HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2013
14. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Vom (noch) verfassungsgemäßen Gesetz über den defizitären Vollzug zum verfassungswidrigen Zustand

Anmerkung zu BVerfG HRRS 2013 Nr. 222

Von RiOLG aD Prof. Dr. Gerhard Fezer, Hamburg

I.

Nun zieht also auch noch das BVerfG ins Feld, um die renitente strafgerichtliche Praxis zu disziplinieren. Bislang konnten weder der 4. Strafsenat noch der Große Senat des BGH noch das Verständigungsgesetz verhindern, dass Absprachen vielfach die normativen Grenzen überschreiten.

Die drei Verfassungsbeschwerden, die vorliegend der 2. Senat gemeinsam verhandelt und entschieden hat, geben etwas Einblick in die "großzügige" strafgerichtliche Absprachen-Praxis. Das BVerfG hat denn auch zu Recht die Verurteilungen aller drei Beschwerdeführer aufgehoben. Das war eine einfache Angelegenheit, verglichen mit den immensen Schwierigkeiten, die der Zweite Senat mit den beiden Verfassungsbeschwerden hatte, soweit sie sich auch gegen die Normen des Verständigungsgesetzes richteten.

Der Senat hat sich hier über das erwartete und selbstverständliche Maß hinaus engagiert. Sein besonderes Anliegen war es offensichtlich, in die Grundlagen der Verständigung verfassungsrechtliche Klärung zu bringen (darauf soll sich auch diese Anmerkung beschränken). Als zweiten Schwerpunkt enthält die Entscheidung sehr gründliche Ausführungen zu den sogenannten Schutz- und Kontrollvorschriften, die das ganze Verständigungsgesetz durchziehen. Der 2. Senat kommt immer wieder auf sie zu sprechen, wobei er allerdings auf Eines nicht ausdrücklich hinweist: diese Normen können dort nicht helfen, wo in einem konkreten Fall die Wahrheitsfindung dadurch gefährdet ist, dass Verständigungselemente es erlauben, ein Geständnis "großzügig" zu würdigen.

Insgesamt sind die Urteilsgründe nicht - wie man es sonst beim BVerfG doch häufiger erlebt - "aus einem Guss". Gelegentlich bereitet das Argumentieren offensichtlich Mühe, wie überhaupt ein leichtes "Fremdeln" in der Welt des Strafverfahrens zu spüren ist.

II.

Mit einer methodischen Besonderheit beginnt der Abschnitt B: Im Unterabschn. I (Rz. 53-63) bietet der Senat in durchgängig abstrakter Form - also ohne jegliche zwischenzeitliche Subsumtion - eine Zusammenstellung der wesentlichen strafrechtlichen und strafprozessualen Grundsätze. Der etwas gravitätisch wirkende Ernst soll ersichtlich Eindruck machen und die Bedeutung und die Wichtigkeit des Grundsatzes der Wahrheitsfindung stärken. So heißt es kurz und bündig in Rz. 56: "Zentrales

Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhaltes, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt...".

Damit sind die Weichen für die im Abschnitt B II folgende verfassungsrechtliche Prüfung des Verständigungsgesetzes gestellt. Die Pflicht, die materielle Wahrheit zu erforschen, wird auch in diesem Abschnitt in wechselnden Formulierungen immer wieder hervor gehoben (Rz. 64, 65, 67 u. ö.). Vor allem weist der Senat darauf hin, dass die Geltung des § 244 II StPO in § 257c StPO ausdrücklich geregelt sei. Für die Behandlung eines Geständnisses bedeutet dies: "Vor dem Hintergrund des Regelungsziels, die Grundsätze der Amtsaufklärungspflicht des Gerichts und der richterlichen Überzeugungsbildung unangetastet zu lassen, kann § 257c Abs. 1 Satz 2 StPO zudem nur so verstanden werden, dass das verständigungsbasierte Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen ist" (Rz. 71).

Diese und ähnliche Formulierungen schließen an sich aus, dass es überhaupt irgendwelche Erleichterungen bei der Kontrolle eines Geständnisses geben darf. Ein Gesetz, das eben solche Erleichterungen vorsieht oder ermöglicht, müsste dann aber folgerichtig - wegen seines Widerspruchs zum Aufklärungsgrundsatz - als verfassungswidrig eingestuft werden. Vor dieser Konsequenz schreckt das BVerfG jedoch einstweilen noch zurück. Die Argumentation, mit der der 2. Senat den Amtsaufklärungsgrundsatz und vereinfachte Kontrolluntersuchungen verfassungsrechtlich in Einklang bringen will, führt ihn allerdings in dieselben Fallstricke, in denen sich auch bereits der Gesetzgeber und vor diesem der Große Senat des BGH verhakt haben.

An dieser Stelle ist das BVerfG - so hart das Wort auch klingen mag - auf Grund gelaufen: Die Lösung der Problematik darf nicht innerhalb des Amtsaufklärungsgrundsatzes erfolgen. Entweder bleibt das Verständigungselement als besonderes Element ein Fremdkörper im Strafverfahren oder es muss sich dem Gehalt des § 244 II StPO unterwerfen, also seinen Charakter eines eigenständigen konsensualen Elements verlieren. Auch dem Senat gelingt die Zusammenführung von Wahrheitsfindung und Verständigung allenfalls auf sprachlicher Ebene: So ist die Rede von einer "Integration" (die nicht weiter erläutert wird), oder auch von einem "Raum" für ein Verständigungselement, der je nach Auffassung enger oder weiter sein kann (der 2. Senat sieht diesen Raum jetzt "spürbar eingeengt").

Nach alldem führt der Versuch, die Verständigung mit dem Wahrheitsprinzip in Einklang zu bringen, entgegen der Auffassung des 2. Senats in eine "unauflösbare innere Widersprüchlichkeit der Norm selbst" (Rz. 72). Für ihn geht es dagegen nur um folgende Auswirkungen: Die Einfügung von Verständigungsmöglichkeiten in das System des geltenden Strafprozessrechts habe zur Konsequenz, dass der Anwendungsbereich der bis dahin ohne gesetzliche Grundlage praktizierten Verständigung beschränkt wurde. Damit würde es auch zu weniger Verfahrensabkürzungen kommen. Dass und wie sehr die Strafgerichtsbarkeit dadurch zusätzlich belastet würde, interessiert den 2. Senat aber in keiner Weise.

Verfassungsrechtliche Relevanz könnten dagegen die Auswirkungen des Beschleunigungsgrundsatzes erhalten. Der Große Senat des BGH hatte jedenfalls überlegt, ob nicht das Beschleunigungsgebot und der Grundsatz der Verfahrensökonomie herangezogen werden könnten, wenn es darum geht, die Belastung der Strafjustiz deutlich zu verringern (BGHSt 50, 40, 54 = HRRS 2005 Nr. 310). Dass dies letztlich kein guter Einfall war, liegt auf der Hand - aber darum geht es in diesem Zusammenhang nicht. Wichtig ist vielmehr Folgendes: Diese Überlegungen zeigen, dass der BGH die Überlastungen der Strafjustiz sehr wohl registriert hat und als Abhilfe sogar den Untersuchungsgrundsatz einschränken wollte. Eine ganz andere Auffassung von der Funktion des Beschleunigungsgrundsatzes vertritt nun aber das BVerfG (Rz. 59 a.E.):

"... denn unnötige Verfahrensverzögerungen stellen nicht nur die Effektivität des Rechtsschutzes und die Zwecke der Kriminalstrafe in Frage, sondern beeinträchtigen, da die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann, auch die Verwirklichung der verfassungsrechtlichen Pflicht zur bestmöglichen Erforschung der materiellen Wahrheit ...".

Das heißt: der Beschleunigungsgrundsatz steht im Dienste der Wahrheitsfindung und nicht umgekehrt (die Beschleunigung des Verfahrens darf also nicht auch zu Lasten der optimalen Aufklärung des Sachverhalts gehen).

Weil das Urteil des 2. Senats ausschließlich normativ ausgerichtet ist, wirkt es insgesamt etwas weltfremd, gleichsam zwischen Erde und Himmel schwebend. So fällt auch auf, dass in keiner Weise nach den tatsächlichen Ursachen der Mißachtung der gesetzlichen Regelung gefragt wird.

III.

Das wirkliche Problem der Entscheidung liegt woanders: Der 2. Senat stellt auf Grund von rechtstatsächlichen Erhebungen in aller Nüchternheit fest (Rz. 116): Der Vollzug des Verständigungsgesetzes sei in erheblichem Maße defizitär.

Für die verfassungsrechtliche Beurteilung des Verständigungsgesetzes selbst wirke sich das aber nicht weiter aus, weil das Vollzugsdefizit seine Ursache nicht in einer "Schutzlücke" des Gesetzes habe. Dies sei allerdings nur "derzeit" so, weil die bisherige Geltungsdauer des Verständigungsgesetzes sehr kurz sei. (Dabei wird aber übersehen, dass dieses Gesetz sich inhaltlich ganz entschieden anlehnt an die langjährige Praktizierung von Verständigungen). Der Senat empfiehlt dem Gesetzgeber die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge zu behalten. Zwingend ist diese Verschiebung der endgültigen Beurteilung auf die Zukunft nicht. Der 2. Senat hätte mit guten Gründen bereits jetzt eine endgültige Entscheidung treffen können und zwar - je nach dogmatischer Bedeutung des "Vollzugsdefizits" - sowohl mit dem Ergebnis "verfassungsgemäß" als auch mit dem Ergebnis der Verfassungswidrigkeit. Diese beiden Möglichkeiten

gibt es, da die Auswirkungen des Vollzugsdefizits auf das Verständigungsgesetz selbst unterschiedlich beurteilt werden können.

Die Frage ist, warum der 2. Senat unbedingt noch einige Jahre warten will, denn das veranlasste ihn zu verfassungsrechtlichen und strafprozessualen Konstruktionen, die sich auch bei mehrfacher Lektüre letztlich nicht erschließen. Die Probleme beginnen damit, dass der Senat dem Gesetzgeber aufgibt, die weitere Entwicklung "sorgfältig im Auge zu behalten". Was darunter konkret zu verstehen ist, bleibt völlig unklar. Das Ergebnis von solchen "Beobachtungen" soll immerhin maßgebend sein für eine eventuelle Tätigkeit des Gesetzgebers: Wenn sich die Praxis weiterhin über die gesetzlichen Regelungen hinwegsetze, dann müsse, wenn anders das festgestellte Vollzugsdefizit nicht beseitigt werden könne, der Gesetzgeber handeln: Er müsse der Fehlentwicklung dann durch geeignete Maßnahmen entgegenwirken (Rz. 129).

Dazu ist zu sagen: Maßnahmen des Gesetzgebers können nur Gesetze sein (er könnte sie erlassen, ändern, aufheben). Der Senat selber hält jedoch das Verständigungsgesetz für sich genommen für verfassungsrechtlich einwandfrei, so dass sich überhaupt nicht erschließt, welche Maßnahmen "entgegen wirken" sollen. Der Senat meint: "Unterbliebe dies, träte ein verfassungswidriger Zustand ein". Damit ist die Möglichkeit der Verfassungswidrigkeit auf völlig neuartige Weise verankert: Sie liegt in einem Unterlassen des Gesetzgebers. An dieser Stelle fragt man sich besonders, warum eine Fehlentwicklung so lange nur beobachtet werden soll, damit irgendwann das fehlende "Entgegenwirken" beanstandet werden kann. Dann wäre es doch einfacher, das BVerfG würde das derzeit bereits festgestellte Vollzugsdefizit zum Anlass nehmen, selbst zu entscheiden.

So sollte eine Entscheidung des BVerfG nicht begründet werden. Man ist fast versucht zu vermuten, dass das BVerfG ein Ziel verfolgt, das sich anders gar nicht erreichen lässt. Dieses Ziel könnte sein, dass das BVerfG selbst mit seiner ganzen Autorität versucht zu "beobachten" und anhand von "passenden" Verfahren seine Auslegung des Verständigungsgesetzes weiter absichern wollte. Dies wäre nicht möglich, wenn vorliegend das BVerfG in der einen oder anderen Richtung abschließend entschieden hätte.

IV.

Der Blick in die Zukunft wird dadurch erschwert, daß das BVerfG die Strafjustiz unter Beobachtung gestellt hat. Im Grunde genommen hängt das Schicksal des Verständigungsgesetzes vom Verhalten der Strafgerichte ab. Bleibt alles beim alten, und dafür spricht die jahrelange Erfahrung, setzt sich also die Strafjustiz über die gesetzlichen Regelungen weiterhin hinweg, tritt zunächst einmal ein "verfassungswidriger Zustand" ein. Welches Organ der Strafrechtspflege dann die Initiative ergreift, und auf welche Weise besagter Zustand beseitigt wird, ist völlig unklar. In der Sache selbst wird wieder deutlich, daß die vom BVerfG mit Verfassungsrang versehene Koppelung zwischen Wahrheitsprinzip und Schuldgrundsatz einem auf Verständigung basierenden Verfahrensmodell permanent entgegensteht.