HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

November 2013
14. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

999. BGH 4 StR 503/12 - Beschluss vom 12. September 2013 (OLG Koblenz)

BGHSt; Verstoß gegen Vorschriften über Lenk- und Ru

hezeiten im Straßenverkehr (Vorliegen einer Tat prozessualen Sinn bei Ordnungswidrigkeiten: keine Begründung einer Tat im prozessualen Sinn durch Beweismittelvorhaltungspflicht).

§ 8aFPersG; § 1 Abs. 6 Satz 4 FPersV; § 46 OWiG; § 155 Abs. 1 StPO; § 264 StPO

1. Es ist mit § 46 OWiG, § 264 StPO nicht zu vereinbaren, in Bußgeldsachen, die Verstöße gegen die Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr zum Gegenstand haben, mehrere rechtlich selbständige Handlungen im Sinne des § 20 OWiG allein deshalb als eine prozessuale Tat anzusehen, weil der Betroffene sie innerhalb eines Kontroll- oder Überprüfungszeitraums begangen hat. (BGHSt)

2. Im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt über § 46 OWiG der prozessuale Tatbegriff des Strafrechts. Die Tat im strafprozessualen Sinne (§§ 155, 264 StPO) ist der vom Eröffnungsbeschluss betroffene geschichtliche Lebensvorgang einschließlich aller damit zusammenhängenden oder darauf bezogenen Vorkommnisse und tatsächlichen Umstände, die geeignet sind, das in diesen Bereich fallende Tun des Angeklagten unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt als strafbar erscheinen zu lassen (st. Rspr.). Bei Tateinheit liegt stets eine prozessuale Tat vor. Materiell-rechtlich selbständige Taten sind in der Regel auch prozessual selbständig (vgl. BGHSt 35, 14, 19). Ein persönlicher Zusammenhang, die Verletzung des gleichen Rechtsguts oder der Umstand, dass die einzelnen Handlungen Teile eines Gesamtplans sind, reicht nicht, um mehrere selbständige Handlungen im materiell-rechtlichen Sinne zu einer einzigen Tat zu verbinden. (Bearbeiter)

3. Allein die Verpflichtung, die Aufzeichnung, also ein Beweismittel, vorzuhalten und aufzubewahren, kann eine prozessuale Tat nicht begründen. Die Regelungen über Aufzeichnungspflichten und Aufbewahrungsfristen stellen kein geeignetes Kriterium dar, die im Überprüfungszeitraum möglicherweise begangenen materiell-rechtlich selbständigen Verstöße gegen Lenk- und Ruhezeitvorschriften im Straßenverkehr zu einer prozessualen Tat zu verbinden. (Bearbeiter)

4. Die Regelungen über die Aufzeichnung der Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr und deren Aufbewahrung bezwecken nicht die Umgrenzung eines prozessualen Tatzeitraumes, sondern haben einen anderen Hintergrund. Der in § 1 Abs. 6 Satz 4 FPersV bezeichnete Zeitraum von insgesamt 29 Tagen dient der wirksamen Durchsetzung von Straßenkontrollen. Der Zeitraum von 29 Tagen stellt indes keinen abschließenden „Sanktionierungszeitraum“ dar; auch Verstöße außerhalb dieses Zeitrahmens sind ohne weiteres nach § 8a FPersG zu ahnden, sofern nicht die allgemeinen Verjährungsregelungen eingreifen. (Bearbeiter)

5. Ob sich einzelne Verstöße gegen die in Rede stehenden Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten im Straßenverkehr überschneiden und durch dieselbe pflichtwidrige Handlung bzw. Unterlassung begangen worden sind, somit tateinheitlich zusammentreffen oder ob eine prozessuale Tat deshalb vorliegt, weil einzelne materiell-rechtlich selbständige Handlungen nicht ohne Würdigung weiterer Teile des geschichtlichen Vorgangs beurteilt werden können (vgl. BGHSt 49, 359, 362 f.), ist sonach eine Frage des Einzelfalles, die nach allgemeinen Grundsätzen zu beantworten ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

1002. BGH 3 StR 117/12 - Beschluss vom 17. September 2013

Voraussetzungen einer über die gesetzlichen Gebühren hinausgehenden Pauschgebühr des Rechtsanwalts für die Vertretung in der Revisionshauptverhandlung (exorbitanter Mehraufwand).

§ 51 RVG

Die Bewilligung einer Pauschgebühr gemäß § 51 Abs. 1 Satz 1 und 3 RVG stellt die Ausnahme dar; die anwaltliche Mühewaltung muss sich von sonstigen – auch überdurchschnittlichen Sachen - in exorbitanter Weise abheben.


Entscheidung

949. BGH 1 StR 443/10 - Beschluss vom 17. September 2013 (LG München II)

Unbegründeter Antrag auf Entpflichtung des Pflichtverteidigers (zerrüttetes Vertrauensverhältnis: Bedeutung einer ursprünglich nicht geteilten Mitwirkung des Verteidigers an einer Verständigung).

§ 143 StPO; § 257c StPO

1. Die Behauptung, das Vertrauen zwischen Verteidiger und Angeklagten bestehe nicht mehr, kann für sich genommen einen Anspruch auf Widerruf der Bestellung eines Verteidigers nicht begründen. Sie muss auf konkreten Tatsachenvortrag gestützt sein (BGH StraFo 2008, 243 mwN).

2. Dies ist nicht stets dann erfüllt, wenn der Angeklagte als Grund anführt, der Pflichtverteidiger habe gegen seinen ausdrücklich geäußerten Wunsch in der Hauptverhandlung an einer Verständigung mitgewirkt. So liegt es jedenfalls dann, wenn der Angeklagte im Revisionsverfahren zur Begründung der Revision noch vortragen lässt, sowohl der Pflichtverteidiger als auch er selbst hätten dem Verständigungsvorschlag des Gerichts seinerzeit ausdrücklich zugestimmt; und sich sodann von diesem Pflichtverteidiger weiter verteidigen lässt.


Entscheidung

978. BGH 1 StR 378/13 - Beschluss vom 22. August 2013 (LG Hof)

Beweiswürdigung des Tatrichters (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit); Führen eines gefährlichen Gegenstands (Konkurrenz zum Besitzen eines gefährlichen Gegenstands); Aufhebung des Urteils auch gegenüber einem nicht revidierenden Mitangeklagten.

§ 261 StPO; § 52 Abs. 1 Nr. 1 WaffG; § 357 Satz 1 StPO

1. Das Revisionsgericht muss die subjektive Überzeugung des Tatrichters von dem Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts grundsätzlich hinnehmen. Ebenso ist es ihm verwehrt, seine eigene Überzeugung an die Stelle der tatgerichtlichen Überzeugung zu setzen (st. Rspr.). Allerdings kann und muss vom Revisionsgericht überprüft werden, ob die Überzeugung des Tatrichters in den getroffenen Feststellungen und der ihnen zugrunde liegenden Beweiswürdigung eine ausreichende objektive Grundlage findet. Die entsprechenden Grundlagen müssen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Deshalb müssen die Urteilsgründe des Tatgerichts erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatrichter gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, die letztlich nicht mehr als einen Verdacht zu begründen vermag.

2. Das Führen eines gefährlichen Gegenstands steht mit seinem Besitz regelmäßig in Tateinheit. Wird die tatsächliche Gewalt über einen verbotenen Gegenstand aber nur außerhalb der eigenen Wohnung ausgeübt, kommt nur eine Verurteilung wegen Führens in Betracht.


Entscheidung

977. BGH 1 StR 305/13 - Beschluss vom 30. September 2013 (LG Karlsruhe)

Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit (Zulässigkeit: Präklusion, Verbindung mit Anhörungsrüge).

§ 24 Abs. 1 StPO; § 25Abs. 2 Satz 2 StPO; § 26a Abs. 1 Nr. 1 StPO; § 356a StPO

Entscheidet das Gericht über die Revision außerhalb der Hauptverhandlung im Beschlusswege, kann ein Ablehnungsgesuch in entsprechender Anwendung des § 25 Abs. 2 Satz 2 StPO nur solange statthaft vorgebracht werden, bis die Entscheidung ergangen ist (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 314). Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn die Ablehnung mit einer Anhörungsrüge verbunden wird, die sich mangels Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 GG als unbegründet erweist.


Entscheidung

987. BGH 2 StR 311/13 - Beschluss vom 21. August 2013 (LG Aachen)

Begriff der angeklagten Tat (Individualisierbarkeit auch bei Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums).

§ 264 Abs. 1 StPO

Gemäß § 264 Abs. 1 StPO ist Gegenstand der Urteilsfindung „die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Verhandlung darstellt.“ Zwar braucht eine Veränderung oder Erweiterung des Tatzeitraums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilter Tat nicht aufzuheben, wenn die in der Anklage beschriebene Tat unabhängig von der Tatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert und dadurch weiterhin als einmaliges, unverwechselbares Geschehen gekennzeichnet ist (vgl. BGHSt 46, 130). Bei gleichartigen, nicht durch andere individuelle Tatmerkmale als die Tatzeit unterscheidbaren Serientaten heben dagegen Veränderungen und Erweiterungen des Tatzeitraumes die Identität zwischen angeklagten und abgeurteilten Taten auf.


Entscheidung

997. BGH 4 StR 311/13 - Beschluss vom 27. August 2013 (LG Stendal)

Form des Revisionsantrages (entbehrliche ausdrückliche Bezeichnung); Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (Zustand der (verminderten) Schuldunfähigkeit; Gefährlichkeitsprognose: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz).

§ 344 Abs. 1 StPO; § 63 StGB; § 62 StGB

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Fehlen eines ausdrücklichen Antrags im Sinne des § 344 Abs. 1 StPO unschädlich, wenn sich der Umfang der Anfechtung aus dem Inhalt der Revisionsbegründung ergibt. Dabei genügt es, wenn die Ausführungen des Beschwerdeführers erkennen lassen, dass er das tatrichterliche Urteil insgesamt angreift (vgl. BGH StV 2004, 120 mwN).

2. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat(en) aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht (vgl. BGH NStZ-RR

2009, 198). Dieser Zustand muss, um eine Gefährlichkeitsprognose tragen zu können, von längerer Dauer sein (vgl. BGHSt 34, 22, 27).

3. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades dafür besteht, dass der Täter infolge seines Zustandes in Zukunft Taten begehen wird, die eine schwere Störung des Rechtsfriedens zur Folge haben (vgl. BGH NStZ-RR 2011, 240, 241). Dies hat der Tatrichter anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles zu entscheiden (vgl. BGH StV 2002, 477 f.). Sind die zu erwartenden Delikte nicht wenigstens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzuordnen, ist diese Voraussetzung nur in Ausnahmefällen begründbar (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 303, 304). Die erforderliche Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln An diese Darlegungen sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (vgl. BGH NStZ-RR 2012, 337, 338).


Entscheidung

989. BGH 2 StR 397/13 - Beschluss vom 24. September 2013 (LG Mainz)

Revisionsbeschränkung unter Ausklammerung der Maßregelanordnung (Zulässigkeit); Vorwegvollzug der Strafe bei gleichzeitiger Maßregelanordnung (Berechnung des Vorwegvollzugs: keine Einbeziehung erlittener Untersuchungshaft).

§ 344 Abs. 1 StPO; § 67 Abs. 2 StGB

1. Eine Beschränkung der Revision nach § 344 Abs. 1 StPO ist nur zulässig, soweit die Beschwerdepunkte nach dem inneren Zusammenhang des Urteils - losgelöst von seinem nicht angefochtenen Teil - tatsächlich und rechtlich unabhängig beurteilt werden können, ohne eine Überprüfung des Urteils im Übrigen erforderlich zu machen. Weiter muss gewährleistet sein, dass die nach Teilanfechtung stufenweise entstehende Gesamtentscheidung frei von inneren Widersprüchen bleiben kann (vgl. BGHSt 29, 359, 365 f.). Die Revisionsbeschränkung unter Ausklammerung eines Maßregelausspruchs ist deshalb unwirksam, wenn zugleich der Schuldspruch angegriffen wird, der von der Maßregelfrage nicht getrennt werden kann; die Feststellung einer Symptomtat ist unerlässliche Voraussetzung der Maßregelanordnung und damit auch für die Anordnung des Vorwegvollzugs (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 171, 172).

2. Erlittene Untersuchungshaft hat bei der Bestimmung des teilweisen Vorwegvollzugs der Strafe nach § 67 Abs. 2 StGB außer Betracht zu bleiben, weil Untersuchungshaft im Vollstreckungsverfahren auf den vor der Unterbringung zu vollziehenden Teil der Strafe angerechnet wird (vgl. BGH NStZ-RR 2010, 171, 172).


Entscheidung

947. BGH 1 StR 369/13 - Beschluss vom 2. September 2013 (LG Deggendorf)

Unwirksame Ermächtigung zur Revisionsrücknahme durch den Betreuer; begrenzte Kompetenz des Tatgerichts zur Verwerfung der Revision als unzulässig (vorgreifliche Beurteilung einer Rechtsmittelzurücknahme).

§ 302 Abs. 2 StPO; § 346 Abs. 1 StPO; § 349 Abs. 1 StPO

1. Ist auch die vorgreifliche Frage der Wirksamkeit der Rechtsmittelrücknahme zu prüfen war, obliegt die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtsmittels dem Revisionsgericht.

2. Die Zustimmung des Betreuers stellt keine ausdrückliche Ermächtigung zur Rechtsmittelzurücknahme dar, weil sein Aufgabenbereich die Vertretung in Strafsachen nicht umfasst.