HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Februar 2014
15. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

116. BGH 4 StR 448/13 - Beschluss vom 19. November 2013 (LG Bochum)

BGHR; Strafzumessung (Berücksichtigung nicht angeklagter festgestellter Taten: erforderliche enge Beziehung zur angeklagten Tat; Unschuldsvermutung, Doppelbestrafungsverbot.

Art. 6 Abs. 2 EMRK; Art. 103 Abs. 3; § 46 Abs. 2 StGB

1. Die durch § 46 Abs. 2 StGB gezogene Grenze zulässiger strafschärfender Berücksichtigung nicht angeklagter, aber prozessordnungsgemäß festgestellter Taten ist jedenfalls dann überschritten, wenn diese mangels enger Beziehung zur angeklagten Tat keine Rückschlüsse auf Schuld oder Gefährlichkeit des Täters zulassen, sondern als sonstiges strafrechtlich relevantes Verhalten ohne gesonderte Anklage und damit außerhalb der Anforderungen eines geordneten Strafverfahrens einer gesonderten Bewertung zugeführt werden sollen. (BGHR)

2. Gemäß § 46 Abs. 2 StGB hat der Tatrichter bei der Strafzumessung die für und gegen den Täter sprechenden Umstände gegeneinander abzuwägen und dabei namentlich auch sein Vorleben zu berücksichtigen. Dies umfasst die im Urteil festgestellten Vorstrafen. Es ist in der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs aber auch anerkannt, dass der Tatrichter bei der Feststellung und Bewertung von Strafzumessungstatsachen durch den Anklagegrundsatz nicht beschränkt ist und daher auch strafbare Handlungen ermitteln und würdigen kann, die nicht Gegenstand der Anklage sind, soweit diese für die Beurteilung der Persönlichkeit des Angeklagten bedeutsam sein können und Rückschlüsse auf die Tatschuld des Angeklagten gestatten, sofern sie prozessordnungsgemäß und damit hinreichend bestimmt festgestellt werden (vgl. BGH NStZ-RR 2009, 306). (Bearbeiter)

3. Allerdings bedarf es für die gesonderte Bewertung sonstiger strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen ohne gesonderte Anklage und damit außerhalb der Anforderungen eines geordneten Strafverfahrens nicht nur der Beachtung des Gewährleistungsgehalts der Unschuldsvermutung gemäß Art. 6 Abs. 2 EMRK und – mangels Verbrauchs der Strafklage – der Vermeidung einer Doppelbestrafung (vgl. BGH NStZ 1981, 99, 100). Ein sachlich-rechtlicher Gesichtspunkt kommt hinzu: Es kann in aller Regel nur darum gehen, Umstände festzustellen, die wegen ihrer engen Beziehung zur Tat als Anzeichen für Schuld oder Gefährlichkeit des Täters verwertbar sind. Diese durch Sinn und Zweck von § 46 Abs. 2 StGB gezogene Grenze ist jedenfalls dann überschritten, wenn es an dem notwendigen inneren Zusammenhang mit dem angeklagten Tatvorwurf fehlt. (Bearbeiter)


Entscheidung

161. BGH 3 StR 311/13 - Beschluss vom 1. Oktober 2013 (LG Wuppertal)

Anforderungen an die Anordnung einer dauerhaften Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Erfordernis einer sorgfältigen Einzelfallprüfung trotz Rückgriffs auf statistische Methoden).

§ 63 StGB

1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Ein insoweit vom Sachverständigen genutztes statistisches Prognoseinstrument kann zwar Anhaltspunkte über die Ausprägung eines strukturellen Grundrisikos liefern, jedoch nicht, eine fundierte Einzelbetrachtung ersetzen.

2. Ist der psychisch erkrankte – hier: an einer hebephrenen Psychose leidende – Angeklagte über Jahrzehnte lediglich durch Delikte minderer Intensität aufgefallen, erfordert die Anordnung einer dauerhaften Unterbringung eine besondere Begründung, wenn sie aufgrund einer erstmals begangenen Tat aus dem Bereich der mittelschweren Kriminalität – hier: einer gefährlichen Körperverletzung – erfolgen soll. Insbesondere muss nachvollziehbar dargelegt werden, weshalb zukünftig gerade solche schwereren, bislang singulären Deliktsbegehungen zu erwarten sind.

3. Auf eine ausreichende Begründung zukünftiger Gefährlichkeit des Angeklagten für die Allgemeinheit kann nicht verzichtet werden, selbst wenn dessen Gesundheitszustand durch eine längerfristige Behandlung in einem forensisch-psychiatrischen Krankenhaus gebessert werden könnte, denn nur die Belange der öffentlichen Sicherheit - nicht aber die Bemühungen um die Gesundheit des Patienten - können es rechtfertigen, einen Menschen auf unbestimmte Zeit einer Freiheitsentziehung zu unterwerfen.


Entscheidung

99. BGH 1 StR 594/13 - Beschluss vom 18. November 2013 (LG Freiburg)

Anordnung der Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt (Voraussetzungen: Zusammenhang zwischen psychischer Erkrankung und Anlasstat; Gefährlichkeitsprognose; Verhältnismäßigkeit; Anforderungen an die Begründung im Urteil); fehlende bzw. geminderte Schuldfähigkeit (Beeinträchtigung der Einsicht- oder Steuerungsfähigkeit: Anforderung an die Begründung im Urteil).

§ 63 StGB; § 20 StGB; § 21 StGB; § 267 Abs. 6 StPO

1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf lediglich angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass die unterzubringende Person bei Begehung der Anlasstaten aufgrund einer nicht nur vorübergehenden psychischen Störung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Begehung der Taten auf diesem Zustand beruht (vgl. BGH NJW 2013, 246).

2. Dabei muss vom Tatgericht im Einzelnen dargelegt werden, wie sich die festgestellte, einem Merkmal von §§ 20, 21 StGB unterfallende Erkrankung in der jeweiligen Tatsituation auf die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat und warum die Anlasstaten auf den entsprechenden psychischen Zustand zurückzuführen sind (vgl. BGH aaO).

3. Zwar bedarf es grundsätzlich schon im Hinblick auf den symptomatischen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und den Anlasstaten sowie deren Bedeutung im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose der Feststellung, welche Ursachen bei dem Beschuldigten zu welchem von §§ 20, 21 StGB erfassten Zustand geführt haben (vgl. BGH NStZ-RR 2003, 168). Ausnahmsweise kann jedoch auf eine zweifelsfreie Aufklärung verzichtet werden, wenn mehrere Störungen in Betracht kommen, die aber jeweils die Schuldfähigkeit des Täters sicher beeinträchtigen. Allerdings muss der Tatrichter bei einer solchen Konstellation im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose jede der die Schuldfähigkeit beeinträchtigenden Ursachen auf ihre Bedeutung für die Beurteilung der zukünftigen Gefährlichkeit des Täters hin gesondert untersuchen

4. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet bei der Anordnung (und der Vollstreckung) der Unterbringung gemäß § 63 StGB, dass die Freiheit der Person nur beschränkt werden darf, soweit dies im öffentlichen Interesse unerlässlich ist- Dementsprechend darf die Unterbringung nicht angeordnet werden, wenn die wegen ihrer unbestimmten Dauer sehr belastende Maßnahme außer Verhältnis zu der Bedeutung der begangenen und zu erwartenden Taten stehen würde (vgl. BGH NStZ-RR 2007, 300, 301). Bei der gebotenen Abwägung zwischen den Sicherungsbelangen der Allgemeinheit und dem Freiheitsanspruch des Betroffenen ist auf die Besonderheiten des Falles einzugehen (vgl. BVerfGE 70, 297, 313). Zu erwägen sind nicht nur der Zustand des Beschuldigten und die von ihm ausgehende Gefahr, sondern auch sein früheres Verhalten, seine aktuellen Lebensumstände, die ihn konkret treffenden Wirkungen einer Unterbringung nach § 63 StGB sowie die Möglichkeiten, ggf. durch andere Maßnahmen auf ihn einzuwirken.

5. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus darf wegen der Schwere des mit ihr verbundenen Eingriffs lediglich angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades besteht, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen.

6. Dafür ist zwar nicht erforderlich, dass die Anlasstaten selbst erheblich sind. Die zu erwartenden Taten müssen aber schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen und daher grundsätzlich zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen sein (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 202). Erreichen die Anlasstaten ihrem Gewicht nach nicht einmal diesen Bereich, ist eine Anordnung der Maßregel gemäß § 63 StGB nicht völlig ausgeschlossen; das Tatgericht muss in solchen Fällen allerdings die erforderliche Gefährlichkeitsprognose besonders sorgfältig darlegen (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 240, 241). Dazu ist regelmäßig eine besonders eingehende Würdigung der Person des bzw. der Beschuldigten, vor allem der Krankheitsgeschichte sowie der Anlasstaten, notwendig.


Entscheidung

143. BGH 4 StR 261/13 - Beschluss vom 17. Dezember 2013 (LG Halle)

Strafbare Werbung; rechtsfehlerhafte nachträgliche Gesamtstrafe.

§ 16 Abs. 2 UWG; § 54 StGB

Die Bemessung der Gesamtstrafe nach § 54 Abs. 1 Satz 3 StGB ist ein eigenständiger Strafzumessungsakt, bei dem die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend zu würdigen sind. Dabei ist im Rahmen einer Gesamtschau vor allem das Verhältnis der einzelnen Taten zueinander, ihre größere oder geringere Selbstständigkeit, die Häufigkeit der Begehung, die Gleichheit oder Verschiedenheit der verletzten Rechtsgüter und der Begehungsweisen sowie das Gesamtgewicht des abzuurteilenden Sachverhalts zu berücksichtigen (BGHSt 24, 268, 269 f.). Die Erhöhung der Einsatzstrafe hat in der Regel niedriger auszufallen, wenn zwischen gleichartigen Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang besteht (BGH NStZ-RR 2010, 238). Wird die Einsatzstrafe erheblich erhöht, bedarf dies näherer Begründung (BGH NStZ 2007, 326). Kommt die Gesamtstrafe der Summe der Einzelstrafen nahe, ist eine eingehende Darlegung erforderlich, aus welchen Gründen der durch § 54 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 1 StGB vorgesehene Rahmen für die Gesamtstrafenbildung nahezu ausgeschöpft wurde (BGH NStZ-RR 2010, 238).


Entscheidung

95. BGH 1 StR 210/13 - Urteil vom 22. Oktober 2013 (LG Deggendorf)

Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Gefährlichkeitsprognose: Bedeutung des Alter des Angeklagten; wiederholte Anordnung).

§ 66 Abs. 1 StGB

1. Bei der Anordnung der Sicherungsverwahrung ist für die Gefährlichkeitsprognose auf den Zeitpunkt der Verurteilung abzustellen (vgl. § 66 Abs. 1 Nr. 4 StGB). Der Tatrichter darf - zumal bei der Frage der obligatorischen Sicherungsverwahrung gemäß § 66 Abs. 1 StGB - dem Alter des Angeklagten wie auch den Wirkungen des jahrelangen Strafvollzugs daher nur dann Bedeutung beimessen, wenn schon bei der Urteilsfindung abzusehen ist, dass aufgrund dessen eine Gefährlichkeit bei Ende des Vollzugs der Strafe nicht mehr bestehen wird (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 337). Die bloße Möglichkeit abnehmender Körperkräfte beim Angeklagten mit der Folge, dass er nach Strafverbüßung zu einer gewaltsamen Durchsetzung seiner sexuellen Wünsche nicht mehr in der Lage sein wird, vermag seine Gefährlichkeit nicht auszuräumen. Denkbare, aber nur erhoffte Veränderungen der Umstände bleiben der obligatorischen Prüfung vor Ende des Strafvollzugs vorbehalten.

2. Die erneute Verhängung der Maßregel der Sicherungsverwahrung bleibt auch dann möglich, wenn diese bereits durch ein früheres Urteil angeordnet war, aber noch nicht vollständig erledigt ist (vgl. BGH NStZ-RR 2013, 256).


Entscheidung

107. BGH 4 StR 302/13 - Urteil vom 19. Dezember 2013 (LG Essen)

Bandenmäßiges unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Strafzumessung: Verhältnis zum bandenmäßigen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln); Nötigung (Erfolgsdelikt); unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Versuchsbeginn); Strafzumessung (Berücksichtigung von erlittener Untersuchungshaft).

§ 30a Abs. 1 StGB: § 30 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 240 Abs. 1 StGB; § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtMG; § 46 Abs. 1 StGB

1. Verbüßte Untersuchungshaft ist, jedenfalls bei der Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgrund, es sei denn, mit ihrem Vollzug wären ungewöhnliche, über die üblichen deutlich hinausgehende Beschwernisse verbunden. Will der Tatrichter wegen besonderer Nachteile für den Angeklagten den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, müssen diese Nachteile in den Urteilsgründen dargelegt werden (vgl. BGH NJW 2006, 2645).

2. Die Nötigung ist als Erfolgsdelikt ausgestaltet. Die Gewaltanwendung muss in kausalem Sinne zu dem vom Täter geforderten Verhalten des Opfers führen. Vollendet ist die Nötigung erst dann, wenn der Genötigte die verlangte Handlung vorgenommen oder zumindest mit ihrer Ausführung begonnen hat.

3. Allein in dem Bereithalten eines Zahlungsmittels für noch völlig ungewisse Betäubungsmittelgeschäfte liegt weder ein versuchtes noch ein vollendetes Handeltreiben.


Entscheidung

108. BGH 4 StR 303/13 - Urteil vom 19. Dezember 2013 (LG Essen)

Bandenmäßiges unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Strafzumessung: Verhältnis zum bandenmäßigen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln); Strafzumessung (Berücksichtigung erlittener Untersuchungshaft).

§ 30a Abs. 1 StGB; § 30 Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 46 Abs. 1 StGB

Verbüßte Untersuchungshaft ist, jedenfalls bei der Verhängung einer zu verbüßenden Freiheitsstrafe, kein Strafmilderungsgrund, es sei denn, mit ihrem Vollzug wären ungewöhnliche, über die üblichen deutlich hinausgehende Beschwernisse verbunden. Will der Tatrichter wegen besonderer Nachteile für den Angeklagten den Vollzug der Untersuchungshaft bei der Strafzumessung mildernd berücksichtigen, müssen diese Nachteile in den Urteilsgründen dargelegt werden (vgl. BGH NJW 2006, 2645).


Entscheidung

114. BGH 4 StR 404/13 - Beschluss vom 3. Dezember 2013 (LG Bochum)

Nachträgliche Bildung einer Gesamtstrafe (Verbot der Doppelbestrafung: Einbeziehung einer Einzelstrafe, die bereits in einem anderen Verfahren einbezogen wurde).

§ 103 Abs. 3 GG; § 55 Abs. 1 StGB

Zwar hat das erkennende Gericht grundsätzlich nach § 55 Abs. 1 StGB nachträglich eine Gesamtstrafe zu bilden, wenn die dafür erforderlichen Voraussetzungen vorliegen. Von diesem Grundsatz kann aber eine Ausnahme zu machen sein, wenn durch eine Einbeziehung die Gefahr einer verbotenen Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG) begründet würde. Der Bundesgerichtshof hat deshalb entschieden, dass von der Einbeziehung rechtskräftiger Einzelstrafen abzusehen ist, die bereits in eine andere noch nicht rechtskräftige Verurteilung einbezogen wurden (vgl. BGHSt 20, 292, 293 f.) oder aus einem Verfahren stammen, in dem über die Gesamtstrafe noch nicht rechtskräftig entschieden ist (vgl. BGH NJW 2005, 3155).