HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2012
13. Jahrgang
PDF-Download

IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

1044. BGH 1 StR 137/12 – Beschluss vom 23. Oktober 2012 (LG Mannheim)

Verwertungsverbot bei berechtigter Zeugnisverweigerung in der Hauptverhandlung und Verlesung der Verschriftung eines in einer früheren Vernehmung übergebenen Tonbandes (Zeugnisverweigerungsrecht; Angriffsrichtung der Rüge; Ausschluss des Beruhens).

§ 52 StPO; § 252 StPO; § 337 StPO

1. Nach den vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätzen erstreckt sich das Verwertungsverbot des § 252 StPO auch auf Schriftstücke, die der aussageverweigerungsberechtigte Zeuge bei seiner Vernehmung übergeben und auf die er sich bezogen hat. Solche Schriftstücke werden Bestandteil der Aussage. Daran hält der Senat fest.

2. In gleicher Weise gilt dies für die Tonbandaufzeichnung über ein vom Zeugen mitgehörtes Gespräch, dessen Inhalt der Zeuge bei seiner Aussage hätte wiedergeben können.

3. Die Verwertbarkeit einer Tonbandaufnahme ergibt sich auch nicht daraus, dass diese spontan, aus eigener Initiative des Zeugen und ohne gezielte Nachfrage der Ermittlungsbeamten entstanden ist.

4. Vom Verwertungsverbot des § 252 StPO sind solche Äußerungen ausgenommen, die außerhalb einer Vernehmung gemacht worden sind, die also nicht im Zusammenhang mit einer Vernehmung gemacht wurden. Das „freiwillige Erscheinen“ des Zeugen zu einer Vernehmung vermag aber ebenso wenig wie eine unterlassene Zeugenbelehrung eine vom Verwertungsverbot des § 252 StPO nicht umfasste Spontanäußerung im Sinne der angesprochenen Rechtsprechung zu begründen.


Entscheidung

1075. BGH 4 StR 170/12 – Urteil vom 25. Oktober 2012 (LG Dessau-Roßlau)

Anforderungen an einen tragfähigen Freispruch vom Vorwurf der Tötung eines Kleinkindes (Tötungsvorsatz; fehlende Feststellungen zur Person; Gesamtwürdigung; Bedeutung einer Verständigung: Überprüfung und Bewertung einer abgesprochenen Einlassung).

§ 212 StGB; § 15 StGB; § 267 Abs. 5 StPO; § 257c StPO

1. Auch ein freisprechendes Urteil muss Feststellungen zu Werdegang, Vorleben und Persönlichkeit des Angeklagten enthalten, wenn diese für die Beurteilung des Tatvorwurfs eine Rolle spielen können und deshalb zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind; das ist auch dann der Fall, wenn vom Tatrichter getroffene Feststellungen zum Tatgeschehen ohne solche zu den persönlichen Verhältnissen nicht in jeder Hinsicht nachvollziehbar und deshalb lückenhaft sind (Anwendung auf den Vorwurf der Tötung eines Kleinkindes der Lebensgefährtin).

2. Es ist regelmäßig verfehlt, die Einlassung des Angeklagten und die Aussagen sämtlicher Zeugen und Sachverständigen der Reihe nach und in ihren Einzelheiten mitzuteilen. Das kann die Besorgnis begründen, der Tatrichter sei davon ausgegangen, eine breite Darstellung der erhobenen Beweise könne die gebotene eigenverantwortliche Würdigung ersetzen. Darin liegt regelmäßig ein Rechtsfehler. Vielmehr muss eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung eine Abwägung und Gewichtung der einzelnen Beweise enthalten.

3. Eine Verständigung über das Strafmaß darf nicht dazu führen, dass ein so zustande gekommenes Geständnis dem Schuldspruch zu Grunde gelegt wird, ohne dass sich der Tatrichter von dessen Richtigkeit überzeugt. Auch für die Bewertung eines Geständnisses gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung.

4. Bei der Bewertung, die Einlassung des Angeklagten vermittle den Eindruck eines mit einem bestimmten Ziel zusammengestellten Konstrukts, darf das Tatgericht nicht stehen bleiben. Sie muss sie mit dem übrigen Beweisergebnis und gegebenenfalls vorhandenen einander widersprechenden Einlassungen des Angeklagten in Beziehung setzen.


Entscheidung

1045. BGH 1 StR 165/12 – Beschluss vom 25. Oktober 2012 (LG Berlin)

Vorläufiges Verfahrenshindernis der Spezialität (Spezialitätsgrundsatz; Nachtragsersuchen entsprechend Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EuAlÜbk).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 6 EMRK; § 205 StPO; § 206a StPO; Art. 14 Abs. 1 Buchst. a EuAlÜbk; Art. 18 Abs. 2 EuAlÜbk

1. Der Verstoß gegen den Grundsatz der Spezialität begründet lediglich ein auch noch in der Revisionsinstanz behebbares Verfahrenshindernis. Er macht weder ein Urteil, noch einen Eröffnungsbeschluss nichtig. Auch ein Haftbefehl wird von einem noch behebbaren Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz nicht in seinem Bestand berührt. Ein bestehender Haftbefehl kann allerdings nicht länger Grundlage freiheitsbeschränkender Maßnahmen sein, solange der Spezialitätsgrundsatz nicht gewahrt ist.

2. Die Beseitigung von behebbaren Verfahrenshindernissen kann aus Gründen der Prozessökonomie und im Hinblick auf die prozessuale Fürsorgepflicht gegenüber dem Beschuldigten geboten sein, um dem Angeklagten eine erneute Anklageerhebung und eine erneute Hauptverhandlung zu ersparen.

3. Die zur Auslieferung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls ergangene Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, nach der sich aus einem Verstoß gegen den Spezialitätsgrundsatz lediglich ein Vollstreckungshindernis und ein Verbot freiheitsbeschränkender Maßnahmen ergibt, findet auf eine Auslieferung aus der Republik Südafrika keine Anwendung.

4. Der Umfang der Spezialitätsbindung des um Auslieferung ersuchenden Staates bestimmt sich nach den Regelungen des EuAlÜbk in Verbindung mit der Auslieferungsbewilligung. Wird eine Teilablehnung vom ersuchten Staat nicht zum Ausdruck gebracht, kann die Auslieferung als im beantragten Umfang bewilligt angesehen werden. Der Umfang der bewilligten Auslieferung bestimmt sich nach dem Inhalt des Rechtshilfeersuchens. Der ersuchte Staat muss zweifelsfrei erkennen können, inwieweit vom ersuchenden Staat Auslieferung begehrt wird.

5. Voraussetzung einer Einstellung nach § 206a Abs. 1 StPO ist das Bestehen eines dauerhaften Verfahrenshindernisses. Die Vorläufigkeit der Einstellung entfällt und das Verfahren ist endgültig einzustellen (§ 206a StPO), wenn sich herausstellt, dass das Verfahrenshindernis dauerhaft ist.


Entscheidung

1078. BGH 4 StR 292/12 – Beschluss vom 23. Oktober 2012 (BGH)

Völlig ungeeignete und daher unzulässige Ablehnungsgesuche gegen (ehemalige) Richter des 4. Strafsenats im Kontext des Besetzungsstreits am Bundesgerichtshof (gesetzlicher Richter; Besorgnis der Befangenheit; Doppelvorsitz).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 19 Abs. 4 GG; § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO analog; § 31 Abs. 1 BVerfGG; 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG

1. Der im Geschäftsverteilungsplan des Bundesgerichtshofs seit dem 1. Januar 2012 dem Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann zugewiesene Vorsitz des 2. und des 4. Strafsenats verstößt weder gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 noch gegen Art. 19 Abs. 4 GG (BVerfG NJW 2012, 2334).

2. Gemäß § 31 Abs. 1 i.V.m. § 93c Abs. 1 Satz 2 BVerfGG binden Tenor und tragende Gründe dieser Entscheidung über die von der Rechtskraft Betroffenen hinaus alle staatlichen Hoheitsträger in vergleichbar gelagerten Parallelfällen (st. Rspr.). Soweit ein Antragsteller sein Gesuch auf die Mitwirkung der abgelehnten Richter an der Umsetzung dieses Präsidiumsbeschlusses stützt, ist der Vortrag einer sachlichen Prüfung durch den Senat entzo-

gen und zur Begründung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeignet.


Entscheidung

1050. BGH 1 StR 261/12 – Beschluss vom 23. Oktober 2012 (LG Karlsruhe)

Ablehnung eines Beweisantrages auf Einholung eines Sachverständigengutachtens wegen Ungeeignetheit (Beruhen; Begriff des Beweisantrages: bestimmte Beweistatsache).

§ 244 Abs. 3 StPO

1. Die für einen Beweisantrag vorzutragende hinreichend bestimmte Beweistatsache liegt nicht vor, wenn widersprüchliche Beweisbehauptungen aufgestellt werden.

2. Ein Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens darf wegen Ungeeignetheit abgelehnt werden, wenn es sich bei der unter Beweis gestellten Tatsache um eine von jedermann ohne besondere Sachkunde festzustellende Tatsache handelt.


Entscheidung

1053. BGH 1 StR 485/12 – Beschluss vom 24. Oktober 2012 (LG Aschaffenburg)

Versuchte Anstiftung zum Mord (Abgrenzung von der Vorbereitung); absoluter Revisionsgrund der örtlichen Unzuständigkeit des Gerichts (Darlegungsvoraussetzungen bei der Verfahrensrüge).

§ 211 StGB; § 30 Abs. 1 StGB; § 338 Nr. 4 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Der Beschwerdeführer muss die Tatsachen, die den behaupteten Verfahrensmangel begründen, so vollständig und genau mitteilen, dass das Revisionsgericht auf Grund der Rechtfertigungsschrift prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorliegt, wenn die behaupteten Tatsachen bewiesen werden. Bei der Rüge der örtlichen Unzuständigkeit des erkennenden Gerichts sind dies neben den im Hinblick auf § 16 StPO zur Vermeidung einer Rügepräklusion erforderlichen Tatsachen alle Umstände, die für die gerichtliche Zuständigkeitsbestimmung im Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses maßgeblich waren. Der Beschwerdeführer darf sich insbesondere nicht auf die Anklage beschränken, sondern muss alle für die Zuständigkeitsbestimmung relevanten Erkenntnisse des Ermittlungsverfahrens vortragen.

2. Die zuständigkeitsbegründenden Umstände müssen nicht „geklärt“ sein; vielmehr genügt es, wenn im Zeitpunkt der Eröffnungsentscheidung hinreichende Anhaltspunkte für die Zuständigkeit vorliegen.