieser Maßnahmen ist das Recht des Mitgliedstaats des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts maßgeblich. Die Ermittlungsmaßnahmen sind bei grenzüberschreitenden Sachverhalten dieselben wie die soeben ausgeführten und in Art. 30 EU-VO niedergelegten. Fordert das Recht des unterstützenden Mitgliedstaats eine richterliche Genehmigung, ist diese einzuholen. Bei ihrer Ablehnung zieht der betraute Delegierte EUStA die Zuweisung zurück. Verlangt hingegen das Recht des Mitgliedstaats des betrauten Delegierten EUStA einen Richtervorbehalt, so hat dieser Staatsanwalt sie einzuholen. Die Ermittlungstätigkeit endet nicht an den Grenzen der Mitgliedstaaten, sondern kann sich auch auf außerhalb der Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten begangene Straftaten erstrecken (Erwägungsgrund 64 EU-VO).[15]
Das Ermittlungsverfahren schließt dann in folgender Weise ab: Erachtet ein Delegierter Europäischer Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren für abgeschlossen, so unterbreitet er seinem Aufsicht führenden EUStA einen Bericht mit einem Beschlussentwurf, Anklage zu erheben, einzustellen oder das vereinfachte Verfahren zu beschreiten, das nach Art. 40 EU-VO insbesondere für weniger schwere Straftaten mit geringerem Schadensausmaß und bei Bereitschaft des Beschuldigten, den Schaden wiedergutzumachen, in Betracht kommt. Der Aufsicht führende EUStA leitet Bericht und Beschlussentwurf weiter an die Ständige Kammer, die entweder denselben Beschluss wie der Delegierte EUStA fasst, so dass dieser die Angelegenheit entsprechend weiter betreiben kann oder falls nicht ,,soweit erforderlich, die Verfahrensakte prüft, einen endgültigen Beschluss fasst und entsprechende Weisungen an den Delegierten EUStA gibt", Art. 35 EU-VO. Die Ständige Kammer kann nicht beschließen, das Verfahren einzustellen, wenn in einem Beschlussentwurf vorgeschlagen wird, Anklage zu erheben (Art. 36 Abs. 1 EU-VO). Dasselbe Verfahren gilt, wenn der Delegierte EUStA eine Einstellung beantragt oder wenn er Rechtsmittel einlegen will, wobei dann ausnahmsweise der Delegierte EUStA das Rechtsmittel ohne vorherige Absprache mit der Ständigen Kammer einlegen kann, wenn er ansonsten die nationalen Fristen für die Einlegung nicht einhalten kann, Art. 36 Abs.7 EU-VO. Hat mehr als ein Mitgliedstaat Gerichtsbarkeit für den Fall, so beschließt die Ständige Kammer grundsätzlich, in dem Mitgliedstaat des betrauten Delegierten Europäischen Staatsanwalts Anklage zu erheben, kann jedoch ausnahmsweise aus den in Art. 26 Abs.4 EU-VO genannten Gründen davon abweichen.[16]
Die Europäische Staatsanwaltschaft hat die Aufgabe, Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union zu bekämpfen (Art. 86 Abs. 1 Abs. 1 AEUV). In Betracht kommen u.a. Betrug, auch in Form des Abgaben-, Zoll-, Subventions- und Ausschreibungsbetrugs sowie missbräuchliche Subventionsverwendung, Urkundenfälschung, Bestechung, Geldwäsche, Untreue, insbesondere die sog. Haushaltsuntreue sowie weitere Straftaten, soweit sie finanzielle Interessen der Union beeinträchtigen.[17]
Art. 22 Abs.1 Verordnung bestimmt die Zuständigkeit der EUStA für die Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union, die in der PIF Richtlinie (EU 2017/1371)[18] in ihrer Umsetzung in nationales Recht festgelegt sind, ungeachtet dessen, ob dieselbe strafbare Handlung im nationalen Recht als andere Art von Straftat eingestuft werden könnte. Die Straftaten, die grenzüberschreitenden Mehrwertsteuerbetrug betreffen und daher mit dem Hoheitsgebiet von zwei oder mehr Mitgliedstaa-
ten verbunden sind, müssen zudem einen Gesamtschaden von mindestens 10 Mio. EUR umfassen. Durch die PIF-Richtlinie, die mit Mindestanforderungen die nationalen Rechtsordnungen harmonisiert, sollen die in der Richtlinie genannten Verhaltensweisen, im nationalen Recht der Mitgliedstaaten unter Strafe gestellt werden, sofern dies nicht bereits schon geschehen ist. Diese Verhaltensweisen sind zugleich der Anknüpfungspunkt für die sachliche Zuständigkeit der EUStA. Gegenstand einer Anklage und möglichen Verurteilung sind damit immer die Straftatbestände des nationalen Strafrechts. Es lässt sich daher zu Recht von einer "Renationalisierung" der EUStA sprechen, die nicht unproblematisch ist in Bezug auf die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten innerhalb der Behörde der EUStA.[19]
Neben natürlichen Personen kommen auch juristische Personen als potentielle Täter in Betracht. Art. 6 der PIF-Richtlinie, welche die sachliche Zuständigkeit der EUStA festlegt, enthält eine akzessorische Haftung juristischer Personen, sofern eine einschlägige Straftat zu ihren Gunsten und durch eine Leitungsperson begangen wurde (Art. 6 PIF-Richtlinie). Das ist nicht unproblematisch, sind juristische Personen doch nach deutschem Strafrecht per se nicht strafbar. Mangels individuellem Schuldvorwurf, der nur natürliche Personen treffen kann, scheidet das Verhalten juristischer Personen daher bislang aus dem Strafanwendungsbereich aus. Ob eine Strafbarkeit im Sinne einer Verbandsstrafe etwa von Unternehmen mit Umsetzung der Richtlinie im deutschen Recht eingeführt wird, bleibt abzuwarten. Art. 6 Abs. 2 PIF-RL ordnet an, dass die Mitgliedstaaten "die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass eine juristische Person verantwortlich gemacht werden kann". Mögliche Sanktionen für juristische Personen wären Geldstrafen oder Geldbußen sowie andere Sanktionen, darunter: "a) Ausschluss von öffentlichen Zuwendungen oder Hilfen, b) vorübergehender oder dauerhafter Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungsverfahren, c) vorübergehendes oder dauerhaftes Verbot der Ausübung einer Handelstätigkeit, d) Unterstellung unter gerichtliche Aufsicht, e) gerichtlich angeordnete Auflösung, f) vorübergehende oder endgültige Schließung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden", Art. 9 PIF-Richtlinie. Da die EUStA nur für Straftaten zuständig ist, wie sie "in ihrer Umsetzung in nationales Recht festgelegt sind" (Art. 22 Abs.1 EUStA), kann sie nur bei einer entsprechenden Kriminalisierung des Verhaltens juristischer Personen – mit allen ihren seit dem RG vorgebrachten, und hier nicht zu diskutierenden Einwänden[20] – tätig werden.[21]
Die Zuständigkeit der EUStA erstreckt sich auf strafrechtlich relevantes Verhalten von natürlichen und auch von juristischen Personen, das "ganz oder teilweise im Hoheitsgebiet eines oder mehrerer Mitgliedstaaten begangen wurde" (Art. 23 a EU-VO = Territorialitätsprinzip). Da nicht alle Mitgliedstaaten der EU der verstärkten Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Staatsanwaltschaft beigetreten sind, stellt sich die Frage wie die Europäische Staatsanwaltschaft in diesen Ländern tätig werden kann. Hierzu enthält die Verordnung in Art. 23 b, c EU-VO ein modifiziertes aktives Personalitätsprinzip. So ist die Europäische Staatsanwaltschaft zuständig für Straftaten, die "von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats begangen wurden, sofern ein Mitgliedstaat über Gerichtsbarkeit für solche Straftaten verfügt, wenn sie außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurden, oder außerhalb der in Buchstabe a genannten Hoheitsgebiete von einer Person begangen wurden, die zum Zeitpunkt der Straftat dem Statut oder den Beschäftigungsbedingungen unterlag, sofern ein Mitgliedstaat über Gerichtsbarkeit für solche Straftaten verfügt, wenn sie außerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurden".
Für die Straftaten, welche die EUStA verfolgen soll, verweist Art. 22 Abs.1 EU-Verordnung auf die sog. PIF-Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017, und zwar ist die EUStA zuständig für die dort genannten Straftaten wie sie "in ihrer Umsetzung in nationales Recht festgelegt sind, ungeachtet dessen, ob dieselbe strafbare Handlung im nationalen Recht als andere Art von Straftat eingestuft werden könnte".[22] Art. 3 der PIF-Richtlinie (PIF-RL) führt den Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union wie folgt aus:
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass vorsätzlich begangener Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union eine strafbare Handlung darstellt.
(2) Für die Zwecke dieser Richtlinie sollte Folgendes als "Betrug zum Nachteil der finan-
ziellen Interessen der Union" angesehen werden:
a) in Bezug auf Ausgaben, die nicht im Zusammenhang mit der Auftragsvergabe stehen, jede Handlung oder Unterlassung betreffend
i) die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel oder Vermögenswerte aus dem Gesamthaushalt der Union oder aus den Haushalten, die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden,
ii) das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge oder
iii) die missbräuchliche Verwendung dieser Mittel oder Vermögenswerte zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt wurden;
b) in Bezug auf Ausgaben im Zusammenhang mit der Auftragsvergabe, zumindest wenn sie in der Absicht begangen wird, dem Täter oder einer anderen Person durch Schädigung der finanziellen Interessen der Union einen rechtswidrigen Vorteil zu verschaffen, jede Handlung oder Unterlassung betreffend
i) die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel oder Vermögenswerte aus dem Gesamthaushalt der Union oder aus den Haushalten, die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmäßig erlangt oder zurückbehalten werden,
ii) das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge oder
iii) die missbräuchliche Verwendung dieser Mittel oder Vermögenswerte zu anderen Zwecken als denen, für die sie ursprünglich gewährt wurden, wodurch die finanziellen Interessen der Union geschädigt werden.
c) in Bezug auf Einnahmen, bei denen es sich nicht um die unter Buchstabe d genannten Einnahmen aus Mehrwertsteuer-Eigenmitteln handelt, jede Handlung oder Unterlassung betreffend
i) die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Haushalt der Union oder aus den Haushalten, die von der Union oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden,
ii) das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge oder
iii) die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge;
d) in Bezug auf Einnahmen aus Mehrwersteuer-Eigenmitteln jede im Rahmen eines grenzüberschreitenden Betrugssystems begangene Handlung oder Unterlassung betreffend
i) ii) iii) die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Mehrwertsteuer-Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass die Mittel des Unionshaushalts vermindert werden;
das Verschweigen einer mehrwertsteuerrelevanten Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge oder die Vorlage richtiger Mehrwertsteuer-Erklärungen zur betrügerischen Verschleierung einer nicht geleisteten Zahlung oder zur unrechtmäßigen Begründung von Ansprüchen auf Erstattung der Mehrwertsteuer.
Außerdem stellt Art. 4 PIF-Richtlinie "andere gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete Straftaten" unter Strafe wie Geldwäsche (Art. 4 Abs.1 PIF-RL), vorsätzliche Bestechlichkeit und vorsätzliche Bestechung (Art. 4 Abs.2 PIF-RL) und die – untreueähnliche – vorsätzliche missbräuchliche Verwendung von Vermögenswerten entgegen ihrer Zweckrichtung (Art. 4 Abs. 3 PIF-RL). Art. 5 PIF-RL regelt die Strafbarkeit der Anstiftung und Beihilfe zu den in der PIF-RL genannten Straftaten sowie den Versuch des Betrugs (Art.3 PIF-RL) und der missbräuchlichen Verwendung (Art. 4 Abs.3 PIF-RL). Bislang ist die PIF-Richtlinie noch nicht in deutsches Recht umgesetzt worden, so dass sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen lässt, welche Straftatbestände im deutschen StGB daraus resultieren werden. Wie die detaillierte Regelung des Art. 3 der PIF-Richtlinie zeigt, ist der Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union nicht schlicht mit dem einfachgesetzlichen § 263 StGB gleichzusetzen.[23] Doch erfassen die bereits bestehenden Normen des Subventionsbetrugs (§ 264 StGB), der Untreue (§ 266 StGB), der wettbewerbsbeschränkenden Absprachen bei Ausschreibungen (§ 298 StGB), der Steuerhinterziehung (§ 370 AO)[24] der Geldwäsche (§ 261 StGB), der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung (§§ 331, 333 StGB), der Bestechlichkeit und Bestechung (§§ 332, 334 StGB) sowie des Betrugs (§ 263 StGB) jeweils auch in Verbindung mit § 13 StGB weitgehend das Unrecht, das durch die PIF-Richtlinie bestraft werden soll.[25] In schweren Fällen von grenzüberschreitendem
Mehrwertsteuerbetrug oberhalb einer Schwelle von 10 Mio. € wäre ein entsprechender Absatz in § 261 StGB notwendig sowie der Hinweis, dass die Straftaten die finanziellen Interessen der Union verletzen.[26] Für die genannten Delikte ist die EUStA selbst dann zuständig, wenn es sich um rein nationale Fälle ohne grenzüberschreitende Dimension handelt. Die in den Artt. 3 und 4 PIF-RL genannten Straftaten sind als bloße Zielvorgabe an die Mitgliedstaaten zu verstehen, die, sofern die Länder nicht schon entsprechende Vorschriften haben, hinreichend bestimmt in gesetzliche Straftatbestände umgesetzt werden müssen. Nur auf diese bezieht sich dann die sachliche Zuständigkeit der EUStA. Sinnvoll wäre es daher, sofern wie bei § 261 StGB überhaupt Umsetzungsbedarf besteht, den Bezug zum Schutz der finanziellen Interessen der EU hervorzuheben, da die Verordnung allein dieses Rechtsgut schützen will.[27]
Die Europäische Staatsanwaltschaft ist über die Straftaten, die in der PIF-Richtlinie aufgeführt sind, ferner zuständig für Straftaten bezüglich der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung im Sinne des in nationales Recht umgesetzten Rahmenbeschlusses 2008/841/JI, wenn der Schwerpunkt der strafbaren Aktivitäten der kriminellen Vereinigung auf der Begehung von Straftaten nach der PIF-Richtlinie liegt. Im deutschen Recht ist dieser Rahmenbeschluss in § 129 Abs.1, Abs.3 StGB umgesetzt.
Die Europäische Staatsanwaltschaft ist außerdem für alle anderen Straftaten zuständig, die mit den in der PIF-Richtlinie ausgeführten Straftaten untrennbar verbunden sind, Art. 22 Abs. 3 EU-VO.[28] Die Zuständigkeit für diese Straftaten darf nur im Einklang mit Artikel 25 Absatz 3 der EU-Verordnung ausgeübt werden. Somit kann die Europäische Staatsanwaltschaft kraft Sachzusammenhangs auch die Verfolgung anderer Straftaten übernehmen, wenn diese untrennbar mit einem Vermögensdelikt zum Nachteil der EU verbunden sind.[29]
Jedenfalls ist die EUStA nicht zuständig für Straftaten in Bezug auf nationale direkte Steuern, auch nicht für Straftaten, die mit diesen untrennbar verbunden sind. Die Struktur und die Funktionsweise der Steuerverwaltung der Mitgliedstaaten werden von dieser Verordnung nicht berührt.
Haben die Straftaten, für welche die EUStA zuständig ist, allerdings einen Schaden von weniger als 100 000 EUR zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union verursacht und ist das Kollegium der Auffassung, "dass im Hinblick auf die Schwere der Straftat oder die Komplexität des Verfahrens im Einzelfall keine Ermittlung oder Strafverfolgung auf Unionsebene erforderlich ist und eine Verweisung im Interesse der Effizienz der Ermittlungen oder der Strafverfolgung besser wäre", so erlässt es allgemeine Leitlinien, die es den Ständigen Kammern gestatten, ein Verfahren an die zuständigen nationalen Behörden zu verweisen, Art. 34 Abs.3 EU-VO. Eine weitere de-minimis-Klausel enthält Art. 25 Abs.2 EU-VO: "Ist durch eine Straftat, die unter Artikel 22 fällt, ein Schaden von weniger als 10 000 EUR zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union entstanden oder zu erwarten, kann die EUStA ihre Zuständigkeit nur ausüben, wenn der Fall Auswirkungen auf Unionsebene hat, die es erforderlich machen, dass die Ermittlungen von der EUStA geführt werden, oder Beamte oder sonstige Bedienstete der Europäischen Union oder Mitglieder der Organe der Union der Begehung der Straftat verdächtigt werden könnten". Diese de-minimis-Klausel beschränkt den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Staatsanwaltschaft zu Gunsten der nationalen Strafverfolgung.
Da die sachliche Zuständigkeit der EuStA maßgeblich an nationales Recht gebunden ist, stellt sich die Frage, ob auch die für die Strafverfolgung, Anklage und Verurteilung maßgeblichen Verfahrensgrundsätze des nationalen Rechts Geltung erlangen. Sind für eine Verfolgung durch Delegierte Europäische Staatsanwälte in Deutschland beispielsweise das Legalitätsprinzip nach § 152 Abs.2 StPO und die Opportunitätsvorschriften der §§ 153 ff. StPO[30] anwendbar? Richtet sich das Ermittlungsverfahren nach den Grundsätzen des Offizial-und Akkusationsprinzips und gilt der Beschleunigungsgrundsatz? Gelten die Prinzipien des fair-trial, wie sie ihren Ausdruck in Art. 20 III GG und Art. 6 EMRK gefunden haben? Die Bindung an das Legalitätsprinzip ist in mehreren Vorschriften der Verordnung erkennbar. So regelt Art. 26 EU-VO, dass bei berechtigter Annahme einer Straftat,
welche in die Zuständigkeit der EUStA fallen würde, der Delegierte EUStA in dem Mitgliedstaat ein Ermittlungsverfahren einleitet. Damit erkennt die Verordnung einen Ermittlungs-und Verfolgungszwang an. Die Einhaltung dieser Strafverfolgungspflicht wird überwacht. So enthält die EU-VO im Gegensatz noch zum Verordnungsvorschlag die Möglichkeit der Ständigen Kammer, welcher der Fall zugewiesen wurde, einen Delegierten EUStA anzuweisen, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten, wenn dieser untätig blieb. Auf diesem Weg kontrolliert die Ständige Kammer auf zentraler Ebene die Einhaltung des Legalitätsprinzips. Auch nimmt Erwägungsgrund 66 ausdrücklich Bezug auf das Legalitätsprinzip, um Rechtsicherheit zu gewährleisten und Straftaten zu Lasten des EU-Haushalts wirksam zu bekämpfen, "sollte die Ermittlungs- und Strafverfolgungstätigkeit der EUStA vom Legalitätsprinzip geleitet sein, nach dem die EUStA die Vorschriften dieser Verordnung strikt einhält, insbesondere in Bezug auf die Zuständigkeit und ihre Ausübung, die Einleitung von Ermittlungsverfahren, die Beendigung von Ermittlungen, die Verweisung eines Verfahrens, die Einstellung des Verfahrens[31] und vereinfachte Strafverfolgungsverfahren". Allerdings sieht die EU-Verordnung nach wie vor keine Sanktionsmöglichkeiten für einen Verstoß gegen das Legalitätsprinzip vor. Weder gibt es Vorschriften für eine Bestrafung wegen Strafvereitelung im Amt oder Verfolgung Unschuldiger noch gibt es eine Art Klageerzwingungsverfahren. Da die Durchsetzung des Legalitätsprinzips für die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft essentiell ist, ist es hier dringlich angeraten, auch den Verfolgungs-und Anklagezwang gesetzlich abzusichern.[32] Angesichts der Notwendigkeit, auch Staatsanwälte bei Verletzung ihrer Amtspflichten zu kontrollieren und zu sanktionieren, wären hier Grenzen – etwa nach dem Vorbild des deutschen Rechts – empfehlenswert gewesen.[33]
Andere Verfahrensgrundsätze regelt die EU-Verordnung nur vereinzelt. So bestimmt Erwägungsgrund 65 der EU-Verordnung, die EUStA solle "sich bei ihren Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen von den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit, der Unparteilichkeit und der Fairness gegenüber dem Verdächtigen oder Beschuldigten leiten lassen" und Art. 5 Abs.2 EU-VO bindet die EUStA bei allen ihren Tätigkeiten an die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und der Verhältnismäßigkeit. Art. 37 EU-VO bestimmt, der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung bleibe durch die Verordnung unberührt und Art. 41 EU-VO erklärt die Bindung der EUStA an die in der Charta (Grundrechtecharta der EU) verankerten Rechten Verdächtiger und Beschuldigter, einschließlich des Rechts auf ein faires Verfahren, der Verteidigungsrechte und der Unschuldsvermutung. Zudem haben der Beschuldigte und alle am Verfahren der EUStA Beteiligte alle Verfahrensrechte, die ihnen das geltende nationale Recht zuerkennt, Art. 41 Abs.3 EU-VO. Da aber die Beschuldigtenstandards in den nationalen Rechtsordnungen immer noch voneinander abweichen, droht eine verfahrensrechtliche Ungleichbehandlung von Beschuldigten, denen – bei gleichem Tatvorwurf – national unterschiedlich ausgeprägte Verfahrensrechte zustehen. Dem Offizial- und Akkusationsprinzip trägt die EU-Verordnung Rechnung, indem die EUStA durch den Delegierten EUStA die Anklage erhebt und vor Gericht vertritt. Den Beschleunigungsgrundsatz regelt Art. 5 Abs.5 EU-VO. Opportunitätsgründe spielen bei der Verweisung an nationale Strafverfolgungsbehörden bei der de-minimis-Klausel eine Rolle.[34] Im Gegensatz zum Verordnungsvorschlag (Art. 29 VO-Vorschlag) enthält die EU-Verordnung nicht die Möglichkeit einer Einstellung gegen Zahlung eines Geldbetrages nach Wiedergutmachung des Schadens, welcher der Einstellung gegen Auflagen und Weisungen in § 153a StPO vergleichbar wäre. Diese wurde auch sehr kritisiert, da sie zu einer Privilegierung finanziell besser situierter Beschuldigter geführt hätte.[35] Sofern die Verordnung sonstige Prozessmaximen nicht regelt, gelten nationales Recht und die dort festgelegten Verfahrensgrundsätze, Art. 5 Abs.3 EU-VO.
Die Verordnung räumt den Delegierten EUStA neben den in ihr enthaltenen Befugnissen im Hinblick auf die Ermittlungen, Strafverfolgungsmaßnahmen und Anklageerhebung die Rechte eines nationalen Staatsanwalts ein (Art. 13 Absatz 1 EU-VO). Zudem fördern und unterstützen die zuständigen nationalen Behörden aktiv die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen der EUStA, Art. 5 Abs. 6 EU-VO, insbesondere für die Durchführung von Zwangsmaßnahmen sollte die EUStA die nationalen Behörden einschließlich der Polizeibehörden in Anspruch nehmen (Erwägungsgrund 69 EU-VO). Es gilt der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit.[36] Der Delegierte Europäische Staatsanwalt kann "die Ermittlungsmaßnahmen und andere Maßnahmen entweder selbst treffen oder die zuständigen Behörden seines Mitgliedstaats dazu anweisen. Diese Behörden stellen im Einklang mit dem nationalen Recht sicher, dass alle Weisungen befolgt werden, und treffen die ihnen zugewiesenen Maßnahmen", Art. 28 Abs.1 EU-VO. Auch ohne explizite Weisung ergreifen die nationalen Behörden alle erforderlichen Maßnahmen, um wirksame Ermittlungen sicherzustellen.
Zum Verhältnis nationaler und europäischer Staatsanwaltschaft bestimmt Erwägungsgrund 58 EU-VO, dass "die Zuständigkeit der EUStA für Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union in der Regel Vorrang vor nationalen Zuständigkeitsansprüchen haben sollte, damit die EUStA für Kohärenz sorgen und die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen auf Unionsebene lenken kann. Hinsichtlich dieser Straftaten sollten die Behörden der Mitgliedstaaten nicht tätig werden, es sei denn, es müssen Eilmaßnahmen getroffen werden, bis die EUStA entschieden hat, ob sie Ermittlungen führt". Hier wird noch einmal die vorrangige Zuständigkeit der EUStA betont. Die EU-Verordnung regelt auch den Fall, wie zu verfahren ist, wenn bereits die nationale Strafverfolgungsbehörde eines Mitgliedstaats ein Ermittlungsverfahren wegen einer Straftat eingeleitet hat, für die die EUStA sachlich ihre Zuständigkeit ausüben könnte, so unterrichtet diese Behörde die EUStA unverzüglich, damit diese entscheiden kann, ob sie ihr Evokationsrecht (Artikel 27 EU-VO) ausübt. Übt der Delegierte Europäische Staatsanwalt sein Evokationsrecht aus, so zieht er die Sache an sich. Die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats geben ihm dann unverzüglich die Akte ab und führen keine weiteren Ermittlungstätigkeiten in Bezug auf dieselbe Straftat durch. Verzichtet der Delegierte Europäische Staatsanwalt auf die Ausübung seines Evokationsrechts, so hat er die nationale Strafverfolgungsbehörde unverzüglich zu benachrichtigen und auch die Ständige Kammer zu informieren, damit diese eine Entscheidung über eine entsprechende Weisung, zu evozieren, fällen kann.
Die vielfach befürchtete Gefahr eines Forum shopping, dass also die EUStA sich aussuchen könne, wo sie Anklage erhebt, ist durch die Verordnung entschärft worden. Art. 26 Abs. 4 EU-VO bestimmt, "dass ein Verfahren in der Regel von einem Delegierten Europäischen Staatsanwalt aus dem Mitgliedstaat eingeleitet und bearbeitet wird, in dem der Schwerpunkt der strafbaren Handlung liegt, oder, falls mehrere miteinander verbundene Straftaten innerhalb des Zuständigkeitsbereichs der EUStA begangen wurden, aus dem Mitgliedstaat, in dem der Großteil der Straftaten begangen wurde". Eine Abweichung und Übernahme durch einen Delegierten Europäischen Staatsanwalt eines anderen Mitgliedstaats, der Gerichtsbarkeit für den Fall hat, kann nur angenommen werden, wenn sie gebührend begründet ist, wobei die folgenden Kriterien in der angegebenen Rangfolge gelten "a) gewöhnlicher Aufenthaltsort des Verdächtigen oder Beschuldigten; b) Staatsangehörigkeit des Verdächtigen oder Beschuldigten; c) Ort, an dem der Hauptteil des finanziellen Schadens eingetreten ist" (Art. 26 Abs.4 EU-VO). Nach diesen Maßgaben hat der Delegierte EUStA kein freies Auswahlrecht, wo er Anklage erhebt. Maßgeblich sind die Kriterien der Verordnung. Das ist entscheidend, wären ansonsten einer Missbrauchsgefahr Tor und Tür geöffnet, da die Wahl des Verfahrensstaats weitgehend über das materielle und prozessuale Recht entscheidet, das auf den Fall Anwendung findet.[37]
Zur Weisungsgebundenheit der Europäischen Staatsanwaltschaft enthält Art.86 AEUV keine Aussage. Artt. 6, 13 EU-VO füllen diese Kompetenznorm aus und sehen ein begrenztes Weisungsrecht vor. Nach Art. 6 Abs.1 EU-VO ist die Europäische Staatsanwaltschaft unabhängig. Sie darf bei der Erfüllung ihrer Pflichten Weisungen von Personen, Mitgliedstaaten oder Institutionen der Union weder einholen noch entgegennehmen noch sonst bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben beeinflusst werden (Art. 6 Abs.1 EU-VO). Allein der »Europäische Staatsanwalt ist dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Europäischen Kommission für die allgemeinen Tätigkeiten der Europäischen Staatsanwaltschaft rechenschaftspflichtig, insbesondere durch Vorlage eines Jahresberichts« (Art. 7 EU-VO). Die Delegierten EUStA, von denen es mindestens zwei pro Mitgliedstaat geben soll, "folgen der Leitung und befolgen die Weisungen der für das Verfahren zuständigen Ständigen Kammer sowie die Weisungen des die Aufsicht führenden Europäischen Staatsanwalts", Art. 13 Abs.2 EU-VO. Diese Normen entsprechen der Vorstellung der Kommission, nach der die Europäische Staatsanwaltschaft keine autonome Organisation der Union sein soll, sondern dezentral Abgeordnete Europäische Staatsanwälte in jedem Mitgliedstaat eingesetzt werden sollen, für deren Personalstatut das innerstaatliche Recht gilt.[38] Die Delegierten EUStA sind »dienst- sowie disziplinarrechtlich dem Europäischen Staatsanwalt unterstellt, dessen Weisungen sie unterworfen sein sollen«.[39] Die Verordnung enthält also ein internes Weisungsrecht des EUStA gegenüber den Delegierten EUStA, die in den Mitgliedstaaten die Strafverfolgung übernehmen. Seinerseits ist der EUStA und die Europäische Staatsanwaltschaft insgesamt von Weisungen der EU-Organe und Mitgliedstaaten unabhängig. Der Deutsche Richterbund moniert die Regelungen über die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten als zu unklar. So sei nicht deutlich, wie die Delegierten EUStA ihre Ermittlungen eigenverantwortlich durchführen sollen, andererseits aber von den Weisungen und Anweisungen der Ständigen Kammer und dem EUStA abhängig zu sein.[40] Auch sei die Aufgabenverteilung innerhalb der Behörde geeignet, die Verantwortungsbereiche der einzelnen Beteiligten zu verschleiern.
Der Kritik ist zuzugeben, dass die EU-Verordnung keine detaillierte Regelung eines Weisungsrechts der EUStA enthält. Eine solche Regelung – etwa nach deutschem Vorbild des § 147 GVG – wäre nützlich, um die beschränkte Weisungsabhängigkeit inhaltlich deutlicher zu machen.[41] Die Regelung in Art. 6 EU-VO bindet die Mitglieder der Europäischen Staatsanwaltschaft an die Interessen der Union, wie sie rechtlich definiert sind ("as defined by law"). Eine politische Einflussnahme durch nationale Parlamente ist damit ausgeschlossen. So be-
stimmt Art. 6 EU-VO ausdrücklich, dass die EUStA unabhängig sei und bei der Erfüllung ihrer Pflichten "Weisungen von Personen außerhalb der EUStA, von Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder Organen, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union weder einholen noch entgegennehmen dürfen. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union und die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union achten die Unabhängigkeit der EUStA und versuchen nicht, sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zu beeinflussen". Ein externes Weisungsrecht der einzelnen Mitgliedstaaten gibt es folglich auf EU-Ebene nicht.
Die Möglichkeit der Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft ist auf zum Teil heftigen Widerstand gestoßen. So wird in ihr u. a. ein schwerer Eingriff in die Souveränität der Mitgliedstaaten gesehen.[42] Er sei mit der Strafrechtspflege als Kern der nationalen Souveränität nicht vereinbar, wenn die Europäische Staatsanwaltschaft unter dem Schutz europarechtlicher Immunität handeln würde. Auch wird der Vorwurf einer »repressiven und bürgerrechtsunfreundlichen Kriminalpolitik« erhoben, da es als Gegenstück an der Institution eines Europäischen Strafverteidigers fehle.[43] Einige Kritiker fordern daher, auf Seiten der Verteidigung einen »Eurodefensor« zu schaffen und gleichzeitig die Beschuldigtenrechte zu stärken.[44] Dass der EU-Gesetzgeber im Zuge der Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft nicht die Notwendigkeit sah, ein Europäisches Pflichtverteidigersystem zu schaffen, ist zu kritisieren. Er schafft damit kein prozessuales Gegenstück zur Staatsanwaltschaft, um die Beschuldigtenrechte zu stärken. Im Sinne der Waffengleichheit wäre ein europäisches Pflichtverteidigersystem sinnvoll.[45] 13 Parlamente der Mitgliedstaaten hatten zudem mit der Subsidiaritätsrüge (Art. 5 EUV) den Vorschlag der Kommission im Gesetzgebungsverfahren angegriffen. Es wurde »die Vereinbarkeit mit nationalem Verfassungsrecht, die Zuständigkeitsabgrenzung speziell bei Bagatellfällen und die Sicherstellung einer effektiven Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Staatsanwaltschaft und den Mitgliedstaaten« in Frage gestellt.[46] In ihren Stellungnahmen haben die Parlamente die »gerichtliche Überprüfbarkeit der Ermittlungsmaßnahmen bei etwaigem administrativen Fehlverhalten sowie die Integration abgeordneter Europäischer Staatsanwälte in Mitgliedstaaten« gerügt.[47] Gerügt wurde insbesondere der unzureichende Nachweis der Erforderlichkeit der Maßnahme; die unzureichende Prüfung von Alternativen, insbesondere die mögliche Stärkung der Kompetenzen von OLAF und Eurojust; das Nichtabwarten der PIF-Richtlinie zum Zeitpunkt der Verordnungsvorschlags; das zu starke Zurückdrängen nationaler Kompetenzen bei der Verfolgung der einschlägigen Straftaten; die unklare Zuständigkeitsabgrenzung; der nicht ausreichende Schutz der Rechte der Verfahrensbeteiligten; die Vereinbarkeit mit Grundrechten etc.[48] Die Kommission hat die Bedenken zu einem großen Teil für unbeachtlich gehalten; da die endgültige EU-Verordnung jedoch in einer Reihe von Punkten von dem Verordnungsvorschlag abweicht, wurden einige der Bedenken im Legislativverfahren gleichwohl berücksichtigt. 8 Mitgliedstaaten der EU sind der verstärkten Zusammenarbeit über die Europäische Staatsanwaltschaft nicht beigetreten und haben die EUStA abgelehnt. Ob bei Ländern wie Polen und Ungarn, welche der EUStA nicht beigetreten sind, und die von großen europäischen Transferzahlungen profitieren und in der Vergangenheit über eine Anzahl von Betrugsfällen in ihren Mitgliedstaaten berichtet hatten[49], die Ablehnung auch mit einem Desinteresse an eigener Korruptionsverfolgung und der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards sowie möglicher Profitierung von Subventions- oder Mehrwertsteuerbetrug in Milliardenhöhe zusammenhing, steht unausgesprochen – und unbewiesen – im Raum.[50]
Mit der Errichtung einer Europäische Staatsanwaltschaft geht die Frage einher, ob wir eine einheitliche europäische Strafverfahrensordnung brauchen. Nicht unproble-
matisch ist, dass durch die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft ein Europäischer Strafverfolgungsraum geschaffen werden soll, für den es keine (rechtsstaatliche) Grundlage gibt, da die Prozessrechtssysteme der einzelnen Mitgliedstaaten noch zu unterschiedlich sind.[51] In der Tat hatte die Kommission bereits 2001 in ihrem Grünbuch die "Schaffung eines vom Recht der Mitgliedstaaten unabhängigen europäischen Strafrechts" erwogen.[52] Die Verordnung legt zwar die Zuständigkeit der Europäischen Staatsanwaltschaft zur Verfolgung bestimmter Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union fest. Die entsprechenden Strafgesetze finden sich jedoch in den mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen, die bereits in großen Teilen harmonisiert sind bzw. durch die PIF-Richtlinie weiter harmonisiert werden. Darüber hinaus kann das Europäische Parlament und der Rat weitere Harmonisierungsmaßnahmen, insbesondere im Rahmen des Art. 325Abs. 4 AEUV vornehmen.[53] Allerdings hat die EU im Zuge des Lissaboner Vertrags primärrechtlich die Harmonisierung des materiellen Strafrechts und des Strafprozessrechts nur durch Richtlinien und nicht Verordnungen vorgesehen. So können nach Art. 82 Abs. 2, 83 AEUV nur Richtlinien Mindeststandards vorgeben, die grundsätzlich der Umsetzung in nationales Recht bedürfen, dabei den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und der Mittel überlassen und keine unmittelbare Wirkung zum Nachteil von Unionsbürgern entfalten (Art. 288 UAbs. 3 AEUV).[54] Eine unmittelbare Strafrechtssetzung (durch Verordnungen) der EU scheidet daher aus. Letzteres haben die Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und der deutsche Anwaltsverein (DAV) gefordert und scharf kritisiert, dass die Kommission bereits in dem EU-Verordnungsvorschlag die Schaffung einer solchen Verfahrensordnung nicht berücksichtigt hat.[55]
Beide Optionen haben Vor- und Nachteile. Für eine Anwendung des nationalen Strafprozessrechts spricht zum einen, dass sich Art. 86 Abs. 3 AEUV auf eine Schaffung solcher Verfahrensvorschriften bezieht, die für die Europäische Staatsanwaltschaft, nicht aber für das Recht der nationalen Gerichtsorganisation und das gerichtliche Hauptverfahren gelten. Auch kann bei einer Anwendung des nationalen Strafprozessrechts das Gericht des betroffenen Mitgliedstaats nach eigenem Recht prozessieren, was Vorteile für die Rechtsanwendung hat. Andererseits wäre bei der Ermittlungstätigkeit und Anklagerhebung in einem solchen Fall das Recht anwendbar, das für die Europäische Staatsanwaltschaft gilt, was zu einem Statutenwechsel führen würde. Eine Herausforderung bei der Anwendung nationalen Rechts wäre zudem, dass die Europäische Staatsanwaltschaft in der Lage sein muss, auch im gerichtlichen Hauptverfahren die nationale Strafprozessordnung anzuwenden, was bei grenzüberschreitenden Sachverhalten schwierig sein kann.[56] Die Anwendung eines europäischen Strafverfahrensrechts hätte demgegenüber den Vorzug, dass das gesamte Verfahren nach einem einheitlichen Strafprozessrecht beurteilt werden könnte, ein schwieriger Statutenwechsel also nicht erforderlich wäre. Doch bestünde die Gefahr einer "Fragmentierung des Strafprozessrechts auf nationaler Ebene", wenn die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet wären, die einschlägigen Vermögenstraftaten nach einem anderen als dem eigenen Verfahrensrecht zu verhandeln und abzuurteilen.[57] Die Schwierigkeit der Schaffung einer eigenen Europäischen Rechtsordnung hat zudem das Ringen um ein europäisches Zivilgesetzbuch eindrücklich gezeigt. Der ursprüngliche Traum von einem umfassenden Europäischen Zivilgesetzbuch, der zum Teil in dem Draft Common Frame of Reference (DCFR) verwirklicht werden sollte, hat sich schnell zu einem schmalen Regelungsprojekt für den Verbraucherkauf im Internet verkleinert. Die Schaffung einer einheitlichen Europäischen Strafprozessordnung der EU-Mitgliedstaaten, deren nationale Strafprozessordnungen wenig kompatibel sind, sähe sich möglicherweise ähnlichen Umsetzungsschwierigkeiten ausgesetzt. Doch zeigt auch der Blick auf das Zivilprozessrecht, dass im Wege der Brüssel Ia Verordnung einheitliche Standards etwa zur Zuständigkeit und gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheidungen auf europäischer Ebene getroffen werden konnte. Obwohl ein Konsens der Mitgliedstaaten über ein einheitliches Konzept eines europäischen Straf-und Strafverfahrensrechts, das sowohl den nationalen Interessen der Mitgliedstaaten Genüge tut, als auch den unionsrechtlichen Anforderungen entspricht, momentan nicht in Sicht ist, ist gleichwohl auf lange Sicht die Entwicklung einer zumindest rudimentären europäischen Verfahrensordnung erstrebenswert. Auch die Schaffung eines unionseinheitlichen Strafanwendungsrechts ist wünschenswert. Dieses hätte indes die Voraussetzung, dass auch ein einheitliches materielles Unionsstrafrecht existieren müsste.[58] Sollte in Zukunft ein solches Unionsrecht geschaffen werden, dann wäre auch der Weg für ein echtes
EU-Strafanwendungsrecht geebnet.[59] Bis zum Erlass einer einheitlichen Verfahrensordnung ist angesichts der Tatsache, dass das eigentliche Strafverfahren vor einem nationalen Gericht geführt wird (Artt. 4, 36 EU-VO) und die Abgeordneten Europäischen Staatsanwälte die gleichen Befugnisse haben wie die einzelstaatlichen Staatsanwälte (Art. 13 Abs.1 EU-VO) nationales Strafverfahrensrecht die Grundlage eines "europäischen" Strafverfahrens.[60]
Nach Art. 86 Abs.3 AEUV ist der Unionsgesetzgeber ermächtigt, Vorschriften für die gerichtliche Kontrolle der Handlungen der Europäischen Staatsanwaltschaft zu erlassen. Dahinter steht das Rechtsstaatsprinzip, das einen effektiven Rechtsschutz in Form von Rechtsbehelfen gegen die Prozesshandlungen der Europäische Staatsanwaltschaft, insbesondere der Ermittlungs- und Zwangsmaßnahmen verlangt.[61] Die gerichtliche Kontrolle dient auch der Überprüfung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Ermittlungsverfahrens. In der EU-Verordnung ist die gerichtliche Kontrolle der Staatsanwaltschaft jedoch statt einem Unionsgericht, einem nationalen Gericht übertragen. Ob nationale Gerichte indes in der Lage sein werden, eine supranationale Institution effektiv zu kontrollieren, ist fraglich. Gerade bei grenzüberschreitenden Ermittlungen dürfte es für ein nationales Gericht nicht leicht sein, alle Zwangs- und Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere die Rechtmäßigkeit der Beweiserhebungen, die sich auf mehrere Mitgliedstaaten erstrecken können, zu überprüfen. Während die Kommission in ihrem Verordnungsvorschlag[62] noch als Begründung für die Kontrolle durch nationale Gerichte angeführt hat, dass die "Europäische Staatsanwaltschaft zum Zwecke der gerichtlichen Kontrolle als einzelstaatliche Behörde" gelte, greift die endgültige EU-Verordnung diese Begründung nicht auf. Zwar nehme laut Art. 42 EU-VO die EUStA vor den zuständigen Gerichten der Mitgliedstaaten die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahr (gem. Art. 86 Abs. 2 AEUV) und ihre Handlungen stünden in engem Zusammenhang mit einer etwaigen Strafverfolgung und entfalteten somit Wirkungen in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten. Auch würden in vielen Fällen die Handlungen von nationalen Strafverfolgungsbehörden auf Weisung der EUStA ausgeführt. Gleichwohl stuft die Verordnung die EUStA nicht als einzelstaatliche Behörde ein. Im Gegensatz zum Verordnungsvorschlag enthält die endgültige EU-Verordnung Regelungen, die dem EuGH eine begrenzte Kontrolle einräumen. So entscheidet gem. Art. 42 EU-VO der EuGH im Wege der Vorabentscheidung (Art. 267AEUV) u.a. über die die Gültigkeit einer Verfahrenshandlung der EUStA, über die Auslegung oder die Gültigkeit der Bestimmungen der EU-Verordnung; die Auslegung der Verordnung in Bezug auf etwaige Zuständigkeitskonflikte zwischen der EUStA und den zuständigen nationalen Behörden, über die Beschlüsse der EUStA zur Einstellung eines Verfahrens, sofern diese unmittelbar auf der Grundlage des Unionsrechts angefochten werden, über Streitigkeiten über Schadensersatzforderungen oder Schiedsgerichtsregelungen etc. Damit überprüft der EuGH zwar nicht Entscheidungen der EUStA, die sie in Ausübung ihrer Aufgaben der Ermittlung, Verfolgung oder Anklageerhebung getroffen hat. Allerdings überwacht er die Auslegung und Einhaltung der Verordnung. Somit wird anders als noch im Verordnungsvorschlag (Art. 36 VO-Vorschlag)[63] in den genannten Bereichen dem EuGH die gerichtliche Kontrolle über die EUStA übertragen.[64] Das ist begrüßenswert, weil die gerichtliche Kontrolle durch den EuGH in diesen Bereichen den Vorzug einer einheitlichen europäischen Handhabung hat. Da es der Kommission jedoch ein Anliegen ist, hinreichend Spielraum für zukünftige Entwicklungen zu lassen[65], ließe sich auch daran denken, in der Zukunft eine Institution wie ein Europäisches Strafgericht zu schaffen.[66]
Esser weist zu Recht auf ein weiteres Problem hin: Sowohl der EUStA als auch der Delegierte EUStA würden "als »Beamte und sonstige Bedienstete der Union »bezüglich der von ihnen in amtlicher Eigenschaft vorgenommenen Handlungen« im »Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats« »von der Gerichtsbarkeit[befreit]«, (Art. 11 Prot. Nr. 7), dürften hingegen ihrerseits die Aufhebung der Immunität Verdächtiger beantragen" (nach Art. 29 Abs.2 EU-VO).[67] Das folgt aus dem derzeitigen Art.96 Abs.5 EU-VO, nach dem das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union auf die EUStA und ihr Personal Anwendung findet. Wie auf diese Weise "ein effektiver Individualrechtsschutz auf europäischer Ebene als »Ersatz« für den weitgehenden Ausfall einer rechtsstaatlichen Kontrolle der EUStA auf nationaler Ebene" erreicht werden könne, ist ungewiss. Die Streichung des Art. 96 Abs. 5 EU-VO wäre hier wohl die einzig sinnvolle Maßnahme, auf diesen Einwand zu reagieren.
Für die europäische Integration ist es ein wichtiges Ziel, dass ein einheitlicher und autonomer europäischer Rechtsraum entsteht. Die EUStA könnte zum Ursprung
eines supranationalen europäischen Strafprozessrechts werden. Es ist daher sehr zu begrüßen, dass die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten sich für die Errichtung einer EUStA entschieden haben. Bislang gab es keine wirksamen Mittel zur Verfolgung von Straftaten zu Lasten des Unionshaushaltes. Dies hat sich mit der Einführung der EUStA geändert. Ländern, die bislang nicht willens oder in der Lage waren, ihnen möglicherweise vorteilhafte Straftaten zu Lasten des Unionshaushalts zu verfolgen, dürfte es in Zukunft schwerer fallen, solche Taten ungestraft zu lassen. Zwar benennen die Mitgliedstaaten die EUStA und die Delegierten EUStA und können damit beeinflussen, wer und dadurch ggfs. auch wie er ermittelt. Doch müssen die ausgewählten Staatsanwälte "jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten" (Art. 17 Abs.2 EU-VO) und können abgelehnt und bei Fehlverhalten von zentraler europäischer Ebene entlassen werden. Die so wichtige Unabhängigkeit der EUStA, auch von Weisungen von Personen außerhalb der EUStA, von EU-Mitgliedstaaten und Einrichtungen der Union (Art.7 EU-VO) soll verhindern, dass sie bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben beeinflusst oder von extern gesteuert werden kann. Ob die Delegierten EUStA von einer Straftat gegen die finanziellen Interessen der EU Kenntnis erlangen, hängt jedoch auch davon ab, ob die nationalen Behörden und alle EU-Stellen, die EUStA umgehend über mögliche Betrugstaten informieren.[68] Somit entscheidet nicht zuletzt auch die Kooperation der nationalen Stellen der Mitgliedstaaten über eine erfolgreiche Strafverfolgung durch die EUStA. Die Verordnung schafft einen Ausgleich zwischen den Europäischen und nationalen Kompetenzen, wobei der nationale Bezug deutlich erkennbar ist und überwiegt. So regelt die endgültige Verordnung nicht die Ermittlungs- und Untersuchungsmaßnahmen einheitlich, sondern gibt nur wesentliche Maßnahmen vor, welche das nationale Recht ergänzen und ermöglichen muss. Auch die gerichtliche Kontrolle soll im Wesentlichen durch die nationalen Gerichte erfolgen. Diese Entscheidung für eine starke Bindung an das nationale Recht und gegen die Schaffung eines unionsweiten Strafverfahrensrechts ist eine Konzession an die Mitgliedstaaten, denen die Strafverfolgung als Teil ihres Gewaltmonopols überlassen bleiben sollte. Die Kommission sieht darin "eine Schonung der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten, weil Eingriffe in deren Verfahrensordnungen so weit wie möglich vermieden würden".[69] Der EU-Gesetzgeber hat damit den nationalen Verfahrensordnungen und Rechtstraditionen Vorrang eingeräumt und sich gegen möglichst einheitliche Befugnisse und Verfahrensstandards für die Arbeit der Europäischen Staatsanwaltschaft entschieden. Gleichwohl nimmt die zentrale Ebene der EUStA Einfluss auf die nationale Strafverfolgung und überwacht entscheidend die auf nationaler Ebene geleistete Arbeit, um so die originär europäischen Interessen zum Schutz des Unionsaushaltes zu wahren. Diese Verknüpfung europäischer und nationaler Kompetenzen hat beachtliches Potential. Dem EU-Gesetzgeber ist mit der EUStA ein großer Wurf gelungen, auch wenn das Kritik im Detail (s.o.) nicht ausschließt. Der Blick in die Zukunft der EUStA ist positiv und es bleibt zu hoffen, dass die Verzahnung nationaler und europäischer Kompetenzen erfolgreich sein und zu einer vermehrten Anklage und Verurteilung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU führen wird.
[1] Rat der Europäischen Union Verordnung (EU) 2017/1939 vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA); im Folgenden: EU-VO.
[2] Vgl. Europäische Kommission Vorschlag für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, COM (2013) 534 final, p. 5. Zu diesem Verordnungsvorschlag s. Magnus GA 2014, 314 ff.; dies. ZRP 2015, 181.
[3] Vgl. exemplarisch EuGH Rs. 68/88 – Kommission./. Griechenland (»Griechischer Mais«); Brodowski StV 2017, 684, 684 .
[4] So wird über die Hälfte der von OLAF übertragenen Verfahren vor Einleitung eines Gerichtsverfahrens abgewiesen, s. Europäische Kommission COM (2013) 851, p. 7.
[5] Rat der Europäischen Union Pressemitteilung vom 8.6.2017, einsehbar unter: http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2017/06/08/eppo/ sowie die Deutsche Bundesregierung Artikel vom 25.10.2017 zur Europäischen Staatsanwaltschaft, einsehbar unter: https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2017/10/2017-10-25-eu-staatsanwaltschaft.html
[6] Kritisch zum Verhältnis der Europäischen Staatsanwaltschaft zu Europol und OLAF Ambos Internationales Strafrecht, 4. Aufl. 2014, § 13 Rn. 26.
[7] Auf die Vorschriften der Artt. 43 bis 120 EU-VO über Informationsverarbeitung, Datenschutz, Finanz-und Personal, über die Beziehungen der EUStA zu ihren Partnern und die Allgemeinen und Schlussvorschriften soll hier aufgrund des geringen Bezugs zu den Modalitäten der Strafverfolgung nicht eingegangen werden.
[8] So der Einwand von Grünewald HRRS 2013, 508 (511), die es für sinnvoller hält, den gesamten Tätigkeitsbereich der Delegierten EUStA allein auf die EUStA zu beschränken.
[9] Zudem hat der Vertrag von Lissabon mit Art. 325 AEUV in seiner geänderten Fassung eine Vorschrift geschaffen, deren Ziel der Schutz der finanziellen Interessen der Union vor Betrügereien und sonstigen rechtswidrigen Handlungen ist. Danach sollen die Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung nicht nur auf Mitgliedstaats-, sondern auch auf Unionsebene einen effektiven Schutz bewirken, vgl. Magiera in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, 62. EL 2017, Art. 325 AEUV, Rn. 4.
[10] Brodowski StV 2017, 684, 685.
[11] Grünewald HRRS 2013, 508 (512) mit Verweis auf die Kritik von Böse in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents: verfassungsrechtliche Grundstrukturen und wirtschaftsverfassungsrechtliches Konzept (2004), S. 151, 155 ff.; Scheuermann Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im geltenden und künftigen Europäischen Strafrecht (2009), S. 139 ff..; Satzger Internationales und Europäisches Strafrecht, 6. Aufl. (2013), § 10 Rn. 23 ff.
[12] S.u. III.5. b).
[13] Freilich gibt es auch hierfür eine Grenze, wenn die Zulassung sich negativ auf die Fairness des Verfahrens oder die Verteidigungsrechte auswirken würde, wie sie in den Artikeln 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert sind, vgl. Erwägungsgrund 80 EU-VO. Zur Kritik s. Ambos Internationales Strafrecht (Fn. 6), § 13 Rn. 24 m.w.N. Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung s. auch Safferling Internationales Strafrecht, 2011, § 12 Rn. 40.
[14] S. die berechtigte Kritik von Esser StV 2014, 494, 502.
[15] Existiert die zugewiesene Maßnahme nicht in dem unterstützenden Staat, sind weniger einschneidende Maßnahmen verfügbar oder war die Zuweisung unvollständig, fehlerhaft oder nicht fristgerecht, so versuchen der unterstützende Delegierte und der betraute Delegierte Europäische Staatsanwalt Einvernehmen nach Informierung des Aufsicht führenden Europäischen Staatsanwalts zu erzielen, Art. 31 Abs. 5 EU-VO.
[16] S. u. unter III.5 b) die Kriterien, nach denen Anklage in einem anderen Mitgliedstaat erhoben werden kann.
[17] Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union (Fn. 9), Art. 86 AEUV Rn. 23.
[18] Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union Richtlinie (EU) 2017/1371 v. 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug.
[19] S. hierzu auch u. III. 5 sowie Deutscher Richterbund Stellungnahme zum Vorschlag für eine Verordnung zur Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft 2/2017, Nr. 8/17.
[20] Zur kontroversen Diskussion über die Einführung der Strafbarkeit von juristischen Personen s. nur Schünemann in Schünemann/Gonzalez (Hrsg.), Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1994, S. 265 ff.; Wattenberg StV 2000, 95; Hamm NJW 1998, 862; Hetzer wistra 1999, 361; Jescheck/Weigend Lehrbuch des Strafrechts, AT, § 23 VII Rn. 1; Kühl in: Lackner/Kühl StGB, 29. Aufl. 2018, § 14 Rn. 1a; Roxin AT, 4. Aufl. 2006, 8/58 ff.; RGSt 16, 221; RGSt 47, 91; BGH v. 11.7.1952 – 1 StR 432/52; BGHSt 3, 130; BGH v. 21.1.1959 – KRB 12/58; BGHSt 12, 295; Stratenwerth in: Geppert/Bohnert et al. (Hrsg.), FS R. Schmitt, 1992, S. 301; zum Überblick Joecks in: MK, StGB, 3. Aufl. 2017, vor § 25 Rn. 16 ff.
[21] Die jüngsten Gesetzgebungsbestrebungen haben die Einführung der Verbandsstrafe bislang jedenfalls abgelehnt. So hat weder die Kommission zur Reform des Sanktionenrechts, die das Bundesministerium der Justiz eingesetzt hatte, in ihrem Abschlussbericht die Einführung einer Verbandsstrafe in das StGB vorgeschlagen noch hat der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts die Verbandsstrafe überhaupt aufgegriffen.
[22] Die Richtlinie (EU) 2017/1371 legt Mindestvorschriften für die Definition von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete Straftaten sowie Sanktionen und Verjährungsfristen fest. s. Deutscher Bundesrat Unterrichtung durch die Europäische Kommission, Bundesrat Drs. 661/17 vom 04.10.17.
[23] Der Begriff des Nachteils für die finanziellen Interessen der Union (in Art. 86 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV ist wort- und sachgleich mit dem des Art. 325 Abs. 1 und ebenso wie dort auszulegen und erfasst damit die Straftaten wie Geldwäsche, Urkundenfälschung und Bestechlichkeit u.a. über den Betrug hinaus, vgl. Vogel/Eisele in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (Fn. 9)Art. 86 AEUV Rn. 22.
[24] S. aber für den Bereich für den Bereich direkter Steuern die Einschränkung in Art. 22 Abs. 4 EU-VO.
[25] Deutschland hatte bereits 1998 notwendige Veränderungen an § 264 StGB vorgenommen. Nach Auffassung der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) gewährleisten insbesondere §§ 263, 266, 298 StGB, § 370 AO den von Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 RL (EU) 2017/1371 geforderten strafrechtlichen Schutz; s. BRAK Stellungnahme 36/2017 zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2017/1371 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. Juli 2017 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtetem Betrug, S.4.
[26] Europäischer Rat MwStR 2017, 441; Vogel/Eisele in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (Fn. 9) Art. 86 AEUV Rn. 23.
[27] S. hierzu die entsprechende, insbesondere auf § 261 StGB gerichtete Forderung der BRAK Stellungnahme Nr. 36/2017 (Fn. 26), S.8.
[28] Zur Problematik dieser weiten Zuständigkeit im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeits- und Subsidiaritätsprinzip s. Ambos Internationales Strafrecht (Fn. 6), § 13 Rn. 21.
[29] Vgl. hierzu Satzger NStZ 2013, 206 (211), der ein am Rom-Statut orientiertes Komplementaritätsmodell vorschlägt, nach dem die EU die Strafverfolgung immer nur dann übernimmt, "wenn der Mitgliedstaat hierzu nicht willens oder nicht in der Lage ist".
[30] Die Einstellungsgründe des Art. 39 EU-VO sehen keine über die de-minimis Klauseln hinausgehenden Opportunitätsgründe vor.
[31] Nach Art. 39 EU-VO insbesondere in Fällen des Todes, der fehlenden Straftat, der Gewährung von Straffreiheit oder Immunität, Verjährung, ne bis in idem etc.
[32] So bereits schon der Deutsche Richterbund, Stellungnahme zur Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft v. 18.7.2013 (KOM[2013]534 endg.), Nr. 01/14.
[33] Die EU-Verordnung sieht die Entlassung des Europäischen Staatsanwalts nur vor, wenn er keine Gewähr für seine Unabhängigkeit bietet, seine Aufgaben nicht wahrnehmen kann oder sich eines schweren Fehlverhaltens schuldig gemacht hat (Art. 17 EU-VO).
[34] S.o. III.4.d) ee).
[35] BRAK/DAV Gemeinsame Stellungnahme zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft Nr. 22/2013 bzw. 48/2013, S. 7 (II.9)
[36] Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit sollten auch die zuständigen Stellen der Union, einschließlich Eurojust, Europol und OLAF, die Ermittlungen und Strafverfolgungsmaßnahmen der EUStA aktiv unterstützen und mit ihr zusammenarbeiten, Erwägungsgrund 69 EU-VO.
[37] Vgl. zu den negativen Folgen eines forum shopping für eine effektive Verteidigung Gaede ZStW 115 (2003), 866, 875 mit instruktiven Beispielen.
[38] Zur dezentral aufgebauten Einrichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft s. die Ausführungen der Europäischen Kommission, KOM (2013) 534 endg., S. 18.
[39] Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (Fn. 9), Art.86 AEUV Rn 52.
[40] Deutscher Richterbund Stellungnahme Nr. 8/17 (Fn. 19), S. 6.
[41] S. hierzu Magnus GA 2014, 314 ff.; dies. ZRP 2015, 181.
[42] Vgl. zu diesen und anderen Einwänden Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union (Fn. 9), Art.86 AEUV Rn 8.
[43] Vgl. nur Schünemann/Nestler/Szwarc/Mitchell in: Schünemann (Hrsg.), Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006; Schünemann ZStW 116 (2004), 376, 388 ff.; ders. StraFo 2003, 344; Vogel ZStW 116 (2004), 400, 414. Vgl. auch instruktiv zum Prinzip der Waffengleichheit im Europäischen Rechtsraum Safferling NStZ 2004, 181, 182.
[44] S. zum Vorschlag eines »Eurodefensors« Schünemann, in: ders. (Hrsg.), Alternativentwurf Europäische Strafverfolgung, 2004, (zu Art. 111–174 a) sowie die Vorschläge der AGIS-Arbeitsgruppe in: Schünemann (Hrsg.), Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege, 2006, S. 49 ff.; s. auch Esser in: Sieber/Brüner/Satzger/v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 59 Rn 5 ff.; vgl. auch Satzger NStZ 2013, 206, 212, der zudem die Errichtung eines Europäischen Strafgerichts vorschlägt; ebenso Zeder JSt 2010, 221. An dieser Kritik ändert auch der Umstand nichts, dass die Kommission in der Mitteilung KOM (2013) 532 den »besseren Schutz der von Ermittlungen Betroffenen« zu einem Hauptzweck der Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft und der Reform von Eurojust erklärt hat, s. ebd. S. 3 Punkt 1.
[45] Ein solches System würde auch eine sinnvolle Unterstützung etwa bei der Vermittlung von Verteidigern in den Mitgliedstaaten ermöglichen zu der Arbeit von bspw. CCBE (Council of the Bars and Law Societies of the EU) und der ECBA (European Criminal Bar Association), die als Vereinigungen bereits die Kontakte zwischen Verteidigern in den europäischen Mitgliedstaaten herstellen.
[46] Deutscher Bundestag Wissenschaftliche Dienste, Nr. 09/13 v. 20.11.2013.
[47] Zu weiteren Einwänden wie s. Esser StV 2014, 494, 499.
[48] Vgl. die Liste der Rügen unter ww@w.ipex.eu/IPEXL-WEB/dossier/document/COM20130534.do
[49] Schnichels EuZW 2017, 625, 626.
[50] Freilich kommen auch weitere Gründe in Betracht wie die Schwierigkeit, organisierte Tätergruppen bei komplexen, grenzüberschreitenden Taten wirksam zu verfolgen, Erschwerung der Rechtshilfe wegen unterschiedlicher materieller Strafbestimmungen in den Mitgliedstaaten; die Priorität, die der Verfolgung nationaler vor europäischer Straftaten eingeräumt wird sowie die beschränkten sachlichen Ressourcen und Fähigkeiten einiger Mitgliedstaaten, Betrügereien zum Nachteil der Union aufzudecken; vgl. Esser StV 2014, 494, 495 m.w.N.
[51] So Grünewald HRRS 2013, 508 (515) mit Verweis auf Esser Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht (2002), S. 4; Wolter in: FS für Kohlmann, 2003, S. 693, 715; eingehend bereits Eser ZStW 108 (1992), 86 ff.; Weigend ZStW 104 (1992), 486 ff.; Perron ZStW 112 (2000), 202, 211; zu den kulturellen Hintergründen Hörnle ZStW 117 (2005), 801 ff.
[52] Europäische Kommission KOM (2001) 715 endg. S. hierzu krit. Hecker Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 14 Rn. 39 ff. (42) mwN; befürwortend hingegen etwa Brüner/Spitzer NStZ 2002, 393 .
[53] Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union (Fn. 19), Art. 86 AEUV Rn. 49.
[54] Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union (Fn. 19), Art. 86 AEUV Rn. 48.
[55] Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und Deutscher Anwaltsverein (DAV), Gemeinsame Stellungnahme zum Vorschlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Rates über die Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft, 4/2015, S. 2.
[56] Freilich räumt die EU-Verordnung bei grenzüberschreitenden Ermittlungen dem Delegierten EUStA die Möglichkeit ein, nach dem Recht seines Mitgliedstaates die Zuweisung an den unterstützenden EUStA vorzunehmen und auch die Anklage nach seinem Recht zu erheben, s.o. III.3.
[57] Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union (Fn. 19), Art. 86 AEUV Rn. 43.
[58] Obgleich im Bereich der Kerngebiete des Kriminalstrafrechts ein weitreichender Konsens auf EU-Ebene besteht, sind für die Souveränität und Identität der europäischen Staaten aber auch gerade die bestehenden Unterschiede von Bedeutung, etwa bei der Behandlung ethisch umstrittener Phänomene wie der Abtreibung, dem Lebensschutz oder dem Inzest, s. Safferling GLJ 2009, 1383, 1384; Landau NStZ 2013, 194, 196.
[59] Wasmeier/Killmann in: Von der Groeben/Schwarze/Hatje Europäisches Unionsrecht, 7. Aufl. 2015, Art. 86 AEUV Rn. 39. Vgl. auch bereits den Entwurf zu einer Modell-Verfahrensordnung für die Errichtung der EUStA, abrufbar unter http://www.eppo-project.eu/index.php/EU-model-rules.
[60] S. dazu auch Ambos Internationales Strafrecht (Fn. 6), § 13 Rn. 23.
[61] Das Rechtsstaatsprinzip gehört zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten iSv Art. 6 Abs. 3 EUV, s. Vogel/Eisele in: Grabitz/Hilf/Nettesheim Das Recht der Europäischen Union (Fn. 19), Art. 86 AEUV Rn. 59.
[62] S. bereits die Begründung in Europäische Kommission COM (2013) 534 final, p. 7.
[63] Europäische Kommission COM (2013) 534 final, p. 34.
[64] Vgl. zum Verhältnis von einer gerichtlichen Kontrolle auf nationaler Ebene zum Individualrechtsschutz auf Unionsebene im Stadium der Ermittlungen vor Anklageerhebung Esser StV 2014, 494, 501.
[65] S. Europäische Kommission KOM (2003) 128 endg., S. 23.
[66] Zur Forderung eines eigenen Europäischen Strafgerichtshofs s. Suhr in: Calliess/Ruffert EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Rn. 27; Schünemann in: ders. (Hrsg.) Gesamtkonzept (Fn. 42), S. 49.
[67] Esser StV 2014, 494, 501.
[68] S. die entsprechende Forderung hierzu in Erwägungsgrund 48 EU-VO.
[69] Zugleich werde auf diese Weise dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung getragen (Art. 5 IV EUV), s. COM (2013) 534 final, p. 5, 10, 12; Grünewald HRRS 2013, 508, 511.