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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2013
14. Jahrgang
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1. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aufgestellte Grundsatz ne bis in idem hindert einen Mitgliedstaat nicht daran, zur Ahndung derselben Tat der Nichtbeachtung von Erklärungspflichten im Bereich der Mehrwertsteuer eine steuerliche Sanktion und danach eine strafrechtliche Sanktion zu verhängen, sofern die erste Sanktion keinen strafrechtlichen Charakter hat, was vom nationalen Gericht zu prüfen ist. (EuGH)
2. Das Unionsrecht regelt nicht das Verhältnis zwischen der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Euro
päischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und bestimmt auch nicht, welche Konsequenzen ein nationales Gericht aus einem Widerspruch zwischen den durch diese Konvention gewährleisteten Rechten und einer nationalen Rechtsvorschrift zu ziehen hat. (EuGH)
3. Das Unionsrecht steht einer Gerichtspraxis entgegen, die die Verpflichtung des nationalen Gerichts, Vorschriften, die gegen ein durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiertes Grundrecht verstoßen, unangewendet zu lassen, davon abhängig macht, dass sich dieser Verstoß klar aus den betreffenden Rechtsvorschriften oder der entsprechenden Rechtsprechung ergibt, da sie dem nationalen Gericht die Befugnis abspricht – gegebenenfalls in Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof der Europäischen Union – die Vereinbarkeit dieser Bestimmung mit der Charta umfassend zu beurteilen. (EuGH)
4. Art. 51 I GRC bestätigt die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Frage, inwieweit das Handeln der Mitgliedstaaten den Anforderungen genügen muss, die sich aus den in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechten ergeben. Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich im Wesentlichen, dass die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Sobald eine Vorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens angerufene Gerichtshof dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert. (Bearbeiter)
5. Steuerliche Sanktionen und ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung wegen unrichtiger Angaben zur Mehrwertsteuer sind als Durchführung des Unionsrechts im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta anzusehen. In Bezug auf die Mehrwertsteuer ist jeder Mitgliedstaat durch Unionsrecht verpflichtet, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in seinem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen. Da die Eigenmittel der Union u. a. die Einnahmen umfassen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf die nach den Unionsvorschriften bestimmte einheitliche Mehrwertsteuer-Eigenmittelbemessungsgrundlage ergeben, besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Erhebung der Mehrwertsteuereinnahmen unter Beachtung des einschlägigen Unionsrechts und der Zurverfügungstellung entsprechender Mehrwertsteuermittel für den Haushalt der Union, da jedes Versäumnis bei der Erhebung Ersterer potenziell zu einer Verringerung Letzterer führt. (Bearbeiter)
6. Hat das Gericht eines Mitgliedstaats zu prüfen, ob eine nationale Vorschrift oder Maßnahme mit den Grundrechten vereinbar ist, die in einer Situation, in der das Handeln eines Mitgliedstaats nicht vollständig durch das Unionsrecht bestimmt wird, das Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführt, steht es den nationalen Behörden und Gerichten weiterhin frei, nationale Schutzstandards für die Grundrechte anzuwenden, sofern durch diese Anwendung weder das Schutzniveau der Charta, wie sie vom Gerichtshof ausgelegt wird, noch der Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt werden. (Bearbeiter)
7. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur von Steuerzuschlägen sind drei Kriterien maßgeblich: erstens die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht, zweitens die Art der Zuwiderhandlung und drittens die Art und der Schweregrad der angedrohten Sanktion. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, im Licht dieser Kriterien zu beurteilen, ob die nach nationalem Recht vorgesehene Kumulierung von steuerlichen und strafrechtlichen Sanktionen zulässig ist. Dies kann das Gericht unter Umständen zu dem Ergebnis führen kann, dass diese Kumulierung gegen diese Standards verstößt, sofern die verbleibenden Sanktionen wirksam, angemessen und abschreckend sind. (Bearbeiter)
8. Die durch die EMRK anerkannten Grundrechte sind, wie Art. 6 Abs. 3 EUV bestätigt, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Nach Art. 52 III GRC entsprechen die in dieser enthaltenen Rechte den durch die EMRK garantierten Rechten, die eine gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen werden. Die EMRK ist aber, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen wurde. (Bearbeiter)
9. Die dem Gerichtshof im Rahmen des Art. 267 AEUV übertragene Aufgabe besteht darin, zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten beizutragen, nicht aber darin, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben. (Bearbeiter)
1. § 66b Abs. 1 StGB a. F. verstößt nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326 <330> = HRRS 2011 Nr. 488), wie die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung insgesamt, gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG herzuleitende Abstandsgebot. Die Vorschrift darf längstens bis zum 31. Mai 2013 und nur nach Maßgabe der in dem Urteil getroffenen Weitergeltungsanordnung angewendet werden. Danach ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung in der Regel nur verhältnismäßig, wenn von dem Verurteilten eine konkrete Gefahr schwerer Gewalt- oder Sexualstraftaten ausgeht.
2. Soweit eine Vorschrift darüber hinaus ein nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 20 Abs. 3 GG schutzwürdiges Vertrau-
en des Betroffenen beeinträchtigt, ist dessen (weitere) Unterbringung in der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 nur noch dann verhältnismäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in seiner Person oder seinem Verhalten abzuleiten ist und wenn bei ihm eine psychische Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes besteht.
3. Auch in Konstellationen, in denen über die in dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 genannten Fälle hinaus die Anwendung einer Norm in ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen eingreift, sind die Gerichte bis zu einer Neuregelung des Rechts der Sicherungsverwahrung gehalten, die Sicherungsverwahrung nur noch dann anzuordnen oder aufrechtzuerhalten, wenn die genannten erhöhten Verhältnismäßigkeitsanforderungen erfüllt sind (Bezugnahme auf BVerfGE 129, 37 <47> = HRRS 2011 Nr. 740). Bei der Gewichtung der betroffenen Vertrauensschutzbelange ist auch Art. 5 EMRK zu berücksichtigen.
4. § 66b Abs. 1 StGB a. F. greift in das verfassungsrechtlich geschützte Vertrauen des Verurteilten ein, weil die Norm bereits tatbestandlich eine nachträgliche Anordnung und Aufrechterhaltung der Sicherungsverwahrung auf der Grundlage lediglich der ursprünglichen tatgerichtlichen Schuldfeststellung ermöglicht, obwohl die Sicherungsverwahrung im Ausgangsurteil weder verhängt noch vorbehalten worden ist. Vertrauensschutzgesichtspunkte sind daher auch in sog. „Neufällen“ berührt, wenn die Anlasstaten, auf denen das Ausgangsurteil beruht, nach Inkrafttreten der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung begangen worden sind.