Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2016
17. Jahrgang
PDF-Download
Von Prof. Dr. Torsten Noak, LL.M., Ludwigsburg[*]
§ 105 SBG VIII bestraft mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe, wer ohne die erforderliche Erlaubnis Kinder oder Jugendliche betreut, ihnen Unterkunft gewährt oder eine Einrichtung oder sonstige Wohnform betreibt und dadurch das Kind oder den Jugendlichen leichtfertig in seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet (Nr. 1); selbiges Strafmaß droht, wer die bezeichneten vorsätzlichen Handlungen beharrlich wiederholt (Nr. 2). Die Norm wurde 1990 im Zuge des "Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts"[1] eingeführt. Laut Entwurfsbegründung sollten die in § 104 SGB VIII genannten Ordnungswidrigkeiten bei grobem Unrecht oder beharrlichen Verstößen als Straftat bewertet werden; das Regelungsmuster des § 12 Abs. 4 JÖSchG – heute: § 27 Abs. 2 JuSchG – diente als Vorbild.[2] Widmet man sich der Vorschrift genauer, ergeben sich Kritikpunkte, die es wert sind, dem Gesetzgeber vor Augen geführt zu werden.
Wer als sog. Tagesmutter oder Tagesvater "ein Kind oder mehrere Kinder außerhalb des Haushalts der Erziehungsberechtigten während eines Teils des Tages und mehr als 15 Stunden wöchentlich gegen Entgelt länger als drei Monate betreuen will", benötigt im Grundsatz eine Erlaubnis, § 43 Abs. 1 SGB VIII. Gleiches gilt für Personen, die im Rahmen der Vollzeitpflege als Pflegeperson Kinder oder Jugendliche über Tag und Nacht im Haushalt aufnehmen wollen, § 44 Abs. 1 S. 1 SGB VIII. Träger von Einrichtungen,[3] in der Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden oder Unterkunft erhalten (z.B. Kindergärten, Kindertagesstätten) dürfen gemäß § 45 Abs. 1 S. 1 SGB VIII die Einrichtung ebenso wenig ohne Erlaubnis betreiben wie Träger einer sonstigen Wohnform gemäß § 48a SGB VIII, etwa einer betreuten Wohngemeinschaft.[4] Wer eine solche erlaubnispflichtige Tätigkeit ohne Erlaubnis ausübt, verwirklicht die Tathandlung des § 105 Nr. 1 SGB VIII.[5]
Das Problem des § 105 Nr. 1 SGB VIII besteht darin, dass er neben der Handlung einen tatbestandlichen Erfolg voraussetzt: Aus dem (vorsätzlichen)[6] Handeln ohne Erlaubnis muss eine schwere Gefährdung der körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen resultieren,[7] das illegale Handeln des Täters muss sich in der "schweren Gefährdung" realisieren.[8] Dass dafür nicht auf das reine Handeln wider die Verwaltungspflicht, den Verstoß gegen den Erlaubnisvorbehalt, abgestellt werden kann, liegt indes auf der Hand, denn wie daraus eine schwere Gefahr entstehen sollte, ist nicht ersichtlich. Entsprechend hat bereits der Bundesrat
im Gesetzgebungsverfahren angeregt, dass geprüft werde, ob die schwere Gefährdung nicht auch in den Fällen als Straftat ausgestaltet werden sollte, in denen die Erlaubnis erteilt ist. Der Formalverstoß, so das Länderparlament, könne wohl kaum ausschlaggebend sein für die schwere Gefährdung der körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen, weshalb die strafrechtliche Haftung unabhängig davon zu beurteilen sei, ob der Verantwortliche eine Pflegeerlaubnis oder Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung besitze oder nicht.[9] Das sind vollkommen richtige Erwägungen, gleichwohl hat der Gesetzgeber sich nicht beeindrucken lassen und § 105 Nr. 1 SGB VIII in der bemängelten Fassung in Kraft gesetzt.
Noch einmal zur Verdeutlichung: Lässt man – unter großzügiger Ausweitung des Wortlauts – auch über den Formalverstoß hinausgehende Handlungen als "Betreuen", "Unterkunft gewähren" und "Betreiben" (§ 105 Nr. 1 i.V.m. § 104 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VIII) gelten, somit also alle Verhaltensweisen, die mit den in §§ 43 ff. SGB VIII geregelten Tätigkeiten zusammenhängen (und nur so kann der Gesetzgeber die Deutung der Vorschrift gewollt haben), ist nicht einzusehen, warum die strafrechtliche Verantwortung allein Personen tragen, die ohne erforderliche Erlaubnis handeln. Wie bereits vom Bundesrat betont, können Personen, die im Besitz einer Erlaubnis sind, das gleiche Erfolgsunrecht verwirklichen. Nichts anderes gilt für solche, die von der Erlaubnispflicht befreit sind, weil sie die Voraussetzungen einer Ausnahmevorschrift erfüllen. Man stelle sich vor, die Gefahr würde von einer Tante, die als Pflegeperson fungiert, oder jemandem verursacht, der sich bereit erklärt hat, ein Pflegekind für eine Dauer von sieben Wochen über Tag und Nacht aufzunehmen. Beide bräuchten wegen des Verwandtschaftsverhältnisses bzw. der Achtwochenfrist gemäß § 44 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 und Nr. 4 SGB VIII keine Erlaubnis und könnten sich deshalb nicht gemäß § 105 Nr. 1 SGB VIII strafbar machen. Die Auswirkungen bei dem Pflegekind blieben indes dieselben. Hier steht eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG zu Buche, denn das Gesetz behandelt zwei vergleichbare Menschengruppen (Personen, die Pflegekinder über Tag und Nacht aufnehmen) ungleich (Strafbarkeit/Straflosigkeit), und eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann diese – anders als bei der Erlaubnispflicht selber! – nicht mit der Würdigung des Verwandtschaftsverhältnisses oder des begrenzten Zeitraums begründet werden, denn auch als Verwandter oder innerhalb der ersten acht Wochen ist es möglich, die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen negativ zu beeinflussen. Es bestehen zwischen den Personen, die sich strafbar machen können (Personen, die ohne Erlaubnis einer erlaubnispflichtigen Tätigkeit nachgehen), und denen, die keine Bestrafung zu befürchten haben (Personen, die eine Erlaubnis besitzen oder einen Ausnahmetatbestand erfüllen) keine Unterschiede von solchem Gewicht, dass eine Ungleichbehandlung geboten wäre. Vielmehr erscheint die Ungleichbehandlung willkürlich.[10] § 105 Nr. 1 SGB VIII verletzt mithin den Gleichbehandlungsgrundsatz.
§ 105 Nr. 1 SGB VIII verlangt als Folge der Tathandlung, dass das Kind oder der Jugendliche in seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet wird. Es bestehen Bedenken mit Blick auf die Bestimmtheit dieses Passus. Vorab sei die Bemerkung gestattet, dass der Gesetzgeber den Strafverfolgungsbehörden mit Blick auf diese "Entwicklungen" wohl einiges an außerjuristischem Fachwissen unterstellt, denn geschützt ist nicht "statisches", d.h. zu einem gewissen Zeitpunkt existentes Gut wie Leben, körperliche Unversehrtheit oder Eigentum, sondern die Ungestörtheit eines Verlaufs, eines Prozesses. Wollen Gerichte, Staatsanwaltschaften und Polizei die entsprechende Gefährdung eines derartigen Verlaufs feststellen, müssen bei ihnen jedenfalls Grundkenntnisse in Medizin, Kinder- und Jugendpsychologie, Pädagogik etc. vorhanden sein, um die konkrete körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen hinreichend sicher vorhersehen und abschätzen zu können. Daran mag man Zweifel haben.
Zur Bestimmtheit: Das BVerfG hat in seinem prominenten Beschluss vom 23. Juni 2010[11] zur Strafbarkeit der Untreue (§ 266 StGB) die Bestimmtheit von Strafnormen wie folgt charakterisiert: "Für den Gesetzgeber enthält Art. 103 Abs. 2 GG in seiner Funktion als Bestimmtheitsgebot[…]die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen [...]. Die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze, dass der Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen [...]und dass er Rechtsvorschriften so genau fassen muss, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist (Grundsatz der Normenklarheit[...]), gelten danach für den besonders grundrechtssensiblen Bereich des materiellen Strafrechts besonders strikt. Das Bestimmtheitsgebot verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass die Normadressaten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht[...]".[12]
Ob der Gesetzgeber die drei "Entwicklungen" sprachlich hinreichend bestimmt formuliert hat, ist daran zu messen, ob sich ihr Inhalt mit Hilfe der herkömmlichen Methoden der Gesetzesauslegung erschließen lässt. Das ist letztlich wohl noch zu bejahen. "Körperliche und geistige Entwicklung", beide Bestandteil des § 22 Abs. 3 SGB VIII, lassen sich wörtlich auslegen als Entfaltung der physischen und intellektuellen Anlagen des Kindes oder Jugendlichen. Bei der schwierigeren "sittlichen Entwicklung" hilft ein Blick in den "Duden", der als Ersatzbegriffe für "sittlich" die Wörter "ethisch" und "moralisch" anbietet, weshalb man – zugegeben: etwas simpel – die "sittliche Entwicklung" gleichsetzen kann mit Ausreifung des Charakters des Kindes oder Jugendlichen hin zu einem "guten Menschen", also einem, der sich im Leben von Ethik und Moral leiten lässt. Ein wenig Grübeln und Wortspielerei helfen also über die vagen Beschreibungen der Gefährdungsobjekte hinweg, und man mag sich darunter etwas vorstellen können. Deshalb verletzt § 105 Nr. 1 SGB VIII das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG an dieser Stelle noch nicht.
Anders bei der Beschreibung der Gefährdung. § 105 Nr. 1 SGB VIII setzt voraus, dass das Kind oder der Jugendliche in der entsprechenden Entwicklung "schwer gefährdet" wird. Es braucht für die Strafbarkeit kein Schaden für die körperliche, geistige oder sittliche Entwicklung eingetreten sein, sondern lediglich die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für die Entwicklung bestehen. Dabei genügt dem Gesetzgeber die einfache Gefährdung nicht, vielmehr verlangt er eine schwere. Wo nun die Grenze verlaufen soll zwischen der "einfachen" und "schweren" Gefährdung, ist nicht ersichtlich. Zudem spricht das Gesetz einschränkungslos von der "Entwicklung" im Ganzen, weshalb eine bloße Störung, sprich: drohende Verzögerung oder Hemmung des Verlaufs, den Grad der Gefährdung nicht erreicht.[13] Somit muss auch die Abgrenzung der Gefährdung von der Störung gefunden werden. Es wundert nicht, dass das Merkmal wenig aussagekräftige Erläuterungen wie die folgenden produziert: "Das Maß der Gefährdung wird sich im Einzelfall an der jeweiligen körperlichen und/oder psychischen Konstitution des Kindes oder Jugendlichen orientieren müssen. Dabei wird nur individuell beurteilt werden können, ob die Grenze zu einer schweren Gefährdung des Kindes oder Jugendlichen schon erreicht bzw. überschritten ist."[14] "Es wird jeweils eine Einzelprüfung unter Berücksichtigung der gesamten Umstände erforderlich sein, um das Vorliegen der genannten Tatbestandsmerkmale feststellen zu können."[15] Derlei Sätze laufen der oben[16] zitierten Vorgabe des BVerfG, die Normadressaten einer Strafvorschrift müssten im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschrift voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht, diametral zuwider.
Die zuletzt zitierten Autoren, Wache/Lutz, sind die einzigen, die zur Veranschaulichung der "schweren Gefährdung" konkrete Beispiele bringen: Eine schwere Gefährdung der körperlichen Entwicklung liege vor, wenn die hygienischen Bedingungen in der Wohnung der Pflegeperson oder der Einrichtung schwere gesundheitliche Schäden verursachen könnten, eine schwere Gefährdung der geistigen Entwicklung könne vorliegen, wenn Jugendsekten, die als gefährdend eingestuft sind, Einfluss auf Kinder und Jugendliche nähmen. Warum und nach Maßgabe welcher Kriterien die von ihnen ersonnenen schweren gesundheitlichen Schäden die körperliche Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen nicht nur stören, sondern gefährden und das auch noch schwer, erklären Wache/Lutz jedoch nicht. Das aber wäre notwendig, denn die meisten Erkrankungen, auch die ernsthaften, verhindern nach ihrer Ausheilung nicht die vollständige körperliche Entwicklung eines Kindes oder Jugendlichen, und nur eine dahingehende "schwere Gefahr" erfüllt den Tatbestand, weil – wie gesagt – die Wahrscheinlichkeit einer reinen Verzögerung nicht genügt. Ebenso wenig differenzieren die Autoren die Gefährdungsgrade im Zusammenhang mit den Jugendsekten, was augenscheinlich daran liegt, dass eine nach klaren Kriterien vorzunehmende Differenzierung nicht möglich ist.
Nach hiesiger Auffassung ist der Passus "ein Kind oder einen Jugendlichen in seiner körperlichen, geistigen oder sittlichen Entwicklung schwer gefährdet" auch unter Berücksichtigung der "Vielgestaltigkeit des Lebens", der der Gesetzgeber Herr werden muss,[17] mit Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu vereinbaren. "Körperliche, geistige und sittliche Entwicklung" mögen als Begriffe noch hinreichend klar weil im Wortlaut auslegbar sein; der Übergang von der Störung der Entwicklung hin zur einfachen und schweren Gefährdung ist indes undefinierbar und die Strafbarkeit für den Bürger nicht vorhersehbar. § 105 Nr. 1 SGB VIII hat an dieser Stelle keine rechtsstaatliche Kontur und ist deshalb auch diesbezüglich grundgesetzwidrig.
Mit Blick auf die Herbeiführung der "schweren Gefährdung" muss der Täter leichtfertig handeln. Dies ist der Fall, wenn ihm die Gefährlichkeit seines Tuns unschwer erkennbar war, er also die ihm obliegenden Sorgfaltspflichten gröblich missachtet hat.[18] Das Besondere an § 105 Nr. 1 SGB VIII ist, dass er nur die leichtfertige Begehungsweise bestraft, nicht aber die vorsätzliche. Das folgt daraus, dass der Gesetzgeber sich – wie anfangs erwähnt – an der Vorschrift des § 12 Abs. 4 JÖSchG a.F. orientieren wollte, dies aber nicht bis ins letzte Detail umgesetzt hat. Er hat das Wort "wenigstens", in § 12 Abs. 4 JÖSchG a.F. wie im heutigen § 27 Abs. 2 Nr. 1 JuSchG vorhanden, in die Vorschrift nicht eingefügt. Rechtshistorisch kommt einem die frühere Fassung des Raubes mit Todesfolge (§ 251 StGB) in den Sinn, in der der Begriff "leichtfertig" ebenfalls bis zur Reform am 1. April 1998 alleine dastand[19] und man sich in Rechtsprechung und Literatur uneins war, ob der mit Todesvorsatz handelnde Täter den Tatbestand des § 251 StGB erfüllte
oder wegen Art. 103 Abs. 2 GG eben nicht.[20] Der grundlegende Unterschied zwischen § 251 a.F. StGB und § 105 Nr. 1 SGB VIII besteht allerdings darin, dass man bei ersterem erwägen konnte, ihn als Anwendungsfall des § 18 StGB anzusehen, was entsprechend zur Folge hatte, dass das Wort "wenigstens" hineingelesen werden konnte.[21] Diese Möglichkeit gibt es bei § 105 Nr. 1 SGB VIII aus zwei Gründen nicht: Erstens setzt § 18 StGB voraus, dass ein Grunddelikt existiert, das aus einer Straftat besteht; eine Ordnungswidrigkeit, hier in Form des § 104 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGB VIII, genügt nicht, weil § 18 StGB die besondere Folge an eine "schwerere Strafe” bindet, woraus folgt, dass das Gesetz an die "Tat” auch ohne die besondere Folge eine "Strafe" knüpft, nur eben eine leichtere.[22] Zweitens muss die von § 18 StGB vorausgesetzte besondere Folge die Verletzung eines Rechtsguts sein, Gefährdungsfolgen wie § 105 Nr. 1 SGB VIII sie regelt, sind dafür nicht ausreichend.[23] Dies zeigt etwa das Verkehrsstrafrecht: Wäre die in § 315c Abs. 1 StGB genannte Gefährdung eine "besondere Folge” i.S.d. § 18 StGB, könnte der Fall, dass jemand eine vorsätzliche Trunkenheit im Verkehr begeht und dabei fahrlässig die genannte Gefahr schafft, bereits von §§ 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a, 18 StGB erfasst werden. § 315c Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 StGB hätte keinen eigenen Anwendungsbereich.[24]
Die Feststellung, dass § 105 Nr. 1 SGB VIII ausschließlich die Begehungsform der Leichtfertigkeit bestraft, weil das Wort "wenigstens" in ihm nicht vorhanden ist und eine Anwendung des § 18 StGB ausscheidet, zieht einen bedeutenden Wertungswiderspruch nach sich:[25] Die schwächere Form des Fehlverhaltens (Leichtfertigkeit) wird bestraft, die stärkere (Vorsatz) nicht. Der Täter könnte im Ermittlungsverfahren oder vor Gericht einräumen, die Gefährdung des Kindes oder Jugendlichen bewusst in Kauf genommen zu haben und müsste deshalb freigesprochen werden. Ein schlechterdings ungereimtes Ergebnis – aber von § 105 Nr. 1 SGB VIII nicht zu vermeiden.
Im Rahmen des § 105 Nr. 2 SGB VIII ist es der Begriff der Beharrlichkeit, der zur Kritik einlädt. Es genügt nicht die "Wiederholung" des Gesetzesverstoßes, sondern es muss eine "beharrliche" sein. Es handelt sich im Rahmen des § 105 Nr. 2 SGB VIII um ein subjektives Tatbestandsmerkmal, denn das dem Merkmal oft zugeschriebene objektive Element der "Wiederholung" wird in § 105 Nr. 2 SGB VIII als Tathandlung genannt. Auch der Beharrlichkeit ist "ein beträchtliches Maß an Unbestimmtheit"[26] zu attestieren. "Beharrlich" bedeutet laut "Duden" "ausdauernd", "hartnäckig", "standhaft", "unbeirrt", "unentwegt", "unermüdlich", "verbissen" oder "zäh". Deshalb ist es als Auslegungsergebnis vertretbar, das Merkmal zu bejahen, wenn der Täter aus Uneinsichtigkeit trotz Belehrung oder Ahndung erneut gegen das Gesetz verstößt, auch bei erstmaliger Wiederholung;[27] oder zu erklären, entscheidend sei, dass die Zuwiderhandlung aus gesteigerter Missachtung oder Gleichgültigkeit erfolge und daher die Gefahr weiterer Verstöße begründe.[28] Jedoch lässt sich das Gewollte rechtssicherer ausdrücken. Man müsste den Begriff "beharrlich" abschaffen und ersetzen durch eine zahlenmäßig bestimmte Häufigkeit von Wiederholungen des Gesetzesverstoßes nach der rechtskräftigen Verhängung eines Bußgeldes gemäß § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB VIII innerhalb eines bestimmten Zeitraums, etwa nach Vorbild des § 176a Abs. 1 StGB. Denn dies sind die objektiven Umstände, die die "Beharrlichkeit" indizieren.
Soweit mit den herkömmlichen Methoden und Quellen zu ermitteln, ist in den 26 Jahren seiner Existenz keine Person aufgrund § 105 SGB VIII verfolgt geschweige denn verurteilt worden (über Gegenteiliges lässt der Autor sich gern aufklären).[29] Das kann daran liegen, dass potentielle Täter sich im Sinne einer negativen Generalprävention[30] haben abschrecken lassen; wahrscheinlicher ist aber, dass den Strafverfolgungsbehörden kein Fall bekannt geworden ist, weil es keine Anwendungsfälle gab oder die wenigen sich auf andere Art und Weise, nämlich auf der Verwaltungsrechtsschiene oder informell, erledigt haben.
Wenn dem so ist, erfüllt §105 SGB VIII aus der Perspektive der Strafzwecke[31] keine Funktion: § 46 Abs. 1 S. 1 StGB erhebt die Schuld des Täters zur Grundlage der Strafe. Strafnormen, die nicht angewendet werden und deshalb keine strafrechtliche Schuld produzieren, können auch keine Schuld ausgleichen. Mit Blick auf spezialpräventive Wirkungen von Strafe (§ 46 Abs. 1 S. 2 StGB) ist festzustellen, dass Täter, die sich eine Bestrafung nach § 105 SGB VIII als Warnung dienen lassen könnten, entweder nicht vorhanden sind oder nicht verfolgt werden, weshalb sie auch nicht abgeschreckt oder vom Funktionieren der Rechtsordnung beeindruckt werden können. Generalpräventiv gedacht, steht von § 105 SGB VIII eine Wirkung auf die Rechtsgemeinschaft nicht zu erwarten, denn eine Norm, die nicht angewandt wird, bringt den beschworenen "Prozess der Normstabilisierung"[32] nicht in Gang.
§ 105 SGB VIII verstößt in Teilen gegen das Grundgesetz, produziert elementare strafrechtliche Wertungswidersprüche und ist in der Praxis bedeutungslos. Vielleicht sollte der Gesetzgeber darüber nachdenken, die Vorschrift grundlegend zu reformieren, womöglich gar, sie ersatzlos zu streichen.
[*] Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht, Schwerpunkt Sozialrecht, an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg.
[1] BGBl. I, S. 1163.
[2] S. "Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts (Kinder- und Jugendhilfegesetz – KJHG) vom 1. Dezember 1989, BT-Drs. 11/5948, S. 114.
[3] "Träger einer Einrichtung" kann eine Privatperson, eine Personengesellschaft oder eine juristische Person des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts sein, s. BeckOK SozR/Winkler SGB VIII § 45 Rn. 2.
[4] Näheres über Voraussetzungen, Ausnahmen und weitere Einzelheiten findet sich in § 43 Abs. 2, Abs. 3 SGB VIII und Landesrecht (etwa § 1 Abs. 7 KiTAG Baden-Württemberg), § 44 Abs. 1 S. 2, Abs. 2–4 SGB VIII sowie § 45 Abs. 1 S. 2, Abs. 2–7 SGB VIII.
[5] Es handelt sich um eine sog. Blankettnorm, weil die eben erörterten Merkmale sich erst aus der Prüfung des § 104 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 SGB VIII mitsamt der entsprechenden Vorschrift in den §§ 43 ff. SGB VIII ergeben (s. allgemein Schlösser/Mosiek HRRS 2010, 424, 426). Mögen manche Blankettnorm-Dickichte mit rechtsstaatlich-vorhersehbarem Strafrecht nichts gemein haben (näher mit anschaulichen Beispielen Bode/Seiterle ZIS 2016, 91, 173; Hoven NStZ 2016, 377), ist § 105 Nr. 1 SGB VIII diesbezüglich in Schutz zu nehmen. Denn mit Hilfe der Lektüre des Textes der verschiedenen Normen ist jedenfalls der Umriss des Merkmals "Handeln ohne Erlaubnis" zu ermitteln, was daran liegt, dass es sich bei § 105 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VIII um eine sog. Binnenverweisung handelt, in der das Objekt, auf das verwiesen wird, in demselben Regelungswerk enthalten ist wie die verweisende Vorschrift (s. Hohmann ZIS 2007, 38, 39).
[6] S. Kunkel, in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 6. Aufl. (2016), § 105 Rn. 3.
[7] Zu den mit ihr zusammenhängenden Problemen und Bedenken näher unter b).
[8] Vorbildhaft dazu Hardtung/Putzke, Examinatorium Strafrecht (2016), Rn. 868.
[9] S. BT/Drs. 11/5948, S. 146.
[10] S. dazu BVerfG NJW 2012, 141 = HRRS 2011 Nr. 1127; BVerfG NJW 2013, 40 = HRRS 2012 Nr. 1006; Epping, Grundrechte, 6. Aufl. (2014), Rn. 794 ff.
[11] S. BVerfG NJW 2010, 3209, 3210 = HRRS 2010 Nr. 656.
[12] Freilich hat das Gericht sich in dem Beschluss selber von seinen Kriterien distanziert, denn es hat § 266 StGB mit der Begründung für verfassungsgemäß erklärt, die Gerichte hätten ihn in jahrzehntelanger Rechtsprechung konkretisiert. Dazu treffend Honsell, in: FS Roth (2011), S. 277, 279: "Das Gericht hat den Sinn des Satzes missverstanden, der ja gerade verlangt, dass die Norm selbst hinreichend determiniert ist, weshalb es nicht genügt, wenn sie erst im Wege einer richterlichen Auslegung konkretisiert werden muss, welche die Maßstäbe von woanders her nimmt und die noch vager ist als eine Analogie."
[13] S. auch Kunkel, a.a.O. (Fn. 6), § 105 Rn. 2.
[14] Kunkel, a.a.O. (Fn. 6), § 105 Rn. 3.
[15] Wache/Lutz, in: Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze, 207. EL (März 2016), § 105 SGB VIII Rn. 3.
[16] S. bei Fn. 11.
[17] S. BVerfG NJW 2010, 3209, 3210.
[18] Näher dazu Wegner HRRS 2012, 510, 511.
[19] Die Vorschrift wurde geändert im Zuge des Sechsten Strafrechtsreformgesetzes vom 26. Januar 1998, BGBl. I, S. 164.
[20] Für Tatbestandsmäßigkeit: BGHSt 35, 257, 258; 39, 100, 103 ff.; Kindhäuser, in: NK-StGB, 4. Aufl. (2013), § 251 Rn. 8; dagegen: BGHSt 26, 175; Rudolphi JZ 1988, 880, 881.
[21] So die Befürworter der Tatbestandsmäßigkeit.
[22] Näher Hardtung, in: MüKoStGB, Band 1, 2. Aufl. (2011), § 18 Rn. 5 m.w.N.
[23] S. Hardtung, a.a.O. (Fn. 22), § 18 Rn. 11.
[24] S. Noak JuS 2005, 312, 313.
[25] Dies jedenfalls, wenn man mit der h.M. im Strafrecht annimmt, dass Vorsatz und Fahrlässigkeit bzw. Leichtfertigkeit in einem Aliud-, nicht einem Plus/Minus-Verhältnis zueinander stehen. S. dazu BGHSt 4, 340, 343; Hardtung, in: MüKoStGB, Band 3, 2. Aufl. (2012), § 222 Rn. 1; Herzberg, NStZ 2004, 593, 595 ff.
[26] Mitsch NJW 2007, 1237, 1240 (in Bezug auf § 238 StGB).
[27] Kunkel, a.a.O. (Fn. 6); § 105 Rn. 4.
[28] S. BeckOK StGB/Ziegler StGB § 184f Rn. 5.
[29] Angesichts dessen mutet die Bemerkung Kunkels, a.a.O. (Fn. 6), § 105 Rn. 3., im Bereich der jungen Volljährigen bestehe eine Strafbarkeitslücke, durchaus merkwürdig an.
[30] Zu ihr Streng, in: NK-StGB (Fn. 20), § 46 Rn. 42 ff.
[31] Zu ihnen Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil I, 4. Aufl. (2006), § 3 Rn. 1 ff.
[32] Näher Frister, in: NK-StGB (Fn. 20), Nach § 2 Rn 88.