HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2016
17. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Zum Begriff des fairen Verfahrens und der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 6 I, Art. 8 I, II EMRK bei unrechtmäßiger Durchsuchung

Anmerkung zum Urteil vom EGMR Nr. 7215/10 Prade v. Deutschland, Urteil vom 9. Februar 2016

Von Dr. Marcin Byczyk, Rechtsanwalt (Posen, Polen)

I. Einleitung

Nun scheint eine lange Geschichte zum Ende zu gehen. Mit dem EGMR Urteil in der Rechtssache Prade v. Deutschland vom 9. Februar 2016[1] mag ein langjähriger Rechtsstreit endgültig abgeschlossen worden sein, in dem zweimal der volle Instanzenzug durchlaufen wurde[2] und zwei Verfassungsbeschwerden erhoben wurden.[3] Diesem Rechtsstreit wurde in der juristischen Fachliteratur bereits einige Aufmerksamkeit geschenkt.[4] Seine gesamte Tragweite scheint aber bisher nicht ausreichend erkannt zu sein.

II. Sachverhalt

Am 21. September 2004 hat das Amtsgericht München einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung von Hans-Otto Prade erlassen. Grund dafür bildete der Verdacht, Herr Prade sowie drei andere ehemalige oder noch tätige Vereinsmitglieder des Vereins "R.e.V. ˮ m ö gen in betr ü gerische Ebay-Geschäfte verwickelt gewesen sein. Dieser Verdacht stützte sich wiederum darauf, dass bei den nicht abgewickelten Geschäften der Verkäufer D. aus München das Konto des Vereins angegeben hatte, für welches Herr Prade als ehemaliger Vorstandsmitglied des Vereins "R.e.V. ˮ einmal unterzeichnungsbefugt gewesen war. Die Durchsuchung eines zur Wohngemeinschaft gehörenden Zimmers des Beschuldigen Prade wurde am 8. Dezember 2004 vollzogen. Allerdings wurde nichts gefunden, was auf einen Zusammenhang mit dem möglichen Betrug hindeuten würde. Die gegen diese Maßnahme erhobene Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg, da der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 13 I GG verletzt worden war. Der Grundrechtseingriff in der Form der Wohnungsdurchsuchung "habe außer Verhältnis zu dem allenfalls geringen Tatverdacht gestanden ˮ .[5] Mangels vorhandener Beweise für eine Beteiligung des Herrn Prade an den Betrugstaten wurde das Verfahren gegen ihn gemäß § 170 II StPO eingestellt.

Während der Durchsuchung seines Zimmers wurden jedoch zufälligerweise 463.743 Gramm Haschisch entdeckt, welche 39.09 Gramm THC beinhalteten, was für 2606 Einzelportionen ausgereicht hätte. Dies führte zu einem anderen Strafverfahren gegen Herrn Prade. Hier wurde er durch das Urteil des LG Hamburg wegen einer Straftat nach § 29a Abs. 2 BtMG zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Nach der Würdigung des LG Hamburg sollte die Tatsache, dass der einzige Beweis der Straftat durch eine unrechtsmäßige Durchsuchung der Wohnung erlangt worden war, nicht zu einem Verwertungsverbot führen, da dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung der Vorrang gebühre. Diese Einschätzung wurde sowohl

durch das Revisionsgericht[6] wie als auch seitens des Bundesverfassungsgerichts geteilt. Diesem letzten zufolge sei "bei der Frage eines Beweisverwertungsverbots wegen Mängeln der Durchsuchung[…]eine Abwägung des Strafverfolgungsinteresses mit dem betroffenen Individualinteresse erforderlich ˮ .[7]

In seiner Beschwerde zum EGMR führte Prade an, sein Grundrecht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 I EMRK sei verletzt worden, weil ein unrechtmäßig erworbener Beweis in keinem Strafverfahren verwendet werden dürfe.[8] Ebenso machte er geltend, dass sein Menschenrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 8 I EMRK bei einem hier vorliegenden minderschweren Vergehen Vorrang vor dem eventuellen öffentlichen Interesse an der Verfolgung von Straftaten habe.

III. EGMR Entscheidung

1. Zur Verletzung des Art. 6 I EMRK

"There has been no violation of Article 6 § 1 of the Convention” lautete der einstimmig beschlossene Tenor der am 9.2.2016 ausgesprochenen Entscheidung des EGMR.[9] Die wesentliche Argumentation, die zu diesem Schluss geführt hatte, lässt sich mit folgenden Sätzen zusammenfassen.

Die EMRK selbst lege keine Regeln für die Zulässigkeit von Beweisen im Strafverfahren fest.[10] Daher beschränke sich der im Art. 6 I EMRK festgelegte Maßstab ausschließlich auf die Frage, ob das Verfahren insgesamt fair gewesen sei.[11] Dabei komme der Möglichkeit, die erhobenen Beweise vor Gericht beanstanden zu können, eine hervorragende Bedeutung zu.[12] Bei der Beurteilung, ob ein faires Verfahren vorlag, dürfe das öffentliche Interesse daran, die jeweiligen Taten zu bestrafen, berücksichtigt werden und gegen das individuelle Interesse des Beschuldigten, Beweise nur rechtmäßig zu erheben, abgewogen werden.[13] Angesichts der Tatsache, dass die nationalen Gerichte in dem vorliegenden Fall sorgfältig die Anerkennung eines Verwertungsverbotes in Erwägung gezogen hätten und die Menge des vorgefundenen Haschisch beträchtlich[14] gewesen sei, sei die Annahme, das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Straftaten überwiege das Interesse des Beschuldigten an einer rechtmäßigen Erhebung der Beweise, nicht willkürlich oder unverhältnismäßig gewesen.[15]

2. Kritische Würdigung der Entscheidung des EGMR zur Verletzung des Art. 6 I EMRK

Es ist an dieser Stelle geboten, der Kernaussage der EGMR-Entscheidung im Hinblick auf die Begründung einer mangelnden Verletzung des Art. 6 I EMRK Beachtung zu schenken. Sie liegt in dem Abwägungsprinzip, dass EGMR in aller Deutlichkeit (und erneut[16]) beteuert und weiterentwickelt: Unrechtmäßig erhobene Beweise dürfen im Strafverfahren verwertet werden, solange bei der Gesamtwürdigung des konkreten Verfahrens das öffentliche Interesse an der Verfolgung der Kriminalität das Interesse des Einzelnen auf Einhaltung der prozessualen Regeln überwiege.[17] Es kann auch anders und wohl einfacher zum Ausdruck gebracht werden: Das Recht auf ein faires Verfahren umfasse kein absolutes Verbot, fruits of the poisonous tree zu verwenden.[18]

Ob dieser Feststellung letztlich zuzustimmen ist, kann zunächst dahinstehen. Wichtiger ist es, zunächst den darin zum Ausdruck gelangenden Relativismus der EMRK zu unterstreichen und die interne Widersprüchlichkeit der Entscheidung hervorzuheben. In erster Linie diese Widersprüchlichkeit soll hier besprochen werden.

a) Der interne Widerspruch in der Begründung der EGMR-Entscheidung

Der angedeutete interne Widerspruch ist darauf zurückzuführen, dass sich der EGMR einerseits dafür entschei-

det, sich von den Beweisregeln der einzigen Rechtsordnungen fernzuhalten.[19] Andererseits stellt er aber zugleich fest, dass im konkreten Fall der Grad an Unrecht[20] bei der Erhebung der Beweise nicht besonders schwer gewesen sei. Dabei muss allerdings die Frage aufgeworfen werden, nach welchem Maßstab dieses Unrecht gemessen werden soll. Wenn man sich auf die EMRK selbst bezieht, dann steht es außer Frage, dass eine unrechtmäßige Durchsuchung der Wohnung für sich genommen bereits eine zusätzliche Verletzung der gemäß Art. 8 I EMRK gebotenen Achtung der Unversehrtheit der Wohnung nahe legt.[21] Sollte dies dem Grunde nach bestritten werden, dann müsste wohl auf die gesamte Idee der Unverletzlichkeit der Wohnung verzichtet werden. Wenn die Unrechtmäßigkeit dagegen auf der Ebene der jeweiligen nationalen Rechtsordnung geprüft werden sollte, dann würde dies die Funktion des EGMR in Frage stellen, weil dann die in der nationalen Rechtsprechung herrschende Meinung maßgebend wäre, nach der die eine oder andere Verletzung der Beweisregeln kein zu großes Unrecht darstellen soll. Ein einheitlicher Standard gemäß Art. 6 I EMRK wäre damit zumindest in seinem Kern wesentlich gefährdet, wenn nicht vollständig ausgehöhlt.

Eine solche Hinwendung zur Ansicht der nationalen Rechtsordnung ist auch an einer anderen Stelle dieser Entscheidung zu erkennen, und zwar bei der Untersuchung der Schwere der Tat. Wenn EGMR das Interesse des Staates an der Bestrafung der Tat berücksichtigt, dann ist er eigentlich gezwungen die nationale Perspektive der Bewertung der materiellen Rechtswidrigkeit anzunehmen. Denn gerade im vorliegenden Fall des Besitzes von Betäubungsmitteln wäre die Schlussfolgerung, es handle sich um ein schweres Verbrechen, in einer rechtsvergleichenden Perspektive äußerst problematisch. Es muss hier nicht in aller Ausführlichkeit vorgetragen werden, dass die hier einschlägige Tat in den europäischen Ländern sehr unterschiedlich verfolgt wird. Die Übernahme der nationalen Perspektive mag gar dazu führen[22], dass der Staat die Strafgesetze willkürlich nur zu diesem Zwecke schärfen wird, um die weitgehenden Unregelmäßigkeiten bei Beweiserhebung in der strafrechtlichen Ahnung einiger Taten immer noch als fair ausweisen zu können. Dies würde eine Sackgasse darstellen. Insbesondere bei der Bekämpfung der Wirtschafts ˗ und Internetkriminalit ä t könnte die Versuchung zum Tragen kommen, die Beweise durch eine illegale, weitreichende Überwachung der Bürger zu erlangen. Es wäre daher angemessen gewesen, die Perspektive der nationalen Rechtsordnung nicht mit der internationalen Perspektive der EMRK zu vermischen, sondern diese vielmehr weiter strikt zu trennen.

b) Der Relativismus in der Entscheidung vom EGMR

Ferner hat der EGMR, was bereits angedeutet wurde, in seiner Entscheidung wiederum den Begriff des öffentlichen Interesses dem individuellen Interesse argumentativ gegenüber- und in den Mittelpunkt gestellt. Es ist fraglich, ob eine solche Gegenüberstellung überhaupt sinnvollerweise vorgenommen werden kann.[23] Denn in einer rechtsstaatlichen Gesellschaft sollte eher ein anderer, allgemeiner Konsens vorausgesetzt werden. Er sollte darin bestehen, dass die Strafverfolgung rechtmäßig erfolgen muss.[24] Dieser Konsens kommt in den Strafprozessordnungen europäischer Länder zum Ausdruck, die unter anderem absolute Beweisverwertungsverbote gewährleisten.[25] Und es darf nicht übersehen werden, dass diese Strafprozessordnungen durch demokratisch legitimierte Gesetzgeber als Ausdruck des Volkswillens eingeführt wurden – und zwar nicht zu dem Zweck, dass sie überschritten werden sollen[26]. Wer hier für die Anerkennung irgendeines vagen öffentlichen Interesses plädiert, wird – gerade auf der völkerrechtlichen Ebene – sorgfältig erwägen müssen, ob es sich tatsächlich um das Interesse der jeweiligen Gesellschaft handelt oder ob es bloß um das Interesse des Staates geht, seine Inkompetenz in der Verfolgung der Straftaten zu überspielen, indem man – geschichtlich sehr belastet[27] – auf den mutmaßlichen Willen der Öffentlichkeit Bezug nimmt.

Als eine wichtige Konsequenz dieses Relativismus ist Gefahr der weitergehenden Verallgemeinerung zu nennen. Denn wenn es zulässig sein sollte, das öffentliche Interesse gegen das individuelle Interesse insoweit abzuwägen, werden umso schwerwiegendere Unregelmäßigkeiten in der Erhebung der Beweise hingenommen werden, je größer das öffentliche Interesse vermutet wird. Dann dürfte es möglich sein, bei sehr schweren

Taten die Schwelle zu überschreiten, nach der sämtliche Beweise, vollkommen ungeachtet ihrer Herkunft und der Art und Weise ihrer Erhebung, im Strafprozess zugelassen werden.[28] Dagegen ist einzuwenden, dass dieses Prinzip nicht als relativ angesehen werden sollte, und wenn schon, dann in einer ganz anderen Richtung: Je schwerer die Tat ausfällt, die einem Beschuldigten zur Last gelegt wird, desto sorgfältiger müssen die Beweise zu ihrem Nachweis erhoben und bewertet werden.

Diese Sichtweise mag als eine idealistische und praxisfremde Einstellung herabwürdigt werden. Dennoch erscheint gerade diese Einstellung begründet oder doch ebenso vertretbar zu sein. Dies wird unter anderem deutlich, wenn man den Blick auf die europaweite Organisation der Strafverfolgung richtet: Hier werden der Justiz mit der wachsenden Schwere der Tat weiterreichende Sorgfaltspflichten auferlegt. Dies geschieht etwa dadurch, dass die Zuständigkeit im ersten Rechtszug bei höheren und besser besetzten Gerichte vorgesehen wird oder das Erfordernis einer Pflichtverteidigung eingeführt wird.[29].

c) Zwischenergebnis

Diesen Teil der Ausführungen zusammenfassend lässt sich feststellen: Die Tatsache, dass der EGMR jetzt im Wesentlichen der Argumentation der deutschen Gerichte folgt, die sich "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ˮ[30] zuwenden, schwächt europaweit die Reichweite des Grundrechtsschutzes. Als weitere, unmittelbare Konsequenz dieser Entscheidung ergibt sich, dass das Bedürfnis zu einer strukturierten und rechtmäßigen Bekämpfung der (Drogen)kriminalität in den Hintergrund rückt. Stattdessen wird die Begründung eines mutmaßlichen öffentlichen Interesses an der Verwertung zufällig aufgefundener, strafrechtlich relevanter Beweise die zentrale Bedeutung erlangen.

Letztendlich sei an dieser Stelle noch auf eine Lösungsalternative hingewiesen. Es wäre vielleicht viel transparenter, wenn sich der EGMR, anstatt ein vages Abwägungsprinzip weiterzuentwickeln, eher mit der doctrine of the fruits of the poisonous tree näher auseinandersetzen würde. Denn diese doctrine gilt nicht ausnahmslos und es sind vor allem solche Ausnahmen erkannt, die mit der sogenannten good faith exception zusammenhängen.[31] Daraus ergibt sich, dass eine fehlerhafte Durchsuchung es nicht automatisch ausschließt, dass die durch sie aufgefundenen Beweise im Strafprozess zu verwerten. Dies gilt, solange die Personen, die diese Durchsuchung vollzogen haben, gutgläubig waren. Dafür wäre es allerdings erforderlich, in der bisherigen Rechtsprechung zu Art. 8 I EMRK einen ganz anderen Ansatz zu entwickeln.

3. Zur Verletzung des Art. 8 I EMRK

Zu einer möglichen Verletzung des Artikel 8 I EMRK äußerte sich EGMR gar nicht. Der Grund dafür lag in der Feststellung, dass die sechsmonatige Frist zum Einreichen der Beschwerde überschritten wurde. Nach dem hiesigen Sachverhalt ist dies als eine zutreffende Einschätzung einzustufen. Für die Zwecke dieser Anmerkung soll jedoch in aller Kürze noch erwogen werden, wie die Prüfung eines solchen Vorwurfs hätte ausfallen müssen, wäre er rechtzeitig erhoben worden. Dies kann Auswirkungen auf die Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 6 I EMRK haben.

4. Prüfung der Verletzung vom Art. 8 I EMRK

In seiner submission machte Prade geltend, durch die unrechtmäßige Durchsuchung seiner Wohnung sei sein Recht auf Achtung des Privatlebens verletzt worden. Angesichts der Tatsache, dass EGMR keinerlei Erwägungen in dieser Hinsicht anstellte, sei darauf hingewiesen, dass in der bisherigen Rechtsprechung vom EGMR bestimmte Bedingungen entwickelt worden sind, unter welchen eine Durchsuchung der Wohnung zum Zwecke der Strafverfolgung nicht als ein unzulässiger Eingriff im Sinne des Art. 8 IEMRK anzusehen ist. Hierzu ist unter anderem erforderlich, dass der Verdacht der strafbaren Tat hinreichend konkretisiert wird, die zu durchsuchenden Räumlichkeiten genau angegeben werden und dass die Durchsuchung nicht unverhältnismäßig bemessen sein darf.[32] Bei den angeordneten Durchsuchungen sind ferner bestimmte Garantien einzuhalten, wie z. B. das Berufsgeheimnis oder die Möglichkeit, die Staatsgewalt wegen einer unrechtmäßigen Durchsuchung zur Verantwortung ziehen zu können.[33] Die im Artikel 8 II EMRK dargelegten Ausnahmen sind außerdem eng auszulegen.[34]

Die Anwendung dieser Maßstäbe auf den vorliegenden Fall legt die Schlussfolgerung nahe, dass es zu einer eindeutigen Verletzung des Rechts auf Unversehrtheit der Wohnung gekommen ist, zumal der Tatverdacht nicht hinreichend konkretisiert worden war und es andere, weniger drastische Maßnahmen gab, welche die Behörden hätten einsetzen können, um "den allenfalls geringen Tatverdacht zu erhärten oder endgültig zu zerstreuen ˮ .[35] Auch das Argument, die Menge des vorgefundenen Haschischs

hätte die Durchsuchung gerechtfertigt[36] ist vollkommen unzutreffend: Die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung kann nicht im Wege einer hypothetischen Spekulation davon abhängig gemacht werden, was aufgefunden wird, da man hier eine Perspektive ex ante und nicht eine ex post-Perspektive einnehmen muss. Anderenfalls könnte z.B. immer eine Straftat gemäß § 123 I StGB dadurch gerechtfertigt werden, dass beim Hausfriedensbruch wertvolle Beweise über eine Straftat vorgefunden wurden.

Es bleibt noch zu klären, welches Verhältnis zwischen der Verletzung des Menschenrechts auf Achtung der Wohnung durch eine rechtswidrige Durchsuchung im Strafprozess (Art. 8 I EMRK) und dem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 I EMRK) besteht.

Bekanntlich ist dieses Verhältnis unter den Richtern des EGMR höchst umstritten.[37] In der maßgebenden Entscheidung in der Rechtssache Bykov vs. Russia äußerte die Mehrheit der Grand Chamber die Behauptung, ein faires Verfahren könne auch dann noch vorliegen, wenn die in ihm verwendeten Beweise auf einer Verletzung des Art. 8 I EMRK beruhen. Dagegen wendet sich die Ansicht, die in der Form von abweichenden Meinungen schon mehrmals in der EGMR-Rechtsprechung zum Ausdruck gebracht wurde. So heißt es etwa: "If violating Article 8 can be found as fair, then I cannot see how the police can be effectively deterred from repeating their impermissible conduct ˮ .[38] Zur Begründung dieser Ansicht wird ferner angeführt, dass ein faires Verfahren seine rechtmäßige Durchführung voraussetze[39].

Dem ist beizupflichten. Es ist nur im Anschluss an die obigen Ausführungen klar zu stellen, dass diese Rechtmäßigkeit nicht an nationalen Maßstäben gemessen werden sollte. Folglich sollte der Umstand, dass nach der deutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung auch Beweise, die auf gravierenden Verfahrensfehlern bei Durchsuchungen beruhen, nicht automatisch einem Verwertungsverbot unterliegen, insoweit ohne Bedeutung bleiben, falls diese Verfahrensfehler die Schwelle zur Verletzung eines Konventionsmenschenrechts übertreten. Daher scheint es angemessen, vor der Prüfung der Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren die Prüfung voranzuschalten, ob die anderen durch die Konvention verbürgten Rechte beachtet worden sind. Hier sind vor allem die Menschenrechte betroffen, welche in den Artikeln 3 und 8 I EMRK niedergelegt worden sind. Dieser gedankliche Schritt ist auch dann unentbehrlich, wenn aus formellen Gründen die eigenständige Entscheidung bezüglich der Verletzung dieser Rechte an sich nicht gefasst werden kann.

Die vorliegende Entscheidung versäumt diese Prüfung. Dies muss als enttäuschend bewertet werden, zumal hier keine Ausnahme von der Verletzung vom Art. 8 I EMRK in Anlehnung an eine good faith exception anzuerkennen war. Der Ansatz an einer solchen Ausnahme wäre angesichts ihres engen Anwendungsspielraums sicherlich viel besser dazu eignet, einen hohen Fairnessstandard zu gewährleisten, als das jetzige Abwägungsprinzip, das der EGMR verfolgt. Daher sei hier abschließend betont: Wenn es im Laufe eines Strafprozesses zu konventionsrelevanten Menschenrechtsverletzungen kommt, die im sachlichen Zusammenhang mit diesem Prozess stehen – und nicht nur bloß bei Gelegenheit (wie etwa die Verletzung der Religionsfreiheit eines inhaftierten Beschuldigten) – auftreten, dann ist dieser Prozess nicht mehr fair im Sinne des Art. 6 I ERMK.

IV. Fazit

Abschließend bleibt zu bekräftigen: Es ist bedauerlich, dass EGMR auf die Möglichkeit verzichtet hat, dem Staat eine gelbe Karte zu zeigen und unterstreichen: zufällig und unrechtmäßig aufgefundenen Beweise sind in Europa nicht der richtige Weg, um Kriminalität zu bekämpfen. Ebenso hätte der EGMR anerkennen sollen, dass das Recht auf ein faires Verfahren auch den Grundsatz umfasst, dass infolge einer grundrechtswidrigen Wohnungsdurchsuchung erlangte Gegenstände in einem Strafverfahren nicht als Beweise oder Informationen dienen können. Er hätte bekräftigen sollen, dass es unfair ist, wenn ein Strafverfahren eingeleitet wird, nachdem der Staat sich Beweise durch rechtswidrige Eingriffe in die Privatsphäre beschafft hat – und zwar unabhängig von der Frage, um welche Straftat es bei diesen Beweisen ging.[40] Damit hätte er unterstrichen, dass ein Strafprozess nicht mehr als fair angesehen werden kann, wenn im sachlichen Zusammenhang mit ihm grundlegende Menschenrechte verletzt werden.


[1] Die Entscheidung ist abrufbar unter http://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22docname%22:[%22Prade%20v.%20Germany%22],%22documentcollectionid2%22:[%22GRANDCHAMBER%22,%22CHAMBER%22],%22itemid%22:[%22001-160990%22]} (15.4.2016).

[2] BVerfG, Beschl. v. 13.11.2005 – 2 BvR 728/05, u.a. – NStZ-RR 2006, S. 110; BVerfG, Beschl. v. 2.7.2009 – 2 BvR 2225/08, BVerfGK 16, 22 – 31 = HRRS 2009 Nr. 648.

[3] Vgl. AG München, Urt. v. 21.09.2004 – ER IV Gs 10671/04; LG München I Urt. v. 01.04.2005 – 6 Qs 12/05; LG Hamburg, Urt. v. 5.10.2007 – 704 Ns 72/07; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2008 –10/08 (REV).

[4] Dallmeyer HRRS 2009, 429 ff.

[5] 2 BvR 728/05, Rn. B I 2. u.a. – NStZ-RR 2006, 110.

[6] OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2008 – 10/08 (REV).

[7] BVerfG, Beschl. v. 2.7.2009 – 2 BvR 2225/08, Rn. 17, BVerfGK 16, 22 – 31 = HRRS 2009 Nr. 648.

[8] EGMR Prade v. Deutschland, Urteil vom 9. Februar 2016, § 30.

[9] EGMR, Prade v. Deutschland, (Fn. 8), § 30.

[10] EGMR, Prade v. Deutschland, (Fn. 8), § 32 mit Bezugnahme auf frühere Rechtsprechung: EGMR Schenk v. Schweiz, Urteil vom 12. Juli 1988 = NJW 1989, 654 ff. sowie EGMR Texeira de Castro v. Portugal, Urteil vom 9. Juni 1998 = NStZ 1999, 47 ff. mit Anm. Sommer, vgl. auch Gaede JR 2009, 493, 494.

[11] Kritisch dazu Gaede , Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, 2007, S. 804 ff., mit der Kritik von: "Maßstabslosigkeit, die dem normativen Charakter von Art. 6 nicht gerecht wird ” ; vgl. auch ders. , StV 2004, 44, 48 und ders. HRRS 2006, 248, Renzikowski , in: ders. (Hrsg.), Die EMRK im Privat-, Straf- und Öffentlichen Recht, 2004, 97, sowie Ashworth , Human Rights, Serious Crime and Criminal Procedure, 2002, S. 35.

[12] EGMR, Prade v. Deutschland, (Fn. 8), Rn. 34 mit Bezugnahme auf EGMR Szilagyi v. Rumänien Urteil vom 17. Dezember 2013. Zur Frage von Beweisverwertungsverboten in Deutschland vgl. auch BGH NJW 2009, 2463, 2467.

[13] EGMR, Prade v. Deutschland, (Fn. 8), § 35. Wortwörtlich heißt es: "may be taken into consideration and be weighed against the individual interest that the evidence against him be gathered lawfully ”. Es wird in diesem Zusammenhang von der " Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege” gesprochen, vgl. Rzepka, Fairness im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 264 und ff., Beulke, Strafprozessrecht, 13. Aufl., 2016, S. 24 (das verfassungsrechtlich abgesicherte Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege); Niemöller/Schuppert AöR 1982, 387, 398 ff., Brunhöber ZIS 2010, 761, 767.

[14] EGMR, Prade v. Deutschland, (Fn. 8), § 41, "considerable”.

[15] EGMR, Prade v. Deutschland, (Fn. 8), § 41, vgl. auch EGMR Jalloh v. Germany, Urteil vom 11. Juli 2006, §§ 97 ˗ 99 = EGMR StV 2006, 617 ff.

[16] In diese Richtung schon EGMR, Schenk v. Schweiz, (Fn. 10), NJW 1989, 654 ff., Jalloh v. Germany (Fn. 15), EGMR StV 2006, 617 ff. Vgl. auch Lubig/Sprenger ZIS 2008, 434.

[17] Diese Gesamtschau als Auslegungsmaßstab des Prinzips des fairen Verfahrens wurde schon im Hinblick auf die Besuchsraum-Entscheidung (BGH NJW 2009, 2463) kritisiert und abgelehnt, siehe dazu Rogall, HRRS 2010, 289, 291 ff.; Zuck JR 2010, 17 und ff.; Brunhöber ZIS 2010, 761, 770.

[18] Hofma ń ski/Wr ó bel , Konwencja o Ochronie Praw Człowieka i Podstawowych Wolno ś ci, t. 1, Komentarz do artyku łó w 1 − 18, 2010, S. 338.

[19] Vgl. bereits EGMR, Schenk v. Schweiz, (Fn. 10), NJW 1989, 654 ff.

[20] EGMR, Prade v. Deutschland, (Fn. 8), § 41, wortwörtlich: "the nature and degree of the unlawfulness”.

[21] EGMR, Niemietz v. Deutschland, Urteil vom 5.April 1990 = EuGRZ 1993, 65 ff. Vgl. unten III. 4. Es ist dabei darauf hinzuweisen, dass der Begriff der Wohnung sehr weit verstanden wird, vgl. Nowicki, Komentarz do Europejskiej Konwencji Praw Człowieka, 2013, S. 726 und ff., Hofma ń ski/Wr ó bel (Fn 18), S. 340.

[22] Über die Grenzen der Konkretisierung des Rechts aus Art. 6 EMRK durch die Vertragsstaaten der EGMR vgl. Gaede (Fn. 11), S. 687 ff., 712 ff.; Vgl. auch Grabenwarter / Pabel , Europäische Menschenrechtskonvention, 6. Aufl., 2016, S. 142 ff.

[23] Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass eine Einschränkung dieses Konventionsrechtes im Fall eines kollidierenden, überwiegenden öffentlichen Interesses als zulässig angesehen wird, vgl. dazu Gaede (Fn. 11), S. 700; Brunhöber ZIS 2010, 761, 768.

[24] Es sind sogar mehrere contra oder praeter legem Entscheidungen auf der nationalen Ebene ergangen, die diese Rechtsmäßigkeit der Strafverfolgung absichern, vgl. BVerfG StV 2002, 578, 580 f., BGHSt 46, 93, 94 ff., BGH NStZ 2010, 53; BVerfGE 62, 338. Vgl. auch Lubig/Sprengler ZIS 2008, 433, 440: " Die Fairness aber ist eine für die Legitimität der gesamten Strafverfolgung notwendige Voraussetzung ” .

[25] Vgl. dazu Jäger, Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, München 2003, ders., GA 2008, 473 und Lubig/Sprengler, ZIS 2008, 433 ff.

[26] Aber es zuzustimmen, dass nicht jede r echtswidrige Beweiserhebung schon automatisch zur Verletzung von Konventionsregeln führt, siehe dazu Paeffgen, in: Rudolphi u.a. (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Band X, 4. Aufl., 2014, Art. 6 EMRK Rn. 5 und ff. Anderes gilt aber für eine solche, die ebenfalls eine Konventionsverletzung begründet.

[27] Zur Rolle des Volkswillens im Strafrecht vgl. z. B. P. Dahm, Nationalsozialistisches und faschistisches Strafrecht, Berlin 1935.

[28] Im Lichte der bisherigen Rechtsprechung des EGMR muss sogar die Feststellung, dass es zur Verletzung vom Art. 3 EMRK kam, nicht zwingend zur Annahme einer Verletzung des Art. 6 I EMRK führen, vgl. schon EGMR, Jalloh v. Germany (Fn. 15), EGMR StV 2006, 617 ff. und dazu das Sondervotum vom Richter Bratza.

[29] Vgl. z. B. § 140 Abs. 1 Nr. 1- 3 StPO.

[30] Dallmeyer HRRS 2009, 429, zu diesem "Zauberwort ” vgl. auch Kühne in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1, 27. Aufl. 2016, I – Vorbemerkung Rn. 42, Hassamer StV 1982, 275.

[31] Vgl. United States v. Leon (468 U.S. 897), Massachusetts v. Sheppard (468 U.S. 981).

[32] EGMR, Niemietz v. Deutschland, (Fn. 21), EuGRZ 1993, 65 ff., Esser in: Erb/Esser/Franke/Graalmann-Scheerer/Hilger/Ignor (Hrsg.), Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 11, 26. Aufl. 2011, EMRK Art. 8 Rn 18 und ff., Nowicki (Fn. 21), S. 730.

[33] EGMR Funke v. Frankreich, Urteil vom 25. Februar 1992 = Series A no. 256-A.

[34] EGMR Klass und andere vs. Deutschland, Urteil vom 6. September 1978 = NJW 1979, 1755 ff.

[35] 2 BvR 758/05. Vgl. auch BGHSt 24, 125, 130, LG Bonn NJW 1981, 293, Gössel NJW 1981, 654.

[36] OLG Hamburg, Beschluss v. 16.9.2008, 10/08 (REV).

[37] Vgl. schon EGMR, Schenk v. Schweiz, (Fn. 10), NJW 1989, 654 ff.; EGMR P.G. und J.H. v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25. September 2001 = ECHR 2001-IX.

[38] Sondervotum vom Richter Loucaides in EGMR, Khan. v. Vereinigtes Königreich, Urteil vom 12. Mai 2000 = RJD 2000-V ff. Vgl. auch Sondervotum von den Richtern Pettiti, Spielmann, De Meyer und Carrillo Salcedo in EGMR, Schenk v. Schweiz, (Fn. 10), NJW 1989, 654 ff., die es deutlich zum Ausdruck gebracht haben: "No court can, without detriment to the proper administration of justice, rely on evidence which has been obtained not only by unfair means but, above all, unlawfully. If it does so, the trial cannot be fair within the meaning of the Convention. ˮ und Sondervotum des Richters Tulkens in EGMR, EGMR P.G. und J.H. v. Vereinigtes Königreich (Fn. 38), ECHR 2001-IX.

[39] Diese Ansicht wird auch in der neueren Fachliteratur vertreten, vgl. Jung GA 2003, 193; ders. GA 2009, 651, 654 ff.

[40] Vgl. Sondervotum des Richters Spielmann in EGMR Bykov v. Russland, Urteil vom 10. März 2009 = HRRS 2009 Nr. 360 mit Anm. Gaede JR 2009, 493 ff.