Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Dezember 2012
13. Jahrgang
PDF-Download
1. Ein Händler, der seine Werbung auf in einem bestimmten Mitgliedstaat ansässige Mitglieder der Öffentlichkeit ausrichtet und ein spezifisches Lieferungssystem und spezifische Zahlungsmodalitäten schafft oder für sie zur Verfügung stellt oder dies einem Dritten erlaubt und diese Mitglieder der Öffentlichkeit so in die Lage versetzt, sich Vervielfältigungen von Werken liefern zu lassen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat urheberrecht-
lich geschützt sind, nimmt in dem Mitgliedstaat, in dem die Lieferung erfolgt, eine „Verbreitung an die Öffentlichkeit“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft vor. (EuGH)
2. Die Art. 34 AEUV und 36 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht verbieten, die Beihilfe zum unerlaubten Verbreiten von Vervielfältigungsstücken urheberrechtlich geschützter Werke in Anwendung seiner nationalen Strafvorschriften strafrechtlich zu verfolgen, wenn Vervielfältigungsstücke solcher Werke in dem betreffenden Mitgliedstaat im Rahmen eines Verkaufsgeschäfts an die Öffentlichkeit verbreitet werden, das speziell auf die Öffentlichkeit in diesem Mitgliedstaat ausgerichtet ist und von einem anderen Mitgliedstaat aus abgeschlossen wird, in dem ein urheberrechtlicher Schutz der Werke nicht besteht oder nicht durchsetzbar ist. (EuGH)
3. Der Begriff der „Verbreitung“ in Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie ist im Einklang mit Art. 6 Abs. 1 WCT auszulegen. (Bearbeiter)
4. Soweit die Verschiedenheit der nationalen Rechtsvorschriften über die Schutzfrist hinsichtlich des Urheberrechtsschutzes zu Beschränkungen des Handels innerhalb der Union führen kann, sind diese Beschränkungen nach Art. 36 AEUV gerechtfertigt, wenn sie auf dem Unterschied zwischen den Regelungen beruhen und dieser untrennbar mit dem Bestehen der ausschließlichen Rechte verknüpft ist. Dies gilt erst recht dann, wenn die Verschiedenheit, die zu Beschränkungen des freien Warenverkehrs führt, darauf beruht, dass schützende Rechtsvorschriften in einem dieser Mitgliedstaaten in der Praxis nicht durchsetzbar sind. Die Beschränkung, die einen Händler, der in einem Mitgliedstaat ansässig ist, aufgrund eines strafrechtlich sanktionierten Verbreitungsverbots trifft, das in einem anderen Mitgliedstaat besteht, beruht in derartigen Fällen ebenfalls nicht auf einer Handlung oder auf der Zustimmung des Rechtsinhabers, sondern darauf, dass die Bedingungen des Schutzes der betreffenden Urheberrechte von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind. (Bearbeiter)
1. Aus dem Bestimmtheitsgebot des Art 103 Abs. 2 GG folgt bei der Anwendung des Untreuetatbestandes, dass die Tatbestandsmerkmale der Pflichtwidrigkeit und des Nachteils nicht so weit ausgelegt werden dürfen, dass sie vollständig im jeweils anderen Merkmal aufgehen (Verschleifungsverbot bzw. Entgrenzungsverbot; vgl. BVerfGE 126, 170 = HRRS 2010 Nr. 656).
2. Eine Verurteilung wegen Untreue setzt daher eigenständige Feststellungen zum Nachteil voraus, dessen Ermittlung sich in wirtschaftlich nachvollziehbarer Weise aus den Urteilsgründen ergeben muss und der regelmäßig der Höhe nach zu beziffern ist.
3. Normative Gesichtspunkte dürfen bei der Feststellung des Nachteils eine Rolle spielen, solange sie wirtschaftliche Erwägungen nicht verdrängen und den Charakter der Untreue als Vermögens- und Erfolgsdelikt wahren.
4. Die in der strafrechtlichen Rechtsprechung und Literatur anerkannte Fallgruppe des subjektiven bzw. individuellen Schadenseinschlags trägt zur Konturierung des Nachteilsmerkmals bei und ist daher im Grundsatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
5. Die Aufnahme eines Darlehens für eine Gemeinde durch deren Bürgermeister unter Verstoß gegen das gemeindliche Haushaltsrecht kann trotz des der Gemeinde aufgrund des Darlehensvertrages zur Verfügung stehenden Kreditbetrages grundsätzlich einen Nachteil i. S. d. § 266 Abs. 1 StGB begründen, wenn die Kreditaufnahme aufgrund der konkreten finanziellen Situation der Gemeinde (Überschuldung) wirtschaftlich sachwidrig ist, so dass sie die eingegangenen Zinsverpflichtungen nicht zu kompensieren vermag. Dies setzt allerdings hinreichend eindeutige Darlegungen hierzu im Urteil voraus.
6. Eine Verurteilung wegen Untreue aufgrund der Darlehensaufnahme eines Bürgermeisters für eine Gemeinde verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG, wenn das Urteil lediglich darauf abstellt, dass der Gemeinderat die mit dem Darlehen finanzierten Investitionen möglicherweise nicht ebenso beschlossen hätte, wenn er über die finanzielle Situation der Gemeinde zutreffend informiert gewesen wäre. Diese Argumentation führt in die Nähe einer unzulässigen Verschleifung des Tatbestandsmerkmals der Pflichtverletzung mit dem des Vermögensnachteils. Dieser darf nicht maßgeblich daraus abgeleitet werden, dass der Gemeinderat in seiner Dispositionsfreiheit eingeschränkt wurde.
7. Wenngleich der in Art. 103 Abs. 2 GG zum Ausdruck kommende strenge Gesetzesvorbehalt die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte erhöht, soweit es um die Überschreitung der Grenzen des Strafgesetzes und um die insoweit gebotene inhaltliche Konturierung und Präzisierung der Straftatbestände geht, kann das Bundesverfassungsgericht eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots nur in Fällen handgreiflicher Defizite bei der Auslegung und Anwendung von Strafrechtsnormen feststellen.
1. Zulässigkeitsvoraussetzung einer Verfassungsbeschwerde ist nach § 90 Abs. 2 BVerfGG die vorherige Erschöpfung des Rechtsweges. Dazu gehört auch eine Anhörungsrüge, soweit diese nach dem jeweiligen Verfahrensrecht statthaft und nicht offensichtlich aussichtslos ist.
2. Ein Beschwerdeführer ist jedoch nicht gehalten, Anhörungsrüge zu erheben, wenn er einen Gehörsverstoß durch das erstinstanzliche Gericht rügt und seine Rüge vor dem Beschwerdegericht ohne Erfolg bleibt. Eine Anhörungsrüge ist in diesem Fall vielmehr nur bei einer neuen und eigenständigen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör durch das Beschwerdegericht erforderlich.
3. Art. 19 Abs. 4 GG fordert eine Auslegung und Anwendung von Verfahrensvorschriften in einer Art und Weise, die den Zugang zu den dem Rechtsschutzsuchenden eröffneten Instanzen nicht unzumutbar erschwert.
4. Dieselbe Verpflichtung folgt bei der Entscheidung über einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Versäumnis der Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl auch aus Art. 103 Abs. 1 GG, weil die Möglichkeit, sich rechtliches Gehör zu verschaffen, davon abhängt, ob die Wiedereinsetzung gewährt wird.
5. Ein Strafgericht verletzt die Rechte eines Beschuldigten aus Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG, wenn es ihm die Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist gegen einen Strafbefehl versagt, weil er bei einer nur vorübergehenden, nicht mehr als etwa sechs Wochen dauernden Abwesenheit von seiner ständigen Wohnung keine besonderen Vorkehrungen wegen der möglichen Zustellung eines Strafbefehls getroffen hat. Dies gilt unabhängig davon, ob die Abwesenheit in die allgemeine Ferienzeit fällt und ob der Beschuldigte weiß, dass gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist.