HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2016
17. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

1110. BGH 4 ARs 16/15 - Beschluss vom 28. April 2016 (BGH)

Anfrageverfahren; Strafrahmenverschiebung bei selbst verschuldeter Trunkenheit (erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit; schuldhaftes Sich-Berauschen; tatrichterliche Ermessensausübung, revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

§ 132 Abs. 3 Satz 1 GVG; § 21 StGB; § 49 Abs. 1 StGB

1. Der Senat versteht die Anfrage des 3. Strafsenats wie folgt:

a) Die Entscheidung über die Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 Abs. 1 StGB ist eine Ermessensentscheidung des Tatrichters.

b) Im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung kann im Einzelfall die selbstverschuldete Trunkenheit die Versagung der Strafmilderung tragen, auch wenn eine vorhersehbare signifikante Erhöhung des Risikos der Begehung von Straftaten aufgrund der persönlichen oder situativen Verhältnisse nicht festgestellt ist.

2. Soweit der so verstandenen Anfrage Rechtsprechung des 4. Strafsenats entgegensteht, hält er daran nicht fest.

3. Im Rahmen der erforderlichen Gesamtabwägung aller schuldrelevanten Umstände ist die selbst zu verantwortende Trunkenheit ein zu berücksichtigender Umstand unter anderen (vgl. BGHSt 49, 239, 241). Feste Regeln, die der Tatrichter bei dieser Abwägung zu beachten hätte, und insbesondere, welches Gewicht er einzelnen Umständen beizumessen hätte, befürwortet der Senat nicht. Im Rahmen der vom Tatrichter zu treffenden Ermessensentscheidung kann deshalb auch die selbst zu verantwortende Trunkenheit den Ausschlag dafür geben, im Einzelfall die Strafmilderung nach §§ 21, 49 StGB zu versagen.

4. Das Revisionsgericht prüft diese Ermessensentscheidung lediglich daraufhin nach, ob dem Tatrichter ein Rechtsfehler unterlaufen ist.


Entscheidung

1070. BGH 1 StR 121/16 - Urteil vom 9. August 2016 (LG Tübingen)

Begründung der Kriminalstrafe (Vergeltungsgedanke: Bedeutung für die Strafzumessung); Täter-Opfer-Ausgleich (Voraussetzungen: erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht, die über die reine Schadenswiedergutmachung hinausgeht).

§ 46 StGB; § 46a Abs. 1 StGB

1. Die Kriminalstrafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, dass sie – wenn nicht ausschließlich, so doch auch – auf gerechte Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 110, 1, 13). Die verfassungsrechtliche Legitimität der Verhängung und Vollstreckung von Strafe folgt bereits aus dem Umstand, dass dem jeweiligen Täter die Begehung der Straftat als

Fehlverhalten individuell vorgeworfen werden kann. Die konkret verhängte Strafe muss dabei von Verfassungs wegen in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen.

2. Eine Kriminalstrafe kann deshalb auch verhängt werden, wenn aufgrund des langen Zeitablaufs seit Begehung der Taten und des vollständig abgeschlossenen erfolgreichen Resozialisierungsprozesses des Angeklagten keine spezialpräventiven Strafzwecke mehr bestehen.

3. Obwohl § 46a StGB nach seinem Wortlaut an sich in beiden Varianten für alle Delikte in Frage kommt, können sich aus den unterschiedlichen tatbestandlichen Voraussetzungen von Nummern 1 und 2 jeweils Beschränkungen im Anwendungsbereich ergeben (vgl. BGH NStZ 1995, 492). Dementsprechend versteht der Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung § 46a Nr. 2 StGB als Regelung über den Täter-Opfer-Ausgleich, die an den Ausgleich der durch die Tat entstandenen materiellen Schäden anknüpft.

4. Der Täter-Opfer-Ausgleich nach dieser Vorschrift verlangt auf der Seite der Opfer, dass sie „ganz oder zum überwiegenden Teil“ entschädigt worden sind sowie täterseitig „erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht“. Damit eine erfolgte Schadenswiedergutmachung ihre friedenstiftende Wirkung entfalten kann, muss der Täter einen über eine rein rechnerische Kompensation hinausgehenden Beitrag erbringen. Dafür genügt die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen allein nicht. Vielmehr muss sein Verhalten Ausdruck der Übernahme von Verantwortung sein (st. Rspr.).


Entscheidung

1082. BGH 2 StR 18/16 - Urteil vom 20. Juli 2016 (LG Aachen)

Strafzumessung (Serientaten; Bemessung der Gesamtstrafe: zu hohes Strafübels aufgrund der Bildung zweier Gesamtstrafen wegen Zäsurwirkung einer Vorverurteilung, Darstellung im Urteil).

§ 46 StGB; § 54 StGB; § 55 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO

1. Werden Taten gleichförmig in Serie begangen, kann sich daraus eine Verminderung des Schuldgehalts der Folgetaten ergeben, wenn auf Grund des inneren Zusammenhangs auf eine herabgesetzte Hemmschwelle geschlossen werden kann (vgl. BGH StraFo 2012, 151, 152). Da die Schuld des Täters in Bezug auf die Einzeltaten durch eine Mehrheit von Taten erhöht werden kann, ist es möglich, auch diesen Umstand schon bei der Bemessung der Einzelstrafe und bei der Erwägung mit in Betracht zu ziehen, ob jeweils ein minder schwerer Fall bejaht werden kann (vgl. BGHSt 24, 268, 271).

2. Nötigt die Zäsurwirkung einer einzubeziehenden Vorverurteilung zur Bildung zweier Gesamtstrafen, muss das Gericht einen sich daraus möglicherweise für den Angeklagten ergebenden Nachteil infolge eines zu hohen Gesamtstrafübels ausgleichen. Dabei muss es nicht nur darlegen, dass es sich dieser Sachlage bewusst gewesen ist, sondern auch erkennen lassen, dass es das Gesamtmaß der Strafen für schuldangemessen gehalten hat (vgl. BGHSt 41, 310, 313).


Entscheidung

1066. BGH 4 StR 212/16 - Beschluss vom 14. September 2016 (LG Essen)

Absehen von Strafe wegen Aufklärungshilfe bei Betäubungsmitteldelikten (kein Aufklärungserfolg erforderlich; Umfang der Strafbefreiung bei fortgesetzter Verkaufstätigkeit); Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsklinik (Hang: Voraussetzungen, nur indizielle Bedeutung der Beeinträchtigung der Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit).

§ 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 64 StGB

1. Hat der Angeklagte durch freiwilliges Offenbaren seines Wissens wesentlich zur Aufdeckung einer Tat nach den §§ 29 bis 30a BtMG beigetragen, liegen die Voraussetzungen für eine Strafmilderung nach § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG für alle Taten des Angeklagten vor, die mit der aufgedeckten Tat im Zusammenhang stehen, ohne dass es darauf ankommt, ob auch bezüglich dieser Taten ein wesentlicher Aufklärungserfolg bewirkt worden ist (vgl. BGH NStZ-RR 2015, 248). Ein für § 31 Satz 1 Nr. 1 BtMG hinreichender Zusammenhang ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bei Taten eines Mittäters im Rahmen einer fortgesetzten Verkaufstätigkeit, an welcher der die Aufklärungshilfe leistende Angeklagte jedenfalls in Teilabschnitten beteiligt war, gegeben (vgl. BGH StV 2014, 619 f).

2. Für einen Hang gemäß § 64 StGB ausreichend ist eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Konsum von Rauschmittel ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betroffene aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (st. Rspr.). Letzteres ist der Fall bei der Begehung von zur Befriedigung des eigenen Drogenkonsums dienender Beschaffungstaten (vgl. BGH NStZ 2005, 210). Dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum die Gesundheit sowie die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betroffenen beeinträchtigt sind, kommt nur indizielle Bedeutung zu. Das Fehlen solcher Beeinträchtigungen schließt die Bejahung eines Hangs nicht aus (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 271).


Entscheidung

1078. BGH 1 StR 256/16 - Beschluss vom 27. Juli 2016 (LG Kassel)

Strafzumessung (Berücksichtigung berufsrechtlicher Folgen).

§ 46 Abs. 1 StGB

Steht die Möglichkeit eines Verlustes der beruflichen oder wirtschaftlichen Existenz aufgrund berufsrechtlicher Folgen aus Anlass der Begehung einer Straftat im Raum, handelt es sich regelmäßig um einen zu berücksichtigenden Strafzumessungsgrund.


Entscheidung

1073. BGH 1 StR 254/16 - Beschluss vom 29. Juni 2016 (LG Stuttgart)

Mögliche Anordnung mehrerer Maßregeln (Vorrang der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gegenüber der Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, wenn Maß-

regelerfolg bereits durch eine Maßregel erreicht werden kann); Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Voraussetzungen: Gefährlichkeitszusammenhang)

§ 72 Abs. 1 StGB; § 64 StGB; § 63 StGB

1. Im Verhältnis der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) und der in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) ist bereits wegen der gesetzlichen Begrenzung der zulässigen Vollzugsdauer Letztgenannte die Maßnahme, die mit dem geringeren Eingriff in die Rechte des Betroffenen verbunden ist, und deshalb nach § 72 Abs. 1 Satz 2 StGB vorrangig anzuordnen.

2. Der für die Anordnung der Maßregel des § 64 StGB erforderliche symptomatische Zusammenhang ist bereits dann gegeben, wenn der Hang dazu beigetragen hat, dass der Täter die Tat begangen hat (vgl. BGH NStZ-RR 2016, 173).


Entscheidung

1024. BGH 2 StR 41/16 - Beschluss vom 27. September 2016 (LG Gera)

Strafzumessung (Annahme eines minder schweren Falles).

§ 30 Abs. 2 BtMG; § 46 StGB

Eine geringe Überschreitung der Untergrenze zur nicht geringen Menge ist ein Strafmilderungsgrund. Das Zweifache der nicht geringen Menge an Betäubungsmitteln ist auch noch derart gering, dass dies jedenfalls nicht als bestimmender Strafschärfungsgrund gewertet werden kann.