Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2016
17. Jahrgang
PDF-Download
Von Prof. Dr. Gudrun Hochmayr, Frankfurt (Oder)
Das weitreichende Urteil des EuGH legt aus Anlass eines Vorabentscheidungsersuchens eines italienischen Strafgerichts (I.) dar, dass das Unionsrecht auch ohne ausdrückliche Vorgabe[1] Einfluss auf die strafrechtliche Verjährung hat. Das Erfordernis einer wirksamen und abschreckenden Sanktionierung kann sich auf das gesamte Verjährungsregime auswirken (II.). Zu widersprechen ist allerdings der Feststellung des EuGH, dass diesem Erfordernis Anwendungsvorrang zukomme (III.).
Im Ausgangsverfahren wurde den Beschuldigten vorgeworfen, in den Steuerjahren 2005 bis 2009 eine kriminelle Vereinigung gegründet oder sich daran als Mitglied beteiligt zu haben. Ihr Zweck habe darin bestanden, über Scheingesellschaften Rechnungen zu erstellen, in denen Inlandsverkäufe von Champagner fälschlicherweise als innergemeinschaftliche Lieferungen ausgewiesen wurden. Das Unternehmen, an das der Champagner geliefert wurde, habe unrichtige Jahres-Mehrwertsteuererklärungen abgegeben. Der Schaden des Mehrwertsteuerbetrugs soll mehrere Millionen Euro betragen.[2] Gegenüber einem der Beschuldigten war bereits Verjährung eingetreten. Das Strafverfahren gegen die übrigen Beschuldigten würde nach der Erwartung des vorlegenden Gerichts wegen der komplexen Ermittlungen so lange dauern, dass die Straftaten bereits vor Ergehen des endgültigen Urteils verjährt sein würden. Das Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob es möglich sei, die absolute Verjährungsfrist wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht unangewendet zu lassen.
Zwar bewirken auch im italienischen Strafrecht bestimmte strafprozessuale Maßnahmen eine Unterbrechung der Verjährung. Die Verjährung beginnt mit dem Tag der Unterbrechung neu zu laufen; bei mehreren unterbrechenden Handlungen läuft die Verjährung ab der letzten dieser Handlungen erneut.[3] Aber die Unterbrechung kann grundsätzlich[4] zu keiner Verlängerung der regulären Verjährungsfristen des Art. 157 CP über die in Art. 161 Abs. 2 CP bestimmten Grenzen hinaus führen. Diese Grenzen entsprechen absoluten Verjährungsfristen. Der Eintritt der absoluten Verjährung richtet sich nach einem abgestuften System; bei Ersttätern kann die reguläre Verjährungsfrist um höchstens ein Viertel verlängert werden.[5] Hinzu tritt, dass durch eine im Jahr 2005 erfolgte Reform die Verjährungsfristen allgemein verkürzt wurden[6] und die Verjährung auch noch nach Ergehen des Urteils erster Instanz eintreten kann.[7] Für das Ausgangsverfahren bedeutete dies, dass die Verjährung für die Mitglieder der kriminellen Vereinigung spätestens nach sieben Jahren und sechs Monaten und für deren Drahtzieher spätestens nach acht Jahren und neun Monaten eingetreten wäre. Da der Eintritt der Strafverfolgungsverjährung im italienischen Recht ein Grund für das Erlöschen der Straftat ist, würde durch die Verjährung die Strafbarkeit beseitigt.[8]
Der EuGH stellt fest, dass sich die aus dem Loyalitätsgebot abgeleiteten Untergrenzen der Strafbarkeit auf das Verjährungsregime auswirken.[9] Bekanntlich vertritt der EuGH in ständiger Rspr., dass die Pflicht zur Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) von den Mitgliedstaaten verlangt, von sich aus alle geeigneten Maßnahmen zu treffen, wenn für einen Verstoß gegen eine unionsrechtliche Regelung keine Sanktion vorgesehen ist. Die Mitgliedstaaten dürfen die Sanktion grundsätzlich frei wählen. Sie müssen aber Verstöße gegen das Unionsrecht nach ähnlichen (sachlichen und verfahrensrechtlichen) Regeln ahnden wie vergleichbare Verstöße gegen das nationale Recht. Und die vorgesehene Sanktion muss jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.[10] Auf den im Fall Taricco vorgeworfenen Mehrwertsteuerbetrug findet zusätzlich Art. 325 AEUV Anwendung,[11] der für Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union die EuGH-Rechtsprechung zum Loyalitätsgebot festschreibt.
Die Vorschriften über die Verjährung beeinflussen die Möglichkeit einer Sanktionierung, weil sie die Strafbarkeit beseitigen oder eine Strafverfolgung hindern. Tritt die Verjährung zu rasch ein, kann die Sanktionsdrohung keine hinreichende Wirkung entfalten. Die Mitgliedstaaten dürfen deshalb die Effektivität und abschreckende Wirkung der Sanktionsdrohungen nicht über das Verjährungsregime unterlaufen. Für die Ausgestaltung der Verjährungsregelungen lassen sich dem Taricco-Urteil folgende Eckpunkte entnehmen:
Es ist mit dem Unionsrecht vereinbar, dass gegen die Unionsinteressen gerichtete Straftaten verjährbar sind (Rn. 45). Die für die Verjährung angeführten Begründungen – wie das mit dem Zeitablauf sinkende Strafbedürf-
nis, die Aufklärungs- und Beweisschwierigkeiten bei langem Zurückliegen der Tat oder prozessökonomische Gründe – können auch der Verfolgung dieser Straftaten entgegenstehen.
Die Länge der Verjährungsfrist dürfte in den meisten Rechtsordnungen an die Strafdrohung gekoppelt sein.[12] In diesem Zusammenhang bestätigt der EuGH, dass die im italienischen Recht angedrohte Sanktion für die Bildung einer kriminellen Vereinigung, um Mehrwertsteuerbetrug zu begehen, nämlich Freiheitsstrafe bis zu sieben Jahren, "an sich abschreckend" ist (Rn. 45). Dass die reguläre Verjährungsfrist nach italienischem Recht grundsätzlich der jeweils angedrohten Höchststrafe entspricht,[13] wird nicht beanstandet. Der EuGH betont aber, dass die Verjährungsfrist, dem Gleichstellungsgebot gemäß, jener für vergleichbare Straftaten gegen innerstaatliche Rechtsgüter entsprechen muss (Rn. 48). Selbst wenn es keine wesentliche Abweichung gibt, kann sich die Verjährungsfrist als mit dem Erfordernis einer wirksamen und abschreckenden Maßnahme unvereinbar erweisen. Ist es aufgrund der Kürze der Verjährungsfrist praktisch unmöglich, die angedrohte Sanktion zu verhängen, bewirkt die Verjährungsfrist, dass die Sanktionsregelung nicht wirksam und abschreckend ist. Für diese Beurteilung ist dem EuGH zufolge maßgeblich, ob die jeweiligen Taten "in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen … nicht strafrechtlich geahndet werden, weil sie im Allgemeinen verjährt sind" (Rn. 47). Der EuGH belässt damit den Mitgliedstaaten einen erheblichen Einschätzungsspielraum.
Wie das Taricco-Urteil veranschaulicht, kommt es nicht allein auf die Länge der regulären Verjährungsfrist, sondern auf die Verjährungsregelungen in ihrer Gesamtheit an. Die Strafverfolgungsbehörden müssen die Möglichkeit haben, die Strafverfolgung innerhalb der Verjährungsfrist zu einem rechtskräftigen Abschluss zu bringen. Zu diesem Zweck ist üblicherweise vorgesehen, dass die Regelverjährungsfrist durch bestimmte Strafverfolgungsmaßnahmen modifiziert wird, etwa in Form des Ruhens, der Unterbrechung oder der Verlängerung der Verjährung. In diesem Zusammenhang können sich, wie der vorliegende Fall zeigt, absolute Verjährungsfristen als problematisch erweisen. Wird die Modifikation der Verjährungsfrist durch eine zu kurz bemessene absolute Verjährungsfrist begrenzt, kann sich das Sanktionsregime als unwirksam darstellen. In den Worten des EuGH wird "die zeitliche Wirkung eines Grundes für die Unterbrechung der Verjährung neutralisiert" (Rn. 46). Absolute Verjährungsfristen müssen daher ausreichend lang sein, um eine Strafverfolgung zu ermöglichen. Bei der Fristbemessung ist die typische Dauer und Komplexität des Strafverfahrens zu berücksichtigen. Wird die Straftat ihrer Art nach erst durch nachträgliche Kontrollmaßnahmen entdeckt, wie dies auf Steuerdelikte zutrifft, ist auch hierauf Bedacht zu nehmen, d.h. es ist die übliche Zeitspanne von der Tatbegehung bis zu ihrer Entdeckung in die absolute Verjährungsfrist einzurechnen.[14] Aus all dem folgt, dass absolute Verjährungsfristen großzügig bemessen sein müssen und sich nur dazu eignen, ein missbräuchliches Hinausschieben des Verjährungseintritts durch die Strafverfolgungsorgane zu verhindern, hingegen nicht als Anreiz, die Strafverfolgung zu beschleunigen.
Als brisant erweisen sich die Ausführungen des EuGH zu den Konsequenzen einer Verjährungsregelung, die dem Erfordernis einer wirksamen und abschreckenden Sanktionierung nicht genügt. Der EuGH nimmt an, dass diesem Erfordernis Anwendungsvorrang zukommt. Die Verjährungsregelung dürfe nicht angewendet werden, ohne dass es auf ihre formelle Aufhebung durch das Verfassungsgericht oder den Gesetzgeber ankomme, sodass der Beschuldigte – anders als bei einer ausschließlichen Anwendung des innerstaatlichen Rechts – zu bestrafen sei (Rn. 49, 53). Voraussetzung sei, dass noch keine Verjährung eingetreten ist (vgl. Rn. 57). Denn wie der EuGH betont, darf der Anwendungsvorrang nicht die europäischen Grundrechte aushebeln (Rn. 53).[15] Der EuGH prüft in diesem Zusammenhang, ob die Nichtanwendung der absoluten Verjährungsfrist den in Art. 49 Abs. 1 GRCh gewährleisteten Grundsatz "nullum crimen nulla poena sine lege" verletzt.
Der alte Streit, ob die nachträgliche Verlängerung der strafrechtlichen Verjährung vom Rückwirkungsverbot erfasst wird, ist bis heute nicht gelöst. Er hängt vordergründig mit der Unsicherheit zusammen, ob die Verjährung ein materiell-rechtliches Institut ist oder nur prozessualen Charakter hat. Richtig besehen dürfte es sich um die Frage der ratio des Rückwirkungsverbots handeln.[16] Der EuGH beschränkt sich auf eine wörtliche Auslegung von Art. 49 Abs. 1 GRCh und verneint einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot. Denn auch bei einem rückwirkenden Wegfall der Verjährungshöchstfrist war das Verhalten bereits im Begehungszeitpunkt nach nationalem Recht strafbar, und es wird keine schwerere
Strafe verhängt, als im Begehungszeitpunkt angedroht (Rn. 56). Diese Interpretation kann sich auf die Judikatur des EGMR stützen. Der EGMR hat erstmals in Coeme u.a. vs. Belgien ausgesprochen, dass die nachträgliche Verlängerung einer Verjährungsfrist eine bloße "Enttäuschung von Erwartungen" sei, die Art. 7 EMRK nicht verletze.[17] Die europäischen Gerichte erkennen also dem Rückwirkungsverbot nur einen Minimalgehalt zu.
Die Einbeziehung des Erfordernisses wirksamer und abschreckender Maßnahmen in das Vorrangprinzip deutete sich bereits in der Rechtssache Berlusconi u.a. an. Dort war eine nach Tatbegehung erfolgte, die Beschuldigten begünstigende gesetzliche Änderung der anzuwendenden Strafbestimmungen zu beurteilen. Unter anderem wurde die Strafdrohung gesenkt, was dazu führte, dass eine der vorgeworfenen Straftaten bereits verjährt war.[18] Die Änderungen widersprachen einer Richtlinie, welche die Mitgliedstaaten verpflichtete, für Bilanzfälschungen "geeignete Sanktionen" vorzusehen. Der EuGH nahm an, dass das Erfordernis geeigneter Sanktionen am Maßstab wirksamer, verhältnismäßiger und abschreckender Maßnahmen zu messen sei und dem Anwendungsvorrang unterliege. Da jedoch eine Richtlinie die Strafbarkeit weder begründen noch verschärfen könne, greife der Anwendungsvorrang nicht.[19]
Obwohl es um einen Verstoß gegen Primärrecht geht, überzeugt es auch im Fall Taricco nicht, dass sich der EuGH auf den Anwendungsvorrang beruft.[20] Die in der Rechtssache Costa/E.N.E.L.[21] entwickelte Kollisionsregel gilt ausschließlich für unmittelbar anwendbares Unionsrecht.[22] Unmittelbar anwendbar sind nur Normen, die auf einen Sachverhalt konkret anwendbar sind. Dies setzt u.a. voraus, dass die betreffende Norm klar und präzise ist, es zu ihrer Durchführung nicht eines weiteren Vollzugsakts eines nationalen oder europäischen Organs bedarf und die Norm in der Anwendung keinen Ermessensspielraum einräumt.[23] Diesen Anforderungen genügt die Pflicht zu effektiven und abschreckenden Maßnahmen eindeutig nicht.[24] Dies gilt auch, soweit über das Vorrangprinzip nicht die Strafbarkeit begründet oder verschärft, sondern ein Strafaufhebungsgrund oder ein Verfolgungshindernis "neutralisiert" werden soll.[25] Denn die Feststellung, dass gegen das Erfordernis wirksamer und abschreckender Maßnahmen verstoßen wird, setzt dem EuGH zufolge die Prüfung voraus, ob wegen des betreffenden Elements "in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen" keine strafrechtliche Ahndung möglich ist (Rn. 47). Wegen des mit dieser Beurteilung verbundenen Spielraums[26] sind die mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit (noch) vereinbaren Anforderungen an die unmittelbare Anwendbarkeit von Unionsrecht auch insoweit nicht gegeben. Eine auf Strafaufhebungsgründe, Verfolgungshindernisse und dgl. beschränkte unmittelbare Anwendbarkeit des Erfordernisses wirksamer und abschreckender Maßnahmen ist daher zurückzuweisen.
Der EuGH dürfte das Problem gesehen haben, denn er hebt die in Art. 325 Abs. 2 AEUV normierte Verpflichtung der Mitgliedstaaten hervor, die gleichen Maßnahmen zu ergreifen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten. Den Mitgliedstaaten sei eine "genaue Ergebnispflicht" auferlegt, "die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel an keine Bedingung geknüpft ist" (Rn. 50 f.). Auch eine unmittelbare Anwendbarkeit des Gleichstellungsgebots ist jedoch abzulehnen, weil es für "Taten vergleichbarer Art und Schwere" (vgl. Rn. 48), die sich gegen die einschlägigen Interessen des Mitgliedstaates richten, verschiedene Strafbestimmungen geben kann, sodass unklar ist, woran die Gleichstellung zu orientieren ist. Auch das Gleichstellungsgebot belässt den Mitgliedstaaten einen gewissen Bewertungs- und Gestaltungsspielraum, der vom nationalen Gesetzgeber auszufüllen ist. In der mündlichen Verhandlung vor dem EuGH hatte die Europäische Kommission vorgebracht, dass "das italienische Recht insbesondere keine absolute Verjährungsfrist für die Straftat des Zusammenschlusses zur Begehung von Delikten auf dem Gebiet der Verbrauchssteuern auf Tabakerzeugnisse" vorsehe (Rn. 48). In den Vergleich wären aber auch Strafbestimmungen, die sich gegen die Hinterziehung anderer Steuern richten, einzubeziehen, weil auch diese "Betrügereien" betreffen, die sich gegen die eigenen finanziellen Interessen des Mitgliedstaates richten. Darüber hinaus ist auffällig, dass sich die streitige Regelung im allgemeinen Strafrecht befindet (Art. 160 Abs. 3 CP); dies spricht gegen eine grundsätzliche Schlechterstellung der finanziellen Interessen der Union.
Klarzustellen ist, dass es auch bei Bejahung einer unmittelbaren Anwendbarkeit des Gleichstellungsgebots wegen "nullum crimen" ausgeschlossen wäre, dass der Anwendungsvorrang die Strafbarkeit oder eine schwerere Strafe bewirkt, als im Tatzeitpunkt im nationalen Recht vorgesehen war. Aber selbst die Unanwendbarkeit der Höchstfrist der Verjährung erwiese sich als problematisch, weil die Straftat durch fortgesetzte Unterbrechungshandlungen der Verjährung entzogen werden könnte.[27] Stellte sich eine reguläre Verjährungsfrist als zu kurz bemessen und damit als unionsrechtswidrig dar, hätte ihre Unanwendbarkeit zur Folge, dass die Straftat unverjährbar wäre, wenn sie einen Unionssachverhalt betrifft. Die Straftat würde damit rückwirkend auf die Stufe von besonders schwerwiegenden Straftaten wie Mord gehoben. Es ist sehr zweifelhaft, ob diese nachträgliche Umwertung mit dem "nullum crimen"-Grundsatz zu vereinbaren wäre.
Ein Aufweichen der Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs ist wegen der weitreichenden Folgen abzulehnen. Das Unionsrecht würde sich von seinen völkerrechtlichen Wurzeln entfernen,[28] die Auswirkungen auf die Rechtssicherheit wären gravierend. Falls künftig in einer Richtlinie Mindestvorschriften zur Verjährung getroffen werden,[29] tritt ein weiteres Problem hinzu: Solange ein Mitgliedstaat die Vorgaben der Richtlinie nicht umgesetzt hat, dürfen die Regelungen zur Mindestverjährung nicht zulasten eines Beschuldigten angewendet werden, auch wenn die Umsetzungsfrist schon abgelaufen ist.[30] Würde man in diesem Fall auf Art. 325 AEUV als "unmittelbar anwendbares" Primärrecht zurückgreifen, liefe dies der Sache nach dem Grundsatz zuwider, dass sich ein Mitgliedstaat auf pflichtwidrig nicht umgesetztes Recht nicht berufen können soll. Es ließe sich wiederum nur schwer mit der Idee des Anwendungsvorrangs in Einklang bringen, würde man im Fall von erlassenem Sekundärrecht einen solchen Rückgriff ablehnen.
Der EuGH ist daher aufgerufen, sich auf die Grenzen des Anwendungsvorrangs zu besinnen.[31] So unerfreulich es in der Sache ist, wenn ein Mitgliedstaat über sein Verjährungsregime die Pflicht zu einer wirksamen, abschreckenden und verhältnismäßigen Sanktionierung von gegen die Unionsinteressen gerichteten Taten unterläuft: Eine Verjährungsregelung, die einer wirksamen und abschreckenden Sanktionierung entgegensteht, ist anzuwenden, solange sie nicht innerstaatlich aufgehoben oder geändert wurde.[32] Verletzt ein Mitgliedstaat über das Verjährungsregime die Pflicht zu einer wirksamen und abschreckenden Sanktionierung von Straftaten, die gegen die Interessen der Union gerichtet sind, ist erforderlichenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Der Fall Taricco zeigt darüber hinaus die Notwendigkeit, ernsthaft über eine Harmonisierung der Verjährung von Straftaten zum Schutz der Interessen der Union nachzudenken.
[1] In strafrechtsharmonisierenden Rechtsakten gibt es aktuell kaum Mindestvorschriften zur Verjährung. Art. 15 Abs. 2 RL 2011/93/EU vom 13.12.2011 zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie sowie zur Ersetzung des Rahmenbeschlusses 2004/68/JI des Rates (ABl. 2011, L 335/1, berichtigt durch ABl. 2012, L 18/7) verpflichtet die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass bestimmte Delikte während eines hinlänglich langen Zeitraums nach Erreichen der Volljährigkeit durch das Opfer entsprechend der Schwere der betreffenden Straftat strafrechtlich verfolgt werden können. Der Vorschlag einer Richtlinie vom 11.07.2012 über die strafrechtliche Bekämpfung von gegen die finanziellen Interessen der Europäischen Union gerichtetem Betrug, KOM(2012) 363 endg., sieht in Art. 12 Regelungen zu den Verjährungsfristen vor, über die bislang keine endgültige Einigung erzielt werden konnte (vgl. Ratsdok. 8604/15 vom 07.05.2015, S. 2).
[2] Zum Sachverhalt siehe auch die Schlussanträge von GA Kokott ECLI:EU:C:2015:293, Rn. 25 ff.
[3] Vgl. Art. 160 Abs. 3 Codice Penale (CP).
[4] Eine Ausnahme ist in Art. 157 Abs. 6 CP für bestimmte Straftaten, wie die fahrlässige Tötung im Straßenverkehr oder der Organisierten Kriminalität i.w.S. zuzuordnende schwere Straftaten, vorgesehen; siehe Jarvers in: Sieber/Cornils (Hrsg.), Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. 5, 2010, S. 606.
[5] Bei erschwertem Rückfall um die Hälfte (Art. 99 Abs. 2 CP), bei wiederholtem Rückfall um zwei Drittel (Art. 99 Abs. 4 CP), bei gewohnheitsmäßiger oder gewerbsmäßiger Begehung um das Doppelte (Art. 102, 103, 105 CP); siehe Jarvers (Fn. 4 ), S. 605.
[6] Legge ex Cirielli vom 05.12.2005, n. 251/2005. In der Zwischenzeit wurden die Verjährungsfristen für bestimmte Delikte wieder verlängert; Legge vom 14.09.2011, n. 148/2011.
[7] Siehe demgegenüber § 78b Abs. 3 StGB zum Ruhen der Verjährung bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens.
[8] Vgl. Art. 157 Abs. 1 CP; zur überwiegenden Einordnung als materiell-rechtliches Institut Jarvers (Fn. 4 ), S. 601. Auch andere EU-Mitgliedstaaten begreifen die Verjährung als materiell-rechtlichen Strafbeseitigungsgrund; z.B. Österreich (OGH EvBl 2006/71; Fuchs Strafrecht AT, 8. Aufl. 2012, Kap. 27 Rn. 17); Polen (Oberstes Gericht[Sąd Najwyższy]Urt. v. 10.03.2004, II KK 338/03, OSNwSK 2004, nr. 1, poz. 521; Kłączyńska in: Giezek[Hrsg.], Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz, 2. Aufl. 2012, Art. 101 Rn. 3); Schweden (Cornils in: Sieber/Cornils[Hrsg.], Nationales Strafrecht in rechtsvergleichender Darstellung, Bd. 5, 2010, S. 673). Anders die h.M. in Deutschland, die von einem Verfahrenshindernis ausgeht; Satzger JURA 2012, 435 f. m.w.N.
[9] Siehe bereits Killmann in: Sieber/Satzger/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2014, § 11 Rn. 34: "Eine unproportional kurze Verjährung könnte allerdings unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit, Verhältnismäßigkeit und Abschreckungswirkung nicht europarechtskonform sein."
[10] Ständige Rspr. seit EuGH Urt. v. 21.09.1989, Rs. 68/88 (Griechischer Mais), Slg. 1989, 2965, Rn. 24. Zum Ganzen Hecker Europäisches Strafrecht, 5. Aufl. 2015, § 7 Rn. 27 ff.
[11] Zur Begründung siehe Rn. 38.
[12] Darüber hinaus ist eine Anbindung an die Einteilung der Straftaten in Verbrechen und Vergehen und dgl. anzutreffen.
[13] Art. 157 Abs. 1 CP.
[14] Den österreichischen Gesetzgeber veranlasste dieser Umstand, die absoluten Verjährungsfristen für gerichtlich zu verfolgende Finanzvergehen durch das AbgabenänderungsG 1998 (BGBl. I Nr. 28/1999) zu beseitigen; EBRV 1471 BlgNR, 20. GP, S. 31.
[15] Die europäischen Grundrechte sind im vorliegenden Fall nach Maßgabe der EuGH-Judikatur anwendbar, weil die Anwendung nationaler Strafvorschriften, um einen Verstoß gegen Unionsrecht zu sanktionieren, eine Durchführung des Rechts der Union sei (Art. 51 GRCh); EuGH Urt. v. 10.11.2011, Rs. C-405/10 (Garenfeld), Slg. 2011, I-11035, Rn. 48; Urt. v. 26.02.2013, Rs. C-617/10 (Åkerberg Fransson), NJW 2013, 1415, Rn. 27 f.
[16] Selbst in manchen Rechtsordnungen, welche der Verjährung materiell-rechtlichen Charakter zuerkennen, wird eine Verlängerung der Verjährungsfrist bei noch laufender Verjährung für zulässig gehalten; für Österreich siehe OGH RIS-Justiz RS0116876; Marek in: Höpfel/Ratz (Hrsg.), WK-StGB, 2. Aufl., Stand: 2013, § 57 Rn. 23; für Polen siehe Verfassungsgerichtshof (Trybunał Konstytucyjny) Urt. v. 15.10.2008, P 32/06, OTK-A 2008/8/138; Kłączyńska in: Giezek (Hrsg.), Kodeks karny. Część ogólna. Komentarz, 2. Aufl. 2012, Art. 101 Rn. 9. Anders aber etwa in Italien; Scalia eucrim 2015, 107.
[17] EGMR Urt. v. 22.06.2000, Nr. 32492/96 u.a. (Coeme u.a./Belgien), Z. 149. Zur Unzulässigkeit einer Bestrafung, wenn bereits Verjährung eingetreten ist, EGMR Urt. v. 17.05.2010, Nr. 36376/04 (Kononov/Lettland), Z. 147; Urt. v. 20.09.2011, Nr. 14902/04 (Yukos/Russland), Z. 563 f., 570 ff.
[18] EuGH Urt. v. 03.05.2005, verb. Rs. C-387/02, 391/02 und 403/02 (Berlusconi u.a.), Slg. 2005, I-3565, Rn. 32.
[19] EuGH Urt. v. 03.05.2005, verb. Rs. C-387/02, 391/02 und 403/02 (Berlusconi u.a.), Slg. 2005, I-3565, Rn. 64 f., 72 ff.
[20] A.A. Bülte NZWiSt 2015, 398: "bedingungslose[r]Anwendungsvorrang des Primärrechts".
[21] EuGH Urt. v. 15.07.1964, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1141.
[22] EuGH Urt. v. 15.07.1964, Rs. 6/64 (Costa/E.N.E.L.), Slg. 1964, 1141, Ls. 7; Haratsch/Koenig/Pechstein Europarecht, 9. Aufl. 2014, Rn. 182.
[23] Z.B. EuGH Urt. v. 16.06.1966, Rs. 57/65 (Alfons Lütticke GmbH/Hauptzollamt Saarlouis), Slg. 1966, 258 (266).
[24] Vgl. zum Fall Berlusconi Satzger JZ 2005, 1001: "Es finden sich keine hinreichend klaren Anhaltspunkte zu Natur (zi-
vil-, verwaltungs-, verwaltungsstraf-, kriminalstrafrechtlich) oder Höhe der Sanktion, so dass es im Gemeinschaftsrecht an einer hinreichend klaren und abschließenden Alternativregelung zum nationalen Recht fehlt." Satzger a.a.O. sieht einen unmittelbar anwendbaren Minimalgehalt des Loyalitätsgebots im "Verbot des Absehens von jeglicher Sanktion". Dieser sei aber nicht berührt, wenn eine beschuldigtenfreundlichere Regelung der Verjährung die faktische Straflosigkeit bewirke, solange noch andere Sanktionen möglich sind. Gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit von Unionsrecht in der Rechtssache Berlusconi auch Hecker (Fn. 10 ), § 9 Rn. 19. Vgl. auch Hatje in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo (Hrsg.), EU-Kommentar, 3. Aufl. 2012, Art. 4 Rn. 25.
[25] Es ist darüber hinaus an weitere Voraussetzungen einer Verurteilung, die vom Rückwirkungsverbot möglicherweise nicht erfasst sind, zu denken, wie das Erfordernis eines Strafantrags oder Beweisverbote.
[26] Vgl. Gaede wistra 2016, 89 (95): "diffuse[s]Kriterium".
[27] Dies zu verhindern, ist gerade der Zweck der absoluten Verjährung; Saliger in: Kindhäuser/Neumann/Paeffgen (Hrsg.), NK-StGB, 4. Aufl. 2013, § 78c Rn. 36.
[28] Innerstaatlich verbindlich wird eine völkerrechtliche Norm in Deutschland mit dem Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG. Von ihrem Inhalt hängt ab, ob sie Behörden und Gerichte unmittelbar verpflichtet oder ob sie den Gesetzgeber in Bund und Ländern in die Pflicht nimmt, zunächst Gesetze zur Umsetzung zu erlassen, weil sie aus sich selbst heraus nicht vollziehbar ist, gleichwohl aber eine Regelungsverpflichtung enthält; vgl. von Arnauld Völkerrecht, 2. Aufl. 2014, § 7 Rn. 503.
[29] Siehe den aktuellen RL-Vorschlag (Fn. 1 ).
[30] EuGH Urt. v. 08.10.1987, Rs. 80/86 (Kolpinghuis Nijmegen), Slg. 1987, 3969, Rn. 9 f. ; Urt. v. 03.05.2005, verb. Rs. C-387/02, 391/02 und 403/02 (Berlusconi u.a.), Slg. 2005, I-3565, Rn. 73 f .
[31] Bemerkenswert ist, dass die Urteile, auf die der EuGH in Rn. 52 als Beleg für den Anwendungsvorrang von Art. 325 Abs. 1 und 2 AEUV verweist, alle unzweifelhaft unmittelbar anwendbares Unionsrecht betreffen; EuGH Urt. v. 14.06.2012, Rs. C‑606/10 (ANAFE), NVwZ-RR 2012, 736, Rn. 73; Urt. v. 09.03.1978, Rs. 106/77 (Simmenthal), Slg. 1978, 629, Rn. 17/18; Urt. v. 19.06.1990, Rs. C-213/89 (Factortame), Slg. 1990, I-2433, Rn. 18; Urt. v. 08.09.2010, Rs. C‑409/06 (Winner Wetten), Slg. 2010, I-8015, Rn. 53.
[32] Gegen einen Anwendungsvorrang des Unionsrechts mit einem anderen Ansatz (Verstoß gegen Art. 47, 48 Abs. 2 GRCh) auch Gaede wistra 2016, 96.