HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2016
17. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Bedingter Vorsatz – ein Wertbegriff

Von RiAG Dr. Lorenz Leitmeier, München

Ingeborg Puppe und Thomas Fischer fochten einen Streit über den bedingten Vorsatz und seine Rechtsnatur aus. Puppe behauptete[1], dass es eine Rechts- und keine Tatsachenfrage sei, ob ein Täter mit bedingtem Vorsatz handle, und warf dem BGH vor, Tatsachen- und Werturteile nicht sauber zu trennen. Fischer hielt dagegen[2], dass Puppe dieses Ergebnis mit "Sprach-Pirouetten", "willkürlichen Behauptungen" und dem "festen Willen zum Missverständnis" erziele. Bedingter Vorsatz sei die

innere Einstellung des Täters zu der Erkenntnis, dass seine Handlung zu einem Erfolg führen könne – und damit eine Tatsachenfrage. Höchst praxisrelevant hängt natürlich an dieser Entscheidung (Tatsachen- oder Rechtsfrage?), ob der Zweifelsgrundsatz gilt.

I. Der Fall

Ein junger Mann trifft sich mit seiner (Noch-?)Freundin zur "klärenden Aussprache", sie steigt in sein Auto und erklärt ihm, dass die Beziehung definitiv beendet sei. In einer Mischung aus Frust, Ärger, Wut, Unglauben und Hoffnung, alles bezogen auf seine Beziehung, fährt der Mann mit einer Geschwindigkeit zwischen 60 und 70 km/h durch eine unübersichtliche Kurve, die er kennt und mit 30 km/h locker, mit 50 km/h angestrengt schafft. Er wird aus der Kurve getragen, die Freundin verletzt sich.

Im Prozess sagt er auf die Frage, was er sich gedacht habe: "Nicht viel, ehrlich gesagt nichts." - Es klingt glaubhaft. Als er gefragt wird: "Wenn Sie im nachhinein überlegen – haben Sie darauf vertraut, dass nichts passiert, oder haben Sie in Kauf genommen, dass Ihre Freundin verletzt wird?", antwortet er: "Ehrlich gesagt: beides." - Auch das klingt glaubhaft.

Handelte der Mann nun mit bedingtem Vorsatz, § 315c Abs.1 Nr. 2 d StGB? Oder bewusst fahrlässig, § 315c Abs.3 Nr. 1 StGB?

II. Die Theorie

Die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit ist bekanntlich schwierig, die Theorien sind nicht mehr zu überschauen[3], es gibt im Kern zwei Gruppen:

Die "kognitiven Theorien" entscheiden danach, was der Täter über den möglichen Erfolg weiß, für wie wahrscheinlich er ihn hält.

Die "voluntativen Theorien" verlangen darüber hinaus ein "Willens-Element". Begrifflich ist je nach Untertheorie erforderlich, dass der Täter "einverstanden ist" mit dem Erfolg[4], ihn "in Kauf nimmt" oder "ernst nimmt"[5], sich "damit abfindet", ihn "billigt" oder "nicht vermeiden will"[6]. Nach (wohl) herrschender Ansicht muss der Täter die Tatbestands­verwirklichung ernsthaft für möglich halten und sich mit ihr abfinden[7].

Die Rechtsprechung – für einen Tatrichter in der täglichen Praxis natürlich entscheidend – nimmt bedingten Vorsatz an, wenn der Täter den Erfolg als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und dabei billigend in Kauf nimmt[8], verlangt also ein voluntatives Element[9]. Ein Täter kann einen Erfolg auch "billigen", wenn der ihm "an sich" höchst unerwünscht ist[10].

Entscheidend für den Ausgangsfall ist also die Frage:

Hat der junge Mann, in die Kurve biegend, einen Unfall und damit Verletzungen seiner Beifahrerin "billigend in Kauf genommen", auch wenn ihm das "an sich" höchst unerwünscht war?

Ein Tatrichter, der hier noch keine Lösung hat, mag die bekannte Faustformel heranziehen und sich fragen, ob der Mann beim Einfahren in die Kurve dachte: "Wird schon gutgehen!" – dann handelte er bewusst fahrlässig; oder dachte: "Na, wenn schon!" – dann handelte er bedingt vorsätzlich.

Wer die Antwort jetzt noch immer nicht kennt, muss, da er eine "innere Tatsache" nicht aufklären kann, nach dem Zweifelsgrundsatz eigentlich Fahrlässigkeit annehmen.

Mit Sicherheit aber nehmen viele Richter, obwohl auch sie nicht näher an die "psychische Tatsache" herankommen, bedingten Vorsatz an – und das mit guten Gründen.

Betrachtet man nämlich das theoretische Rüstzeug, mit dem man den Ausgangsfall lösen soll, stellt man fest: Das Werkzeug kollidiert an der Wirklichkeit, die Theorie passt nicht zur Praxis. Es ist, als arbeite man auf der Baustelle, habe aber einen Notarztkoffer.

III. Die Wirklichkeit

Die Wirklichkeit fügt sich leider nicht dem Modell, der Täter denkt entweder zu wenig, zu viel, oder das Falsche:

1. Keine "psychische Tatsache"

Viele Täter denken sich im Moment der Tatausführung, was den möglichen Erfolg betrifft: nichts.

Auch der junge Autofahrer hat eine Flut von Gedanken im Kopf, die sich aber auf seine Beifahrerin beziehen, die Beziehung, das Ende der Beziehung, einen erhofften Neuanfang. Was einen möglichen Unfall und Verletzungen seiner Freundin betrifft, denkt er aber tatsächlich nichts, weder: "Wird schon gutgehen!", noch: "Na, wenn schon!".

Wie soll man als Tatrichter aber eine Tatsache feststellen, wenn es keine gibt? Man kann juristisch rigoros allein die These vertreten, dass sich jeder zu einem Erfolg, den er als möglich erkennt, eine Meinung bilden muss, wie latent auch immer. Dann wird der Fahrer rechtlich gezwungen, einen Standpunkt einzunehmen, wie er zu

Verletzungen seiner Beifahrerin steht. Ehrlicherweise ist das aber bestenfalls Fiktion, selbst Psychologen dürften daran scheitern, diesen Standpunkt zu ermitteln.

Hier hat Puppe Recht, wenn sie (für Tötungsdelikte) schreibt: "Jedenfalls im Moment der Tatausführung befasst sich der Täter nicht mit der Frage, ob er den Eintritt des Todes des Opfers in Kauf nehmen, sich damit abfinden oder ernsthaft und nicht nur vage auf sein Ausbleiben vertrauen will. Die Problematik der Anwendung dieser Beschreibung des Willenselements des Vorsatzes besteht also nicht, wie viele Wissenschaftler meinen, darin, dass der Richter dem Täter während der Tatausführung nicht in den Kopf schauen kann, sondern darin, dass er das, was er sucht, ein Sich-Abfinden mit dem Tod oder ein ernsthaftes Vertrauen auf sein Ausbleiben, in diesem Kopf im Moment der Tatausführung gar nicht finden würde."[11]

Wenn sich ein Täter tatsächlich keine Gedanken macht, dann ist in diesen Fällen objektiv keine Tatsache zu ermitteln. Auch der Zweifelssatz hilft nicht weiter, es gibt nämlich weder die ungünstige Tatsache (Vorsatz) noch die günstige (Fahrlässigkeit) – es gibt gar keine. Wer gar nichts denkt, denkt also eigentlich zu wenig, um verurteilt zu werden. Soll man dann aber freisprechen?

Selbstverständlich sind die Verurteilungen in diesen Fällen, da sich der Täter "nichts" denkt, zutreffend. Sie zeigen jedoch deutlich, dass keine Tatsache ermittelt wird, sondern eine Wertung vorgenommen wird – und zwar vom Richter.

Auch hier liegt Puppe richtig: "Wenn wir die Redeweise von dem in Kauf nehmen des Erfolges oder dem ernsthaften Vertrauen auf sein Ausbleiben aufrechterhalten wollen, können wir sie nur normativ verstehen. Sie ist keine Tatsachenfeststellung, sondern eine Zuschreibung, eine Bewertung des Verhaltens des Täters dergestalt, dass der Richter sich für berechtigt hält, dem Täter ein Billigen oder Sich-Abfinden mit dem Erfolg zuzuschreiben, in dem Sinne: Wer in dieser Situation, mit diesem Wissen, dies tut, der findet sich mit dem Tod seines Opfers ab."[12]

2. Beide "psychischen Tatsachen"

Wer "nichts" und damit "zu wenig" denkt, kann also eigentlich nicht verurteilt werden; wer "zu viel" denkt, aber auch nicht: Häufig ist es nämlich so, dass der Täter ernsthaft darauf vertraut, es werde nichts passieren, er sich aber, wenn sein Vertrauen enttäuscht wird, auch mit dem Erfolg abfindet, ihn also "in Kauf nimmt" – obwohl der Erfolg selbstverständlich "an sich" unerwünscht ist.

Auch der Fahrer im Ausgangsfall kann eingangs der Kurve, wenn er sich einen Unfall und mögliche Verletzungen seiner Freundin tatsächlich vorstellt, ohne weiteres denken: "Wird schon gutgehen – und wenn nicht: Na, wenn schon!"

Ehrlicherweise muss man das sogar als die Regel ansehen, denn: Auch wer ernsthaft darauf vertraut, dass ein Erfolg nicht eintritt, nimmt ihn, falls er doch eintritt, zwingend immer in Kauf. Was sollte er auch anderes tun, wenn das eintritt, wofür er verantwortlich ist? Auch bei einer Wahrscheinlichkeit von 10% kann man denken: "Wenn sich dieses (geringe) Risiko verwirklicht, nehme ich es halt in Kauf." Und bis heute kann (für die Fahrlässigkeit) niemand erklären, wie man mit einer Folge, die möglich ist und eintritt, nicht einverstanden sein soll? Wer mit etwas nicht einverstanden ist, kann es ablehnen, zum Beispiel einen Vertrag. Ein unsicheres Ereignis kann man aber nicht ablehnen, man kann allenfalls hoffen, dass es nicht eintritt – so wie die meisten Täter, die bedingten Vorsatz haben.

Wie aber soll der Tatrichter nun urteilen, wenn die "psychische Tatsache" ("Wie stand der Täter zum möglichen Erfolg, welches Werturteil traf er?"), nicht mehr im Grenzbereich von Vorsatz und Fahrlässigkeit liegt – sondern in der Schnittmenge?

Auch hier hilft der Zweifelsgrundsatz nicht weiter: Man kann nicht in dubio Fahrlässigkeit annehmen, wenn der bedingte Vorsatz feststeht.

3. Falsche "psychische Tatsache"

Nun gibt es schließlich noch Fälle, in denen ein Täter wegen der Vorsatztat verurteilt wird, obwohl er "fahrlässig denkt".

Dies zeigt sich, wenn man einen Modellversuch mit idealen Bedingungen annimmt, bei dem die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts sogar statistisch bekannt ist.

Man muss sich nur (modifiziertes) "Russisch Roulette" vorstellen, bei dem jemand (für Geld, auf das es ihm ankommt) auf einen Menschen oder ein Tier schießt, und weiß, wie viele Patronen in der Kammer sind.

Wenn in einer von (theoretisch) zehn Kammern eine Patrone ist, wird der Schütze mit 10% Wahrscheinlichkeit ein Tötungsdelikt oder eine Sachbeschädigung begehen, bei neun Patronen in den Kammern mit 90% Wahrscheinlichkeit. Der Unterschied zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit entscheidet über viele Jahre Freiheitsstrafe oder über die Strafbarkeit selbst.

Wer bei einer Wahrscheinlichkeit von 90% abdrückt, handelt bedingt vorsätzlich – und zwar unabhängig davon, was er denkt. Selbst wenn er nach Selbstbild ein Sonntagskind ist, bei dem "immer alles gutgeht" und er tatsächlich ernsthaft vertraut, dass es nur klickt, aber nicht kracht, handelt er vorsätzlich. Er kann nämlich (normativ) nicht mehr ernsthaft darauf vertrauen, dass sich kein Schuss löst. Dieser Modellfall zeigt, dass es in einigen Fällen gar nicht darauf ankommt, was der Täter denkt.

Und wie sollte man entscheiden, wenn zwei bei identischer Wahrscheinlichkeit, bei absolut gleichem Risiko abdrücken – kann man sie unterschiedlich bestrafen? Sollte man tatsächlich darauf abstellen, dass der eine denkt: "Bei 40 Prozent geht das sicher gut.", der andere: "Bei 40 Prozent kann ich mir nicht vorstellen, dass ich noch Glück habe."?

Unabhängig von ihrer inneren Gefühlslage sind beide Täter bei perfekt aufgeklärten, objektiv identischen Bedingungen auch gleich zu bestrafen. Über das Wissen hinaus, dass der Erfolgseintritt möglich ist, gibt es keine "innere Tatsache" mehr, die eine Rolle spielt.

Tatsächlich unterscheiden sich deshalb die kognitiven und die voluntativen Theorien gar nicht: Bei näherer Betrachtung gibt es nur eine große Theorie, die sich in ungezählte Untergruppen teilt, in nicht mehr überschaubare Schattierungen, Nuancierungen und Abstufungen, in "Wahrscheinlichkeitstheorie"[13], "Gleichgültigkeitstheorie"[14], "Vereinigungstheorie"[15], "Möglichkeitstheorie"[16], "Entscheidungstheorie"[17]. Letztlich aber tun alle das Gleiche: Aus objektiven (Gefährlichkeit der Handlung, Risiko, Wahrscheinlichkeit etc.) und subjektiven Umständen (Kenntnis des Täters von der Gefahr, Erfahrung in solchen Situationen etc.) die – tatsächliche – Grundlage zu ermitteln, an die sich das Werturteil "Billigung des Erfolgs" anschließt.

Die "Billigung" selbst, das "Inkaufnehmen", das "Sich-Abfinden", das "Hinnehmen" – all das sind normative, wertende, rechtliche Begriffe, die man jemandem zuschreiben kann, die der aber niemals tatsächlich verwirklichen kann.

Bei 90% Eintrittswahrscheinlichkeit kann niemand auf das Ausbleiben "tatsächlich" vertrauen, den Erfolg "tatsächlich" nicht billigen. Er billigt ihn, weil die rechtliche Zuschreibung das – normativ – so festlegt.

IV. Bedingter Vorsatz: Tatsachen- oder Rechtsbegriff?

1. Reine Tatsache

Eine reine Tatsache kann der bedingte Vorsatz also nicht sein, weil eine solche, wie von Puppe gezeigt, in vielen Fällen gar nicht vorhanden ist: "Es fragt sich also, ob das Ergebnis, dass der Täter sich mit dem Erfolg abgefunden habe, eine Tatsachenbehauptung sein soll, oder ein Werturteil. Nach unserer Feststellung, dass die Formel als Tatsachenbehauptung nicht sinnvoll bzw. die Tatsachen, die behauptet werden sollen, nicht vorhanden sind, kann es nur ein Werturteil sein."[18]

Hier liegt Fischer falsch, wenn er schreibt: "Das alles beweist aber keineswegs, dass Puppe die These widerlegt habe, es handle sich beim voluntativen Vorsatzelement um ein ´vom Täter zu treffendes Werturteil´, also um einen ´psychischen Befund´, also um eine (innere) Tatsache."[19] Puppe hat es sehr wohl widerlegt, denn: Wie soll man das "voluntative Vorsatzelement" finden, wenn der Täter keine "voluntative Haltung" einnimmt?

Daran ändert sich nichts, wenn Fischer den Ton verschärft: "Es zeigt nur, dass man mit Wortklauberei und permanentem Perspektivenwechsel zu jedem beliebigen Ergebnis gelangen kann. Denn mit den oben genannten Figurinen, die vom Gefühl zur Wertung, von der Wertung zum Wert, vom Wert zur Dogmatik changieren, ist Puppe schon am Ende ihrer Beweisführung angekommen."[20]

Auch wenn Fischer tobt, das Ergebnis ist bestechend einfach und ganz ohne Perspektivwechsel oder Wortklauberei zu erzielen: Der bedingte Vorsatz kann in vielen Fällen keine Tatsache sein, denn wenn der Täter nichts denkt, gibt es die gesuchte Tatsache nicht.

Eine reine Tatsache kann der bedingte Vorsatz auch aus folgendem Grund nicht sein: Wenn jemand einen Erfolg billigt, findet er ihn im Grunde in Ordnung. Er soll das aber tun können, obwohl der Erfolg "höchst unerwünscht ist". Etwas tatsächlich in Ordnung finden, was einem tatsächlich höchst unerwünscht ist, dürfte aber psychisch die meisten überfordern. In Wahrheit zeigt diese Formel, dass sie normativ zu verstehen ist: Der bedingte Vorsatz ist ein Rechtsbegriff, man kann nur "im Rechtssinne billigen"[21].

2. Reine Wertung

Der bedingte Vorsatz ist aber keine reine Wertung, denn er muss sich nicht nur – wie jede Wertung – auf Tatsachen beziehen, sondern auf hochkomplexe Tatsachen, die einer Gesamtwürdigung zugänglich sind. Es geht nämlich nicht um banale Urteile, ob jemand blonde Frauen "attraktiv" oder grüne Autos "hässlich" findet. Es geht darum, wie jemand in einer Lebenswirklichkeit zu einem möglichen Erfolg steht, also einem unsicheren Ereignis in der Zukunft.

Hier liegt Puppe falsch, wenn sie schreibt: "Ein Werturteil hat nur dann einen Sinn, wenn es die Tatsachen impliziert, die in einem bestimmten Sinne bewertet werden und die Kriterien, nach denen sie bewertet werden. (...) Da jedes Werturteil sich auf bestimmte Tatsachen beziehen muss, gilt für Werturteile nicht die Maxime, sie seien unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles zu fällen."[22]

Dieses Verständnis – eine Tatsache, eine Wertung – ist nur in der Theorie möglich. Die Wirklichkeit aber ist hochkomplex, "eine" Tatsache setzt sich aus unzähligen Elementen zusammen, die sehr wohl einer Gesamtwürdigung zugänglich sind, ja: ohne Gesamtwürdigung gar nicht denkbar sind.

Hier liegt Fischer richtig, wenn er schreibt, dass "sich schon in dem Satz, eine ´Berücksichtigung der Umstände des Einzel-

falls´ könne kein Werturteil tragen, eine merkwürdige Vermischung tatsächlicher und wertender Elemente findet (...): Ist zum Beispiel die Behauptung, die Deutsche Fußballnationalmannschaft habe im Länderspiel gegen Chile am 5.3.2014 ´schlecht´ gespielt, ein Werturteil? Ich nehme an: Ja."[23]

Dieses Werturteil, ob ein Fußballspiel schlecht war oder eine Mannschaft schlecht gespielt hat, beruht auf sehr vielen tatsächlichen Faktoren: der Anzahl der Tore, der Zahl der Fouls, der Spielunterbrechungen, Fehlpässe, der gelungenen Dribblings, genauen Flanken, der Gelben und Roten Karten, Fehlentscheidungen des Schiedsrichters, der Spannung und so fort.

Diese ganzen Faktoren kann man isoliert erheben – was ja inzwischen mit wissenschaftlicher Akribie erfolgt –, das Gesamturteil "gut" oder "schlecht" beruht dann aber auf einer Gesamtwürdigung aller Tatsachen. Was sollte man auch sonst tun, wenn zwar viele Tore gefallen sind und viele gelungene Dribblings dabei waren (das Spiel also "gut" sein müsste), es dafür aber sehr viele Fouls und Spielunterbrechungen gab?

3. Tatsachen und Wertung

Auch der "bedingte Vorsatz" beruht darauf, dass an die Gesamtwürdigung aller (ermittelten) Tatsachen die normative Zuschreibung "Billigung" angeschlossen wird.

Sehr schön findet sich das exemplarisch in einem Kommentar zum StGB: "Wann ein hinreichendes ´Billigen´ vorliegt, wird realistischerweise zumeist nicht als feststehender psychologischer Befund festgestellt, sondern anhand von (insbesondere auch objektiven) Kriterien ´zugeschrieben´."[24]

Solche Kriterien sind: Die Kognition (je sicherer die Kenntnis, desto eher wird der Erfolg in Kauf genommen), die objektive Gefährlichkeit der Handlung, die Wahrnehmungszeit (Handeln in Ruhe oder spontan?), das Gefahr­ver­mei­dungs­verhalten, die emotionale Nähe zwischen Täter und Opfer, die Dynamik des Geschehens (kann der Angriff überhaupt "schonend dosiert" werden?), ein (fehlendes) nachvollziehbares Motiv.[25]

Trotz dieser Kriterien ist aber letztlich "eine Gesamt­betrachtung der Tat unter Einbeziehung aller – auch über den Gefahrengrad der Handlung hinausgehenden – Umstände erfor­derlich, so z.B. hochgradige Alkoholisierung und affektive Erregung, extrem bedrohliche und beängstigende Kampf­situ­ationen, eine sehr einfach strukturierte Täterpersönlichkeit mit eingeschränktem ´sozialen und gnoseologischen Horizont´ oder besondere Jugend des Täters."[26]

Bei den Tötungsdelikten "ist zu berücksichtigen, dass grundsätzlich ein Schluss von der (vom Vorsatz umfassten) Lebensgefährlichkeit des Handelns auf bedingten Tötungsvorsatz möglich sein kann."[27]

Es geht also um einen (logischen) Schluss, nicht um eine feststehende Tatsache.

Im Ergebnis ist der bedingte Vorsatz ein Zusammenwirken von Tatsachen und Wertung: Der Richter muss die Tatsachen so genau wie möglich ermitteln, hierbei gilt der Zweifelsgrundsatz. In dubio ist der junge Mann also mit 60 km/h (und nicht mit 70 km/h) gefahren, war beim "Russisch Roulette" in der Kammer also nur eine Patrone.

Ist der Sachverhalt dann so gut wie möglich ermittelt und steht er als Grundlage fest, muss der Richter seine Wertung anschließen, seine Zuschreibung "bedingter Vorsatz" oder "bewusste Fahrlässigkeit". Hier gilt der Zweifelsgrundsatz nicht, was Puppe zurecht konstatiert: "Der Richter ist bei Zweifeln an seiner Wertung also nicht gehalten, sich stets für diejenige Wertung zu entscheiden, die für einen Angeklagten am günstigsten ist. Deshalb ist ein Werturteil nicht empirisch bestreitbar, sondern normativ kritisierbar."[28]

Der bedingte Vorsatz ist also eine Tatsachen- und eine Rechtsfrage, als "Mischform" muss er beiden Voraussetzungen genügen: Die Tatsachen müssen festgestellt, die Zuschreibung muss begründet werden.

In Fischers eigenem Kommentar heißt es zum bedingten Vorsatz: "Der Begriff beschreibt, ohne dass dies in der Rechtsprechung des BGH immer deutlich zum Ausdruck kommt, eine Normativierung des in der Terminologie weiterhin psychologisierenden Ansatzes."[29]

Und deshalb irrt Fischer fundamental, wenn er Puppe vorwirft, sie "möchte, dass die Beurteilung des Vorsatzes eine Rechtsfrage sei. (...) Sie beschließt, die Feststellung zum bedingten Vorsatz sei ´keine Tatsachenfeststellung´, sondern eine Zuschreibung: Der Richter ´hält sich für berechtigt, dem Täter ein Billigen oder Sich-Abfinden zuzuschreiben´."[30]

Zwar ist der bedingte Vorsatz nicht nur Rechtsfrage, sondern auch Tatsachenfeststellung, im übrigen aber hat Puppe Recht.

Fischer stellt sogar die These auf: "Zwar hat kein Richter – auch nicht der Bundesgerichtshof – je behauptet, er ´halte sich für berechtigt, dem Täter ein Billigen usw. zuzu­schrei­ben´ (scil.: auch wenn es nicht gegeben ist). Aber Puppe möchte dies tun."[31]

Auch wenn es kein Richter je behauptet haben sollte: Jeder von ihnen ist berechtigt, dem Täter ein Billigen zuzuschreiben – weil es nicht anders geht. Und in Wahrheit tut das auch jeder Richter, selbst die am BGH. Die Frage, ob jemand einen Erfolg billigt, ist nämlich eine Wertung, die auf einem Tatsachenbefund aufbaut.

Deshalb geht auch Fischers "scilicet: auch wenn es (das Billigen) nicht gegeben ist" ins Leere, sogar doppelt: Zum einen hat Puppe nicht (auch nicht unausgesprochen) behauptet, man dürfe ein Billigen zuschreiben, obwohl es nicht gegeben ist. Vor allem aber ist die Frage nach dem "Billigen" normativ, das Ergebnis kann nicht "gegeben" sein oder nicht.

Wer bei normativen Fragen nach Tatsachen sucht, wird zwingend nichts finden.

Fazit

Bedingter Vorsatz und bewusste Fahrlässigkeit, "In-Kauf-Nehmen" und "ernsthaft Vertrauen", sind Wertbegriffe, sie müssen auf einer ausreichend ermittelten Tatsachengrundlage normativ zugeschrieben werden. Da sie auch normativ sind, sind sie im Ergebnis Rechtsbegriffe, im Tatsachenbereich allein letztlich nicht zu finden: Wenn in einem Revolver fünf Patronen in sechs Kammern sind, kann man tatsächlich so ernsthaft vertrauen, wie man möchte – normativ ist es nicht mehr möglich, ernsthaft darauf zu vertrauen, dass man die eine Kammer erwischt.

Deshalb gilt für den bedingten Vorsatz "Beweisen und Bewerten": Die Tatsachengrundlage (Wie wahrscheinlich ist der Erfolg? Was weiß der Täter darüber?) ist zu beweisen, hier gilt der Zweifelsgrundsatz. Die darauf basierende Zuschreibung "bedingter Vorsatz" ist (mit Argumenten) zu bewerten, hier gilt der Zweifelsgrundsatz nicht. Und damit gilt wie immer in den Geisteswissenschaften: Die Tatsachen zwingen, die Argumente überzeugen.


[1] ZIS 2014, 66.

[2] ZIS 2014, 97.

[3] Zu allen Theorien siehe Kudlich , in: v. Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Beck´scher Online-Kommentar, Strafgesetzbuch, Stand: 8.2.2015, § 15 Rn. 20-25.1 mit zahlreichen Nachweisen.

[4] Maurach /Gössel/ Zipf , Strafrecht, Allgemeiner Teil, Teilband 2, 8. Aufl. 2014, § 22 Rn. 36.

[5] Stratenwerth ZStW 71 (1959), 51, 65.

[6] Kaufmann ZStW 70 (1958), 64, 74.

[7] Lackner /Kühl, Strafgesetzbuch, Kommentar, 28. Aufl. (2014), § 15 Rn 24; Roxin JuS 1964, 53, 61.

[8] Vgl. BGH NStZ 1981, 23; BGH NStZ 1984, 19; BGHSt 36, 1, 9 = NJW 1989, 781, 783; BGH NStZ 1998, 616 m. Anm. Roxin; BGH NStZ 2008, 451 = HRRS 2008 Nr. 475.

[9] BGH NStZ-RR 2008, 239 = HRRS 2008 Nr. 576.

[10] BGHSt 7, 363, 369 = NJW 1955, 1688, 1690.

[11] ZIS 2014, 68.

[12] ZIS 2014, 68 m. zahlr. Nachw.

[13] Schumann JZ 1989, 427, 433; Welzel, Strafrecht 11. Aufl. (1969), 68 ff.

[14] Vgl. Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, Kommentar, 29. Aufl. 2014, § 15 Rn. 84; kritisch Kindhäuser, Gleichgültigkeit als Vorsatz?, in: Jörg Arnold u.a. (Hrsg.), Menschengerechtes Strafen, Festschrift für Albin Eser, 2005, S. 345, 356 ff.

[15] Vogel , in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hrsg.), Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar, Bd. 1, 12. Aufl. (2007), § 15 Rn. 123.

[16] Schröder , Aufbau und Grenzen des Vorsatzbegriffes, in: Festschrift für Wilhelm Sauer, 1949, S. 207.

[17] Philipps , ZStW 85 (1973), 27, 38.

[18] ZIS 2014, 68.

[19] ZIS 2014, 100.

[20] ZIS 2014, 100.

[21] Vgl. BGHSt 7, 363, 369 = NJW 1955, 1688, 1690; Vogel (Fn. 15) § 15 Rn. 106 ff.

[22] ZIS 2014, 67.

[23] ZIS 2014, 97.

[24] Kudlich (Fn. 3), § 15 Rn. 23.

[25] Kudlich (Fn. 3), § 15 Rn. 23.

[26] Kudlich (Fn. 3), § 15 Rn. 25 .

[27] Kudlich (Fn. 3), § 15 Rn. 24.

[28] ZIS 2014, 67.

[29] Fischer , Strafgesetzbuch und Nebengesetze, Kommentar, 63. Aufl. (2016), § 15 Rn. 9a.

[30] ZIS 2014, 100.

[31] ZIS 2014, 100 f.