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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2016
17. Jahrgang
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Von RiAG Dr. Lorenz Leitmeier, München
Richter am BGH Mosbacher besprach in der Ausbildungszeitschrift Juristische Schulung[1] ein Urteil des BGH vom 17.2.2016[2] und stellte als "Besonderheit" dar, dass es bei den Unterschriften der Richter unter dem Urteil heiße: "Ri´inBGH xxx ist verhindert", gefolgt von der Unterschrift des Vorsitzenden. Dies sei rechtsfehlerhaft: "Vorliegend wurde lediglich die Tatsache der Verhinderung, aber nicht deren Grund angegeben."[3] § 275 Abs. 2 S. 2 StPO verlange aber genau dies. Liest man das Urteil nach, ist tatsächlich nicht ersichtlich, warum die betreffende Richterin an der Unterschrift verhindert war.
Über das besprochene Urteil hinaus monierte Mosbacher, dass dieses Vorgehen mehr und mehr Praxis werde. Die Angabe, warum einzelne Richter(innen) ein Urteil nicht unterschreiben könnten, werde öfter weggelassen: "Dies geschieht entgegen dem klaren Gesetzeswortlaut jedenfalls bei einzelnen Strafsenaten des BGH in letzter Zeit häufiger, ohne dass ein Grund hierfür ersichtlich wäre."[4]
In seiner Kolumne auf Zeit-Online, ironischerweise beim Themenkomplex "Rechtsbeugung" angekommen[5], fragte daraufhin Thomas Fischer, gewohnt zugespitzt: "Skandal am BGH?", gab sich (für das breite Publikum) als der "gesuchte" Vorsitzende zu erkennen und erklärte, warum er (häufig? manchmal? oft?) § 275 Abs. 2 S. 2 StPO zu einem Teil nicht anwende (die Verhinderung vermerkt er, den Grund aber lässt er weg) und damit im Ergebnis offensichtlich bewusst den Wortlaut einer strafprozessualen Vorschrift missachte.
Diese Rechtsfrage ist natürlich nicht auf den BGH beschränkt: Wie könnte man das, was einzelne Vorsitzende am BGH praktizieren, den Richtern in den Tatsacheninstanzen versagen? Wenn am BGH kein Verhinderungsgrund mehr angegeben wird – warum sollte dies ein Vorsitzender Richter am Landgericht tun? Oder an einem Zivilgericht (§ 315 Abs. 1 ZPO), Verwaltungsgericht (§ 117 Abs. 1 VwGO), Finanzgericht (§ 105 Abs. 1 FGO)?
Und wenn der eine Vorsitzende Richter den Verhinderungsgrund angibt, der andere Vorsitzende nicht – besteht dann ein freies Ermessen? Ist es dem einzelnen Richter überlassen, ob er den Wortlaut beachtet oder nicht?
Dies alles sind, weit über den Einzelfall hinaus, zunächst interessante methodische, dann ernste verfassungsrechtliche Fragen, denn: "Methodenfragen sind Verfassungsfragen"[6].
Und so ist dieser über die Fachpresse und das Internet geführte Dialog ein Lehrstück über die Auslegung einer strafprozessualen Vorschrift, die Gesetzesbindung von Richtern und letztlich über die Gewaltenteilung.
Schlägt man § 275 Abs. 2 StPO auf, liest man:
"Das Urteil ist von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben. Ist ein Richter verhindert, seine Unterschrift beizufügen, so wird dies unter der Angabe des Verhinderungsgrundes von dem Vorsitzenden und bei dessen
Verhinderung von dem ältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil vermerkt. Der Unterschrift der Schöffen bedarf es nicht."
Bei unbefangener Lesart müssen nach dieser Vorschrift also alle Berufsrichter, die an einem Urteil mitwirken, unterschreiben. Ist eine(r) an der Unterschrift gehindert, vermerkt der Vorsitzende dies, und zwar "unter der Angabe des Verhinderungsgrundes". Der Vorsitzende muss also schreiben: "Richter X ist wegen Urlaubs (Krankheit/ Dienstreise etc.) verhindert", es reicht nicht aus, wenn er lediglich vermerkt: "Richter X ist verhindert."
Auch Fischer selbst hält § 275 Abs. 2 StPO zunächst für unproblematisch:
"Klarer Fall, so scheint es. Mit ihrer Unterschrift bestätigen die mitwirkenden Richter, dass die schriftlichen Urteils- oder Beschlussgründe die mehrheitlich beschlossenen sind (also nicht, dass die Gründe ihre – geheime – Abstimmungsmeinung wiedergeben). Ist einer der Richter aus ´tatsächlichen´ (Urlaub, Krankheit) oder aus ´rechtlichen´ (Pensionierung, Versetzung) Gründen an der Unterschrift gehindert, muss der Vorsitzende den ´Verhinderungsvermerk´ anbringen. Das ist keine ´Vertretung´, sondern eine Art Bescheinigung. Allgemein üblich ist es zu schreiben: ´wegen Krankheit´, ´wegen Urlaubs´, ´wegen Dienstreise´."
Warum also hält sich Fischer nicht daran, was die Vorschrift anscheinend zwingend fordert?
Er nennt mehrere Gründe: Erstens gelte § 275 Abs. 2 S. 2 StPO nicht oder jedenfalls nur eingeschränkt für den BGH, weil der keine Fristen einzuhalten habe. Zudem lege die Geschäftsordnung des BGH fest, dass Beschlüsse nicht von allen Richtern unterschrieben werden müssten. Und schließlich hätten die Kollegen ein informationelles Selbstbestimmungsrecht und müssten nicht hinnehmen, dass der Verhinderungsgrund bekannt werde.
Kann man mit diesen Argumenten tatsächlich (oder muss man sogar?) den Gesetzeswortlaut "unter der Angabe des Verhinderungsgrundes" interpretieren als "ohne die Angabe des Verhinderungsgrundes"?
In der Theorie ist die Sache klar, es gilt Art. 20 Abs. 3 GG: Der Gesetzgeber beschließt die Gesetze, der Richter wendet sie auf den Einzelfall an. Das ist der Kern der Gewaltenteilung, zentrale Säule unseres Rechtsstaats. Wenn ein Richter ein Gesetz für unzweckmäßig, unpraktisch oder unwichtig findet, muss er es dennoch (unwillig) anwenden.
Die entscheidende Frage im Einzelfall ist freilich immer: Wird dem Gesetz strenger Gehorsam geschuldet, weil die Rechtsfrage (des Einzelfalls) entschieden ist? Oder hat der Richter einen Spielraum, weil das Gesetz einer (mehr oder weniger) weiten Interpretation zugänglich ist? Was dürfen die "Pianisten" mit dem "Notenblatt" des Gesetzgebers zulässigerweise noch machen, ab wann setzen sie ihre eigenen Wertvorstellungen an diejenige des Gesetzgebers? Die Literatur dazu füllt Bibliotheken.[7]
Unstreitig ist aber, dass der Richter die verfassungsrechtliche Grenze überschreitet, wenn er Gesetze beiseiteschiebt. Legt der Bundestag (unter Beteiligung des Bundesrats) in § 275 Abs. 2 S. 2 StPO fest, dass bei fehlenden Unterschriften von Berufsrichtern ein Verhinderungsgrund anzugeben ist, muss sich ein Vorsitzender Richter also im Kern daran halten. Ihn hat niemand gewählt, er ist nicht legitimiert, Gesetze zu gestalten. Ignoriert er (teilweise) den Wortlaut eines Gesetzes, braucht er sehr gute Gründe.
Schafft es Fischer also rechtlich überzeugend, das glatte Gegenteil des Wortlauts zu machen und dadurch die ganz hohe Kunst auszuüben – oder muss er sich fragen lassen, ob er eine formale Vorschrift subjektiv materialisiert, dem Gesetz den geschuldeten Gehorsam verweigert und dadurch seine Befugnisse überschreitet? Wird er zum Richteroligarchen, der nach eigenem Gutdünken Recht setzt und ändert?[8]
Im folgenden sind die Gründe, die Fischer für sein Vorgehen angibt, im einzelnen zu prüfen.
Fischer führt zunächst an:
"War der Richter in Wahrheit gar nicht ´verhindert´, schlägt beim Tatgericht (§ 275 StPO) der absolute Revisionsgrund des Paragrafen 338 Nr. 7 Strafprozessordnung zu. Die entsprechende Rüge lautet dann aber nicht: ´Der Verhinderungsvermerk enthält keinen Grund´. Sondern: ´Das Urteil ist nicht mit den vorgeschriebenen Unterschriften rechtzeitig zur Geschäftsstelle gelangt. Der als verhindert bezeichnete Richter X war gar nicht verhindert´. Dieser revisionsrechtlich wichtige Unterschied hätte den kritischen Kollegen aus dem 1. Strafsenat auf die Spur eines Grundes führen können.
Trifft die genannte Rügebehauptung zu, wird das Urteil aufgehoben. Ob sie zutrifft, ist aufzuklären: Dann werden Dienstliche Erklärungen, Ärztliche Atteste, Reisebescheinigungen, Versetzungsverfügungen beigezogen. Es geht für die Revisionsrüge nämlich allein darum, ob der Verhinderungsvermerk inhaltlich richtig ist, der Richter also tatsächlich verhindert war; es geht nicht darum, ob die Begründung korrekt angegeben war. Die Revisionsrüge ist unbegründet, wenn zwar der Vermerk ´wegen
Krankheit´ unzutreffend ist, der Richter aber tatsächlich verhindert war, beispielsweise wegen Versetzung."
Diese Ausführungen sind selbstredend richtig, gehen aber am Kern des Vorwurfs vorbei: Die Frage ist nicht, ob ein Verstoß gegen § 275 Abs. 2 StPO revisibel ist – die Frage ist, ob § 275 Abs. 2 StPO korrekt angewendet wird. Ob ein Richter einen Rechtsfehler begeht, ist zu trennen von der Frage, ob dieser Rechtsfehler durch eine Revision angreifbar ist.[9] Oder was sollte man von einem Vorsitzenden halten, der tatverdächtige Zeugen über ihr Auskunftsverweigerungsrecht gem. § 55 StPO bewusst nicht belehrt, weil ein Verstoß dagegen den Rechtskreis des Angeklagten nicht berührt[10] und deshalb jedenfalls nach herrschender Meinung nicht revisibel ist[11]?
Auch verfehlt Fischer den Punkt, wenn er schreibt:
"In 65 Jahren BGH-Historie hat daher noch niemand gerügt, ein Verhinderungsvermerk des BGH sei falsch. Wo sollte man das auch rügen? Mit der Frage des Gesetzlichen Richters (und daher mit dem Verfassungsrecht) hat es nichts zu tun. Woher also rührt die Sorge des Kritikers?"
Es ist irrelevant, dass ein Verstoß eines BGH-Vorsitzenden selbstverständlich nicht revisibel ist – wenn § 275 StPO für den BGH gilt (was zu klären ist), dann muss er korrekt angewendet werden.
Und Verfassungsrecht ist deshalb sehr wohl betroffen: Zwar nicht, weil ein anderer als der gesetzliche Richter geurteilt hätte, aber deshalb, weil der gesetzliche Richter seine Kompetenzen überschreitet.
Der BGH stellte schon vor 30 Jahren fest: "Die Angabe des Verhinderungsgrundes wird somit – anders als zum Beispiel im Falle des § 271 Abs. 2 StPO – vom Gesetz ausdrücklich vorgeschrieben."[12]
Natürlich bleibt es ohne große Auswirkung, wenn der Verhinderungsgrund fehlt. Entscheidend aber ist, dass der demokratisch legitimierte Gesetzgeber es so normiert hat und kein Richter befugt ist, davon ohne zwingende rechtliche Gründe abzuweichen. Und wer § 275 Abs. 2 StPO für eine unwichtige Ordnungsvorschrift und die Angabe des Verhinderungsgrunds für belanglos hält, verkennt, dass auch (gerade!) die Einhaltung von Formalien Legitimität erzeugt; außerdem muss er die Frage beantworten: Wo ist die Grenze? Darf ein Richter auch die allgemeine Belehrung eines Zeugen über seine Wahrheitspflicht unterlassen, weil § 57 StPO eine bloße Ordnungsvorschrift ist und eine Revision nicht begründet[13]? Weil doch ohnehin jeder weiß, dass man vor Gericht nicht lügen darf?
Die Gefahr ist die schleichende Entformalisierung des Strafrechts. Die StPO ist "geronnenes Verfassungsrecht"[14], Prozessrecht allgemein ist formalisiertes Recht[15], ein Gerichtsverfahren zu führen – und zu beenden. Richter müssen ohnehin fortlaufend die unbestimmten (meist materiellen) Normen interpretieren; wenn sie aber anfangen, auch eindeutige und klar bestimmte Vorschriften abweichend zu interpretieren und anzuwenden, ist das rechtsstaatlich bedenklich.
Fischer führt weiter an, dass § 275 Abs. 2 StPO für den BGH nicht (oder nur eingeschränkt) gelte, und durch die Geschäftsordnung des BGH abgeändert werde:
"Beim Bundesgerichtshof unterschreiben alle Entscheidungen immer alle mitwirkenden Richter. Sie müssten dies freilich nicht tun. Die Geschäftsordnung des BGH vom 3. März 1952 ordnet nämlich an:
´Beschlüsse, die aufgrund einer mündlichen Verhandlung ergehen, sollen die Namen der Richter, die daran mitgewirkt haben, enthalten und sind von ihnen zu unterzeichnen. Bei anderen Beschlüssen genügt die Unterzeichnung durch den Berichterstatter und den Vorsitzenden.´
Der Grund für diese von Paragraf 275 StPO abweichende Regelung ist, dass diese Vorschrift für den BGH gar nicht oder allenfalls eingeschränkt gilt. Der BGH hat nämlich bei der Absetzung von Urteils- oder Beschlussgründen keine Fristen einzuhalten."
Der Hinweis auf die Geschäftsordnung des BGH verfängt allerdings aus mehreren Gründen nicht:
Nach allgemeiner Meinung gilt § 275 Abs. 2 StPO auch für Urteile des Revisionsgerichts[16], damit nicht nur für die Tatsachengerichte, sondern auch den BGH. So heißt es beispielsweise in einem führenden Kommentar:
"Die Anwendung der Fristbestimmungen (§ 275 Abs. 1 S. 2-4 StPO) geht bei Revisionsurteilen freilich ins Leere, da ein weiteres Rechtsmittel nicht gegeben ist, mit dem eine Fristversäumung geltend gemacht werden könnte. Im übrigen müssen aber, da die StPO für Inhalt, Unterzeichnung und Ausfertigung der Revisionsurteile keine Vorschriften enthält, die diesbezüglichen Bestimmungen des § 275 StPO die Lücke füllen."[17]
Wer von dieser klaren Vorgabe abweichen und den Willen des Gesetzgebers ignorieren will, muss das sehr gut begründen. Fischer tut das nicht, und kann es auch nicht: Warum sollten BGH-Urteile in puncto Unterschrift (§ 275 Abs. 2 StPO) anders zu behandeln sein als Urteile
von Land- oder Amtsgerichten? Mit den Fristen des § 275 Abs. 1 StPO hat diese Frage nichts zu tun.
Das Argument mit der Geschäftsordnung greift doppelt nicht: Wie sich ein Gericht selbst organisiert, ist seine Sache, es kann dies autonom tun. Es kann aber durch eine Geschäftsordnung nicht die bundesweit geltende Strafprozessordnung abändern, dies ist eine Frage der Normenhierarchie, des ausnahmslos geltenden Vorrangs der ranghöheren Norm vor der niedrigeren.
Zur Geschäftsordnungsautonomie stellte das BVerfG (sogar für den Bundestag) fest: "Ungeachtet ihrer großen Bedeutung für das materielle Verfassungsrecht und das Verfassungsleben folgt aus dieser Rechtsnatur der Geschäftsordnung, dass sie der geschriebenen Verfassung und den Gesetzen im Range nachsteht."[18]
Die Geschäftsordnung des BGH hat also nicht die normative Kraft, ein Bundesgesetz abzuändern.
Damit übereinstimmend lässt sich der von Mosbacher besprochene Fall (und weitergehend die monierte Praxis) auch gar nicht unter die Geschäftsordnung des BGH subsumieren, denn diese spricht ausdrücklich nur von "Beschlüssen", § 275 StPO hingegen von "Urteilen" (auf die sich Mosbacher bezog). Die Geschäftsordnung des BGH will also § 275 StPO gar nicht ändern, vermutlich wusste der Geschäftsordnungsgeber, dass er das auch nicht kann. Den Unterschied zwischen "Beschlüssen" und "Urteilen" muss ein Vorsitzender Richter am BGH kennen.
Schließlich führt Fischer das Selbstbestimmungsrecht der Kollegen als Grund an, weshalb er das Gesetz nicht wortlautgetreu anwende:
"Und was heißt hier: ´klarer Gesetzeswortlaut´, anders gefragt: Was heißt ´Angabe des Verhinderungsgrunds´?
Ich nenne Ihnen, liebe Leser, ein paar lebensnahe Beispiele: ´Richterin H hat seit gestern Bauchschmerzen´; ´Richter I hat sich krank gemeldet´; ´Richterin J ist mit ihrem neuen Freund zu einem dreiwöchigen Urlaub auf den Malediven´; ´Richter K kann sich wegen einer depressiven Erkrankung derzeit nicht konzentrieren´; ´Richter L hat sich von seiner Frau getrennt und muss heute seinen Umzug organisieren´; ´Richter M wohnt in Leipzig und weilt nur jede dritte Woche am Gerichtsort´. Das wären ein paar saftige ´Verhinderungsgründe´, unter denen sich die Verfahrensbeteiligten und das Publikum etwas vorstellen könnten! Derartige Begründungen ihrer Verhinderung veröffentlicht zu sehen, müssten sich die Richter aber sicher nicht gefallen lassen. Ein bisschen informationelles Selbstbestimmungsrecht des Richterbürgers gestattet nämlich auch der Wortlaut des Paragrafen 275 StPO in der Fassung von 1877."
Damit bezieht sich Fischer auf das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung, welches das BVerfG im berühmten Volkszählungsurteil aus dem Jahr 1983 entwickelte.[19] Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist seither konkretisiert worden und umfasst nach der Rechtsprechung des BVerfG die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.[20]
Natürlich darf (und muss) ein Richter Verfassungsrecht zur Geltung bringen, wenn er die StPO anwendet. Das Bundesverfassungsgericht hat dazu festgestellt:
"Die Gerichte sind gehalten, sich um eine verfassungskonforme Auslegung des einfachen Rechts zu bemühen, denn der Respekt vor der gesetzgebenden Gewalt gebietet es, im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen so viel wie möglich von dem aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat."[21]
Allerdings steht dieses Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG unter einem Schrankenvorbehalt, den das BVerfG ebenfalls präzisierte. Maßgeblich sind demnach die Grundsätze der Bestimmtheit und Normenklarheit, der Gesetzgeber muss Anlass, Zweck und Grenzen des Eingriffs hinreichend bereichsspezifisch, präzise und normenklar festlegen.[22]
Und spätestens hier stellt sich, will man § 275 Abs. 2 S. 2 StPO teilweise unangewendet lassen, ein massives rechtliches Hindernis: Besteht für den Rechtsanwender tatsächlich ein Spielraum, oder ist die verfassungsrechtliche Dimension vom Gesetz mitbedacht und hindert die Richterrechtsetzung?
Auch hierzu legte das BVerfG den Maßstab fest:
Die verfassungskonforme Auslegung findet ihre Grenzen aber dort, wo sie zu dem Wortlaut und dem klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde.[23]
Wer § 275 Abs. 2 S. 2 StPO trotz eindeutigen Wortlauts ("unter der Angabe des Verhinderungsgrundes") wegen verfassungskonformer Auslegung nicht anwendet, kann dies methodisch allein über eine teleologische Reduktion[24]. Danach würde die vom Gesetzgeber zu weit greifende Regelung als Lücke interpretiert, die darin besteht, dass keine Ausnahmeregelung getroffen wurde, sodass die vom Wortlaut (des einfachen Gesetzes) umfassten Fälle der (vorrangigen) Zielsetzung des Grundgesetzes widersprechen.
Materiell wäre also nachzuweisen, dass § 275 Abs. 2 S. 2 StPO, was den Verhinderungsgrund betrifft, verfassungs-
widrig ist. Das ist allerdings juristisch nicht begründbar, man kann die Vorschrift nämlich bestechend einfach so auslegen, dass das Grundgesetz nicht verletzt wird. In einem ganz aktuellen Beschluss des BGH vom 11.5.2016 heißt es dazu:
Der im Verhinderungsvermerk genannte Grund muss generell geeignet sein, den Richter von der im Gesetz als Grundsatz vorgesehenen Unterschriftsleistung (§ 275 Abs. 2 Satz 1 StPO) abzuhalten. Durch Urlaub eines Richters bedingte Abwesenheit stellt einen solchen Grund dar. (…) Stützt sich der Vermerk auf einen generell die Verhinderung tragenden Grund, bedarf es keiner näheren Ausführungen des Vorsitzenden zu den Umständen der Verhinderung."[25]
Der Verhinderungsgrund kann also (und wird in der Praxis auch) allgemein gehalten werden[26], es reicht ohne weiteres, wenn der Vorsitzende schreibt: "verhindert wegen Urlaubs/Krankheit etc."
Und damit ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung nicht verletzt: Der Verhinderungsvermerk soll nach außen sicherstellen, dass der betreffende Richter nicht aus sachfremden oder gar willkürlichen Gründen seine gesetzliche Aufgabe (zu unterschreiben) verweigert, sondern nachvollziehbar verhindert ist.[27] Die Organisation des Umzugs reicht eben nicht, das "dringliche unaufschiebbare Dienstgeschäft"[28] der Unterschrift unter das Strafurteil zu unterlassen. Um dieses formellen Ziels willen, Willkür auszuschließen, ist es jedem Richter zuzumuten, dass das nicht individualisierbare und wenig aussagekräftige Datum "Urlaub" oder "Krankheit" öffentlich wird.
Die Ausführungen Fischers zu den "saftigen Verhinderungsgründen" gehen deshalb ins Leere, sind eine juristische Nebelkerze: Er nennt beispielhaft maximal detaillierte Verhinderungsgründe ("depressive Erkrankung", "von der Frau getrennt"), um gar keine angeben zu müssen. Letztlich ist das eine durchschaubare rhetorische Figur: Man nennt ein krass unverhältnismäßiges Vorgehen als Beispiel, sodass gar kein Vorgehen möglich sei. Genausogut könnte man sagen: Eine öffentliche Hauptverhandlung in einem Fußballstadion ist keinem Angeklagten zumutbar, also ist Öffentlichkeit immer unzumutbar. Und schon wird § 169 GVG nicht mehr angewendet.
Der Vorsitzende muss im Rahmen des § 275 Abs. 2 S. 2 StPO in keinem Fall das Urlaubsziel (gar die Urlaubsbegleitung) oder die genaue Krankheit angeben. Und damit ist das Persönlichkeitsrecht der Kollegen nicht verletzt, ansonsten wäre jede Krankmeldung im Arbeitsverhältnis ein Rechtsproblem.
Somit kann ein Vorsitzender § 275 Abs. 2 S. 2 StPO ohne Probleme korrekt anwenden und den Verhinderungsgrund angeben, ohne jemanden in seinen Rechten zu verletzen. Um seine Kollegen zu schützen, muss er nicht den Gesetzgeber, also einige hundert Abgeordnete des Bundestags, missachten.
Die allmählich sich entwickelnde Praxis "bei einzelnen Strafsenaten des BGH"[29], dass der Vorsitzende beim "Verhinderungsvermerk" den Grund nicht angibt, weshalb ein Beisitzer verhindert sei, das Urteil zu unterschreiben, ist entschieden abzulehnen, weil sie rechtswidrig ist. § 275 Abs. 2 S. 2 StPO ist eine im Wortlaut eindeutige und mit dem Verfassungsrecht klar vereinbare Vorschrift, die deshalb zwingende Beachtung fordert. Die Frage um Unterschriften und deren Verhinderung ist an sich ohne große Bedeutung – wenn Richter aber Gesetze nicht anwenden, wie es der Wortlaut fordert, berührt das fundamental die Gewaltenteilung: Ein Richter, der ohne zwingenden Grund aus der gesetzlichen Formulierung "unter Angabe" einfach "ohne Angabe" macht, greift sehr tief in die Befugnisse des Gesetzgebers ein, maßt sich Normsetzungsmacht an, die ihm nicht zusteht. Im übrigen ist es keinem Tatrichter begreiflich zu machen, dass sein Urteil mit dem Vermerk: "Richter S. ist nicht mehr am Landgericht tätig und deshalb an der Unterschriftsleistung gehindert." aufgehoben wird, weil der Grund "nicht hinreichend dargetan" sei[30] – der BGH selbst aber lässt den Grund entgegen Gesetzeswortlaut gleich ganz weg. Will man Fischers Ausgangsfrage beantworten, muss man also feststellen: Ein Skandal ist diese kleine Anmaßung nicht, dazu ist der Abwesenheitsvermerk zu wenig bedeutend. Für das höchste deutsche Strafgericht allerdings geht der BGH mit einem formellen Gesetz erstaunlich freihändig und mit der Idee der Gewaltenteilung überraschend distanziert um.
[1] JuS 2016, 706-711.
[2] 2 StR 25/15 = HRRS 2016 Nr. 585 ; im Beitrag von Mosbacher fälschlich mit dem Az. "25/12" angegeben, zudem an einer Stelle als "Beschluss" bezeichnet.
[3] Jus 2016, 707.
[4] Jus 2016, 707.
[5] http://www.zeit.de/gesellschaft/2016-09/rechtsbeugung-fehlurteile-fischer-im-recht.
[6] Rüthers , Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014, Vorwort.
[7] Nur Hirsch, Rechtsanwendung, Rechtsfindung, Rechtsschöpfung, 2003; Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl., 1969, insbes. S. 91ff.; Flume, Richter und Recht, Schlussvortrag zum 46. DJT 1966 (1967) K5; Roellecke, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVdStRL 34 (1975), 7; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1978. Auf einen konkreten (zivilrechtlichen) Fall bezogen vgl. Rieble NJW 2011, 819.
[8] Zur leidenschaftlichen Kritik daran Rüthers, Die heimliche Revolution vom Rechtsstaat zum Richterstaat, 2014; Rüthers JZ 2002, 365; Rüthers JZ 2008, 446.
[9] Für die Frage der Begründungspflicht von Revisionsurteilen Fezer HRRS 2010, 281, 287.
[10] BGHSt 11, 213 (GSSt 4/57)
[11] Nur Schmitt, in: Meyer-Goßner/Schmitt, 59. Aufl., 2016, § 55 Rn. 16 m.w.N.
[12] BGH NJW 1983, 1745.
[13] Schmitt, in: Meyer-Goßner /Schmitt, 59. Aufl., 2016, § 57 Rn. 7; BGH NStZ 1998, 158
[14] Jahn , Strafprozessrecht als geronnenes Verfassungsrecht – Hauptprobleme und Streitfragen des § 136a StPO, JuS 2005, 1057
[15] Zu dem Problemkreis vgl. Murmann (Hrsg.), Recht ohne Regeln? Zur Entformalisierung des Strafrechts, 2010.
[16] Meyer-Goßner, in: Meyer-Goßner /Schmitt, 59. Aufl., 2016, § 356 Rn. 3; Löwe/Rosenberg/Franke, StPO, 26. Aufl, 2013, § 356 Rn. 3; KK-StPO/Gericke, 7. Aufl., 2013, § 356 Rn. 7;
[17] KK-StPO/Greger, 7. Aufl., 2013, § 275 Rn. 1.
[18] BVerfGE 1, 144, 148.
[19] BVerfGE 65, 1 (42).
[20] BVerfGE 65, 1 (42f.); 118, 168 (184), 120, 274 (312).
[21] BVerfGE 120, 274 (315f.); umfassend Franzius, Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, ZJS 2015, 259 ff.
[22] BVerfGE 120, 274 (315f.).
[23] BVerfGE 90, 263 ( 1 BvR 1299/89 und 1 BvL 6/90). vgl. auch BVerfGE 86, 288, 320 m.w.N.; BVerfGE 54, 277, 299f.; 71, 81, 105.
[24] Zur teleologischen Reduktion vgl. Canaris/Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage, 1995, S. 210ff. Für einen Fall aus dem Strafrecht vgl. Krell HRRS 2015, 483 (zu §§ 145d, 164 StGB).
[25] 1 StR 352/15 = HRRS 2016 Nr. 797 mit zahlreichen Nachweisen.
[26] bereits BGH NJW 1983, 1745; zum inhaltsgleichen § 315 I ZPO vgl. BGH NJW 1961, 782.
[27] BGH 2 StR 331/10 = HRRS 2011 Nr. 79.
[28] BGH 2 StR 331/10 = HRRS 2011 Nr. 79.
[29] Mosbacher JuS 2016, 706, 707.