HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2013
14. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

1000. BVerfG 2 BvR 2129/11 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 23. Mai 2013 (OLG Hamm / LG Wuppertal)

Resozialisierungsgebot (lebenslange Freiheitsstrafe; ausländische Strafgefangene; geplante Abschiebung aus der Strafhaft; fehlende Entlassungsperspektive; Erhaltung der Lebenstüchtigkeit; Vollzugslockerungen; Ausführung; personelle Ressourcen); effektiver Rechtsschutz (Absehen von der Begründung einer Beschwerdeentscheidung; Leerlaufen der Beschwerdemöglichkeit; erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit Grundrechten; Abweichen von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts).

Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 11 StVollzG; § 109 StVollzG; § 116 Abs. 1 StVollzG; § 119 Abs. 3 StVollzG

1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet den Staat, den Strafvollzug auf eine Resozialisierung auszurichten. Dies gilt auch für den Vollzug einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Auch hier ist den schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken und die Tüchtigkeit des Inhaftierten für ein Leben in Freiheit zu erhalten. Dem dienen insbesondere Vollzugslockerungen wie Urlaub, Ausgänge oder – soweit sich ein Gefangener für Lockerungen ohne Aufsicht noch nicht eignet – Ausführungen.

2. Auch wenn bei einem – insbesondere langjährig inhaftierten – Strafgefangenen (noch) keine konkrete Entlassungsperspektive besteht, dürfen ihm Lockerungen zumindest in Gestalt von Ausführungen nicht generell und nicht allein unter Hinweis auf den damit verbundenen

personellen Aufwand versagt werden. Wenngleich der Strafgefangene nicht verlangen kann, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden, setzen die Grundrechte auch Maßstäbe für die Beschaffenheit und Ausstattung von Vollzugsanstalten.

3. Diese Maßstäbe gelten grundsätzlich auch für ausländische Strafgefangene, die aus der Haft heraus abgeschoben werden sollen (Bezugnahme auf BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2012 - 2 BvR 2025/12 [= HRRS 2012 Nr. 1008]).

4. Ein Gericht verletzt das verfassungsrechtliche Resozialisierungsgebot, wenn es die Versagung von Ausführungen eines langjährig Inhaftierten zu seinem Sohn bestätigt, ohne sich dabei mit der selbstgesetzten Regelung einer Vollzugsanstalt auseinanderzusetzen, nach welcher der Gefangene wegen seines ausländerrechtlichen Status sowie mangels einer konkreten Entlassungsperspektive von Ausführungen ausgeschlossen ist. Einem Gericht ist es insoweit auch verwehrt, die unzureichenden Gründe der vollzugsbehördlichen Entscheidung durch eigene Gründe zu ersetzen.

5. Sieht das Beschwerdegericht nach § 119 Abs. 3 StVollzG von einer Begründung der Rechtsbeschwerdeentscheidung ab, so ist dies mit Art. 19 Abs. 4 GG nur vereinbar, wenn dadurch die Beschwerdemöglichkeit nicht leer läuft. Letzteres ist bereits dann anzunehmen, wenn erhebliche Zweifel an der Vereinbarkeit der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung mit Grundrechten bestehen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die Entscheidung offenkundig von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abweicht.


Entscheidung

1001. BVerfG 1 BvL 7/12 (2. Kammer des Ersten Senats) - Beschluss vom 3. September 2013 (LG Berlin)

Berufsfreiheit (unerlaubte Veranstaltung eines Glücksspiels; Glücksspielstaatsvertrag; Sportwettenmonopol des Landes Berlin); konkrete Normenkontrolle (Richtervorlage; Vorlagebeschluss; Darlegungsanforderungen; Entscheidungserheblichkeit; Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs; Dienstleistungsfreiheit).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 100 Abs. 1 GG; § 80 BVerfGG; § 284 Abs. 1 StGB; § 4 Abs. 4 GlüStV a.F.; § 10 Abs. 2 GlüStV; § 5 Satz 1 AG GlüStV BE

1. Ein Vorlagebeschluss nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i. V. m. § 80 Abs. 2 BVerfGG ist nur dann ausreichend begründet, wenn das vorlegende Gericht umfassend darlegt, aus welchen Gründen es von der Verfassungswidrigkeit der zur Überprüfung gestellten Norm überzeugt ist und wenn es außerdem verdeutlicht, dass die Beantwortung der Verfassungsfrage unerlässlich für die Entscheidung über das Ausgangsverfahren ist.

2. Um hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage den Begründungsanforderungen zu genügen, muss das Gericht sich insoweit eingehend mit der Rechtslage auseinandersetzen und die in Literatur und Rechtsprechung entwickelten Rechtsauffassungen berücksichtigen, soweit diese für die Entscheidungserheblichkeit von Bedeutung sein können.

3. Ist ein Gericht im Rahmen eines Strafverfahrens wegen eines Vorwurfs nach § 284 Abs. 1 StGB der Auffassung, ein durch die genannte Vorschrift strafbewehrtes staatliches Sportwettenmonopol verletze einen für einen österreichischen Wettanbieter tätigen türkischen Staatsangehörigen in dessen durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit, so ist zur Darlegung einer Entscheidungserheblichkeit auch eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit im Bereich der Sportwetten erforderlich.

4. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs beschränkt ein strafbewehrtes Verbot der Vermittlung von Wetten eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Anbieters unabhängig von dessen Staatsangehörigkeit das Recht des Wettanbieters auf freien Dienstleistungsverkehr. Eine mögliche unionsrechtliche Unanwendbarkeit der das Sportwettmonopol begründenden Vorschriften könnte zur Folge haben, dass der Strafanspruch aus § 284 StGB entfiele, ohne dass es auf eine eventuelle Verfassungswidrigkeit des Wettmonopols ankäme.

5. An der Entscheidungserheblichkeit der möglichen Verfassungswidrigkeit eines Wettmonopols fehlt es auch dann, wenn – was das vorlegende Gericht zu erörtern hat – das dem Beschuldigten zur Last gelegte Verhalten nicht nur unter § 284 StGB fällt, sondern möglicherweise als Verstoß gegen das Verbot des Veranstaltens und Vermittelns von Glücksspielen im Internet (auch) nach § 4 Abs. 4 GlüStV a. F. strafbar ist.


Entscheidung

976. BGH III ZR 405/12 – Urteil vom 19. September 2013 (OLG Karlsruhe)

BGHR; Schadensersatz und Passivlegitimation im Fall der nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung (Verstoß gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheit und das Gesetzlichkeitsprinzip).

§ 67d StGB; Art. 5 Abs. 1, Abs. 5 EMRK; Art. 7 Abs. 1 EMRK

1. Zum Schadensersatz und zur Passivlegitimation bei unter Verstoß gegen Art. 5 Abs. 1, 5, Art. 7 Abs. 1 EMRK nachträglich verlängerter Sicherungsverwahrung. (BGHR)

2. Art. 5 Abs. 5 EMRK gewährt dem Betroffenen einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch wegen rechtswidriger Freiheitsbeschränkungen durch die öffentliche Hand, der vom Verschulden der handelnden Amtsträger unabhängig ist (Bearbeiter)

3. Die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung stellt keine „rechtmäßige“ Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EMRK dar. Denn die nachträgliche Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung verstößt gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK (EGMR aaO Rn. 117 ff, 135, 137). Der Freiheitsentzug ist zudem nicht mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 (auch i.V.m. Art. 20 Abs. 3), 104 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar. (Bearbeiter)

4. Aus dem Umstand, dass die BRD im Verfahren der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK als Vertragspartei Beschwerdegegner ist, folgt nicht, dass nur sie innerstaatlich passiv legitimiert ist. Im Rahmen der innerstaatlichen Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ist die Frage der Person des Verpflichteten durch Anwendung des Art. 34 GG zu klären. Danach ist der Hoheitsträger (Bund, Land oder sonstige Gebietskörperschaft) verantwortlich, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt wurde. (Bearbeiter)

5. Die Bemessung eines immateriellen Schadens ist grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters, der hier durch § 287 ZPO besonders freigestellt ist. Sie kann vom Revisionsgericht nur darauf überprüft werden, ob die Festsetzung Rechtsfehler enthält, insbesondere ob das Gericht sich mit allen für die Bemessung der Entschädigung maßgeblichen Umständen ausreichend auseinandergesetzt und um eine angemessene Beziehung der Entschädigung zu Art und Dauer der Beeinträchtigungen bemüht hat. Dies gilt auch im Fall des Art. 5 Abs. 5 EMRK. Es ist insoweit nicht zu beanstanden, wenn sich die Instanzgerichte an der Bemessungspraxis des EGMR in vergleichbaren Fällen orientieren. (Bearbeiter)

6. Es bleibt offen, ob § 839 Abs. 3 BGB oder § 254 BGB – der ebenfalls gebieten kann, einen belastenden hoheitlichen Akt durch geeignete Rechtsbehelfe abzuwehren – auf einen Anspruch aus Art. 5 Abs. 5 EMRK anwendbar sind. Hat das Bundesverfassungsgericht die Anwendung der streitgegenständlichen Regelungen mit einem Urteil in Übereinstimmung mit der fachgerichtlichen Rechtsprechung zunächst als rechtmäßig beurteilt, kann dem Betroffenen nicht vorgehalten werden, er sei dagegen schuldhaft nicht eingeschritten. (Bearbeiter)