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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2012
13. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Gunnar Duttge, Göttingen
Die dem geltenden Strafgesetzbuch inhärente Differenzierung innerhalb der subjektiven Tatseite zwischen einem auf die Tatumstände (vgl. § 16 Abs. 1 StGB) sowie einem auf die Unrechtsbewertung (vgl. § 17 StGB) bezogenen Anteil ist nicht willkürlich, sondern hat einen tieferen Grund: Dem Rechtsunterworfenen ist bei Unkenntnis der zum jeweiligen gesetzlichen Tatbestand "gehörenden" Umstände von vornherein kein Vermeidemotiv für das von ihm geforderte Vermeideverhalten an die Hand gegeben, was generaliter ausschließt, ihn mit dem vorsatzspezifischen Vorwurf einer "bewussten Entscheidung für die mögliche Rechtsgutsverletzung"[1] (notabene: in der jeweils tatbestandlich geschützten Ausprägung) zu konfrontieren, wohingegen ihm die zutreffende Kognition der schadensträchtigen Tatumstände in aller Regel hinreichenden Anlass gibt, sich auf die (Unrechtsbe-)Wertung der Rechtsordnung zu besinnen und diese zu beachten. Da von ihm in letzterem Fall die Aneignung dessen, was der Gesetzgeber vor Tatbegehung explizit für strafbar erklärt hat (vgl. Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB), schlichtweg erwartet wird, kann ihn erst die "unvermeidbare" Unkenntnis aus seiner Verantwortung für die rechtsgutsverletzende Tat befreien; [2] demgegenüber verfehlt der Appell des Strafgesetzgebers im Falle des Tatsachenirrtums sein Ziel nicht aus Gründen des Rechtsungehorsams oder der Rechtsblindheit, was eine strafende Einwirkung auf den Täter gerade nahelegt, sondern aufgrund einer Missdeutung der lebensweltlich-situativen Gegebenheiten. Diese verstandesmäßige Fehlorientierung kann dem Beschuldigten zwar u.U. den Vorwurf mangelnder Aufmerksamkeit oder Sorgfalt eintragen, nicht aber den eines Kriminellen, der sich die Tat in ihrer Gesamtheit selbst als "sein Werk" zuschreibt. Mag es dem Tatsachenblinden auch noch so sehr am vermeidemächtigen "guten Willen" gemangelt haben, so hatte er doch keinen "bösen Entschluss", mit dem er die Rechtsordnung bewusst negiert.[3] Die schuldbegründende Aneignung der Unrechtsbewertung folgt nach geltendem Recht daher dem "Verantwortungsprinzip", d.h. schon das Vorhandensein der Einsichtsfähigkeit belastet den Täter, die Aneignung der unrechtsrelevanten Tatsituation folgt hingegen dem "Kenntnisprinzip".[4]
Diese fundamentale, in der (Straf-)Rechtsgeschichte seit langem tief verankerte[5] Divergenz zwischen dem Wissen um das rechtlich Gesollte auf der einen sowie um seine tatsächlichen Anwendungsbedingungen auf der anderen Seite[6] ist mit Blick auf die verbrechenssystematische Lozierung des Unrechtsbewusstseins bekanntermaßen schon immer kontrovers diskutiert worden; diese Auseinandersetzung hatte jedoch bisher allein die Frage zum Gegenstand, ob nicht – dem Schuldprinzip zuwider – "§ 17 StGB Fahrlässigkeit als Vorsatz bestraft"[7], mithin die Verhängung der (i.d.R.) schwereren Vorsatzstrafe von einer bewussten "Auflehnung gegen die Rechtsordnung" (im Sinne der "Vorsatztheorie")[8] abhängig gemacht werden müsse. Vergleichsweise neu ist hingegen der umgekehrte Gedanke, wonach die Ungleichbehandlung im Verhältnis von Tatsachen- und Rechtsirrtum im Sinne einer übergreifenden Geltung des "Verantwortungsprinzips" zu beseitigen sei; dass sich der Beschuldigte zwar nicht mit seiner (angeblichen) Rechtsunkenntnis, wohl aber mit seiner tatbezogenen Ignoranz selbst bei gröbster Leichtfertigkeit immer herausreden könne, sei nicht einzusehen. Ganz in diesem Sinne hat Jakobs einen "dolus malus" in neuem Gewande skizziert:[9] Man dürfe
"nicht dem Psychologismus Feuerbachs und dem Naturalismus der alten Vorsatztheorie verfallen und den dolus rein aus psychischen Fakten zusammensetzen wollen"; am Anfang stehe vielmehr eine "normative Vorgabe". Vorsatz im Sinne des "normativen Vorsatzbegriffs" ist hiernach nichts weiter als ein beim Individuum in Erscheinung tretendes "Indiz" für das "objektive Defizit" der "mangelnden Rechtstreue", was sich selbstredend an den Erwartungen der Rechtsgemeinschaft orientiert. Wer diese Erwartungen nicht erfüllt, ohne dass sich nachweisen lässt, dass er hierzu gänzlich außerstande war, wird wegen vorsätzlicher Tatbegehung verurteilt. Diese "normative Relativierung" und letztendliche Verflüchtigung des Vorsatzerfordernisses hat zuletzt Gaede (unter der treffenden Überschrift: "Auf dem Weg zum potentiellen Vorsatz?")[10] eingehend kritisch beleuchtet; das hier besprochene Urteil des 1. Strafsenats verdeutlicht nachdrücklich, wie wenig es sich dabei um ein bloß "akademisches Glasperlenspiel" handelt.
1. Im verfahrensgegenständlichen Fall vertrieb der Angeklagte als Alleingeschäftsführer im Namen mehrerer Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Pflanzenschutzmittel an deutsche Landwirte. Da er den Transport der Waren durch Beauftragung von Speditionen selbst organisierte, sah die tatgerichtliche Instanz hierin steuerrechtlich ein sog. "Versandgeschäft", was gem. § 3c UStG eine Steuerpflichtigkeit in Deutschland zur Folge hat. Während das Tatgericht jedoch für den Zeitraum bis zu einer durch die luxemburgische Steuerbehörde durchgeführten Befragung[11] annahm, dass der Angeklagte bis dahin unwiderlegbar von der Steuerfreiheit seiner Geschäfte ausgegangen sein könnte und sich deshalb eine vorsätzliche Steuerhinterziehung (§ 370 AO) nicht nachweisen lasse (mit seinem Teilfreispruch allerdings den Leichtfertigkeitstatbestand des § 378 AO übersah), bekundet der 1. Senat per obiter dictum seine Zweifel, ob wirklich ein Tatumstands-[12] oder nicht vielleicht nur – sofern überhaupt – ein (vermeidbarer) Verbotsirrtum vorgelegen hat.
Der Argumentationsgang, der in diese Richtung weisen soll, besteht aus einem simplen Dreischritt: Erstens müsse ein Vorsatzausschluss nach § 16 Abs. 1 StGB nicht schon deshalb anerkannt werden, weil der Angeklagte sich auf einen Irrtum dieser Art berufe: "Denn es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten eines Angeklagten Umstände … zu unterstellen, für deren Vorliegen – außer der bloßen Behauptung des Angeklagten – keine Anhaltspunkte bestehen". Zweitens lasse das Vorsatzdelikt des § 370 AO mangels abweichender Vorgaben auch eine Tatbegehung im Modus des dolus eventualis genügen, verlange also kein absichtliches Vorgehen bzw. einen (sonstigen) dolus directus: "Der Hinterziehungsvorsatz setzt deshalb weder dem Grunde noch der Höhe nach eine sichere Kenntnis des Steuerungsanspruchs voraus". Ein Tatumstandsirrtum scheide vielmehr schon dann aus, wenn der Täter "die Existenz eines Steueranspruchs für möglich[hält]und die Finanzbehörden über die Besteuerungsgrundlagen gleichwohl in Unkenntnis[lässt], … sich also mit der Möglichkeit der Steuerverkürzung abfindet". Drittens schließlich spreche für die Inkaufnahme einer Steuerverkürzung, wenn der Täter "von der üblichen Geschäftsabwicklung abweichende Vertragskonstruktionen oder Geschäftsabläufe wähl[e]", ohne sein "laienhaftes Rechtsverständnis" zuvor durch Einholung eines "zuverlässigen Rechtsrats" überprüfen zu lassen, denn: "Informiert sich ein Kaufmann über die in seinem Gewerbe bestehenden steuerrechtlichen Pflichten nicht, kann dies auf seine Gleichgültigkeit hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflichten hindeuten".
2. Diese Argumentationsweise ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: So verschiebt sich schon im Ausgangspunkt die Perspektive, wenn mit derartigem Nachdruck betont wird, dass die bloße Behauptung einer steuerrechtlich relevanten Fehlannahme keine Relevanz habe. Immerhin geht es doch um eine von außen nicht unmittelbar wahrnehmbare "innere Tatsache" und ist es doch nicht der Angeklagte, der die Unvorsätzlichkeit seines Handelns zu beweisen hat; dass eine dahingehende Behauptung keine (hinreichende) Faktenbasis erkennen lässt, erlaubt noch lange nicht den Schluss auf ihr Gegenteil. Die falsche Dichotomie übersieht daher (absichtsvoll?) die dritte Denkmöglichkeit neben dem eindeutig nachgewiesenen bzw. widerlegten Vorsatz, nämlich jene, in der sich weder das eine noch das andere hinlänglich feststellen lässt; und für diese Konstellation gibt der Zweifelssatz eine klare Entscheidungsregel zugunsten des Angeklagten vor. M.a.W. berührt die Perspektivenverschiebung sehr wohl die Unschuldsvermutung; argumentationstheoretisch wird die gezogene Schlussfolgerung de facto "erschlichen".
Davon abgesehen muss nachgerade aufhorchen lassen, dass der BGH mit seiner dezidierten Zurückweisung des Gedankens, die täterseitige Kenntnis des Steueranspruchs als zwingendes Erfordernis des Hinterziehungsvorsatzes zu betrachten, von seiner früheren Rechtsprechung abweicht. Die Grundsatzentscheidung im "Kakaobutter"-Fall aus dem Jahr 1953 enthielt noch die ganz gegenteilige Aussage, wonach zum Vorsatzinhalt gehöre, "dass der Täter den bestehenden bestimmten (!) Steueranspruch kennt und (!) ihn trotz dieser Kenntnis gegenüber der Steuerbehörde verkürzen will"[13] . Diese Wendung findet sich auch noch in den vom 1. Senat zitierten jüngeren Entscheidungen,[14] ausgenommen freilich das Urteil vom 16. Dezember 2009: Hier begegnet – soweit ersichtlich – jetzt zum ersten Mal der Hinweis, dass der Tatvorsatz eine "sichere Kenntnis" nicht voraussetze und im jeweiligen Verdachtsfall somit bereits die Feststellung
genüge, dass der Angeklagte die steuerrechtlich erhebliche Tatsache "für möglich hielt und (!) dies auch billigte"[15]. Gemessen an den allgemeinen Grundsätzen zum Vorsatzbegriff ist damit eigentlich gar nichts Neues gesagt, obgleich § 16 Abs. 1 S. 1 StGB ausdrücklich vom "Kennen" spricht und auch § 22 StGB für den versuchsbegründenden Tatentschluss das Vorhandensein einer bestimmten (tatbestandsäquivalenten) "Vorstellung von der Tat" verlangt. Noch nicht entschieden ist damit zwar, wie "perfekt" diese Vorstellung zu sein hat; dass es aber – nachweislich – ein psychisches Substrat überhaupt geben muss, lässt sich jedenfalls auf der Basis des geltenden Strafgesetzbuchs nicht bestreiten, und wenn man wegen der beim Eventualvorsatz reduzierten Anforderungen an das kognitive Element gleichsam als Kompensation ergänzend auch noch eine Manifestation des "Willens" verlangt (ganz gleich, ob dies durch ein "billigendes Inkaufnehmen", eine "Ernstnahme" o.ä. zum Ausdruck kommen soll)[16], dann muss sich der Tatnachweis auch hierauf erstrecken.
Diese geradezu trivialen Vorgegebenheiten verfehlt die Argumentation des 1. Strafsenats jedoch in beiderlei Hinsicht: Das voluntative Element findet sich im Begründungsgang geradezu "eleminiert", indem es kurzerhand auf die – zwar hinreichende, aber nicht notwendige – "Absicht" verkürzt[17] und im Übrigen unvermittelt aus der – behaupteten – Möglichkeitsvorstellung des Täters ("also") geschlossen wird.[18] Dass dies mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung in anderen Deliktsbereichen und insbesondere mit jener zu den Kapitaldelikten unvereinbar ist (wonach selbst eine lebensgefährliche Begehungsweise für sich noch nicht auf die "billigende Hinnahme" des Taterfolges zu schließen erlaube)[19], drängt sich geradezu auf. Und in Bezug auf das kognitive Element beschränkt sich der Senat augenfällig auf spekulative Zuschreibungen, indem die – äußerlich allein festgestellten – "abweichenden Vertragskonstruktionen bzw. Geschäftsabläufe" zum Beleg nicht etwa für ein Streben nach legaler Steuerersparnis (infolge "laienhaften Rechtsverständnisses"), sondern für eine tatbestandsmäßige Steuerverkürzung genommen werden; dies soll dann um so mehr gelten, wenn kein "zuverlässiger Rechtsrat" eingeholt wurde (was vorliegend aber gar nicht erwiesen war).[20] Letzteres mag bei einem Gewerbetreibenden auf eine besondere Gleichgültigkeit "hindeuten" oder auch nicht; das "Gedeutete" ist aber noch lange nicht gegeben, und das Kriterium der "Gleichgültigkeit" bedürfte, sofern man es – entgegen der h.M. – überhaupt als vorsatzrelevantes Kriterium akzeptieren will, [21] nicht minder einer empirischen (täterindividuellen) Grundlage, soll es nicht rein normativierend den Vorsatz bloß fingieren.[22] Im Übrigen bildet die Vernachlässigung von Erkundigungsobliegenheiten mitnichten ein – noch dazu hinreichendes – Begründungselement des Tatvorsatzes, sondern vielmehr der (Rechts-)Fahrlässigkeit.[23] Eben darin liegt die Essenz dessen, was das OLG München zum Hinterziehungsvorsatz schlagend festgehalten hat: Er ist keineswegs schon erwiesen, "wenn der Täter die Höhe eines Anspruchs[bzw. den Steueranspruch als solchen]lediglich erkennen konnte, aber nicht erkannt hat"[24]. Wenn der 1. Senat hierin jetzt aber "zu strenge Anforderungen" an den Tatvorsatz zu erkennen glaubt,[25] so spricht dies für sich!
3. Es passt gut in dieses Bild, dass der 1. Senat in einem "obiter dictum innerhalb des obiter dictums" die Frage aufwirft (und auf beredete Weise unbeantwortet lässt), ob selbst bei fehlender Möglichkeitskenntnis hinsichtlich der konkret in Rede stehenden Steuerpflicht nicht vielleicht nur ein Verbotsirrtum vorliegen könnte, "wenn der Irrtum über das Bestehen eines Steueranspruchs allein auf einer Fehlvorstellung über die Reichweite steuerlicher Normen – hier etwa des § 3c UStG über den Ort der Lieferung in besonderen Fällen – beruht"[26]. Gewiss muss der Normadressat nicht die konkreten Rechtsregeln kennen und schon gar die strafrechtliche Relevanz seines Verhaltens (da § 17 StGB lediglich auf die Unkenntnis der Trennlinie zwischen "erlaubt" und "verboten" und nicht auf die spezifischen Folgen eines Rechtsverstoßes abhebt)[27] ; doch wenn die Frage, ob überhaupt eine Steuerpflicht besteht, von der Anwendbarkeit einer Spezialvorschrift abhängt, dann muss der Täter diese Rechtslage wenigstens ihrer sozialrelevanten Essenz nach und damit die rechtsgutsrelevante Verletzungsbedeutung des Geschehens tatsächlich ("laienhaft") nachvollzogen haben (und nicht nur nachvollziehen können), um von einer vorsätzlichen Tatbegehung ausgehen zu dürfen. Denn ohne Vorstellung vom (möglichen) Bestehen einer Steuerpflicht ist, wie Roxin treffend formuliert hat, "ein Verständnis der sozialen Bedeutung des eigenen Verhal-
tens schlechterdings nicht zu erlangen"[28] . Und Puppe formuliert, mit Blick auf die umgekehrte Konstellation des untauglichen Versuches: "Hält der Täter irrtümlich eine Tatsache für erheblich zur Begründung eines bestimmten von ihm angenommenen Steueranspruchs, so hat er den Vorsatz, Steuern zu verkürzen, wenn er zu diesem Zweck über diese Tatsachen täuscht, auch wenn der Steueranspruch nicht besteht oder die Tatsache für ihn nicht erheblich ist"[29] . Für die hier erörterte Fragestellung folgt daraus, dass der Vorsatz denknotwendig entfällt, sofern der Beschuldigte einem für die Besteuerung erheblichen Umstand (hier: Versandgeschäft i.S.d. § 3c UStG) irrtümlich keine sozialschädliche Relevanz zugemessen und infolgedessen das Bestehen einer Steuerpflicht nicht erfasst hat.
Es liegt auf der Hand, dass dahingehendes Vorbringen im Prozess nicht immer als Schutzbehauptung entlarvt werden kann. Das gilt um so mehr, wenn Bezugsgegenstand des behaupteten Irrtums nicht leicht erfassbare Tatsituationen, sondern komplexe Sachverhalte mit dominanter rechtlicher Prägung sind. Gerade hier aber dem Beschuldigten die Exkulpationsmöglichkeit generaliter abzuschneiden, obgleich die sozialschädliche Relevanz sich erst aus der – für Laien u.U. nur schwer nachvollziehbaren – (vorstrafrechtlichen) Rechtslage ergibt, ist nicht nur unfair, sondern mit dem Grundgedanken einer auch "subjektiven Zurechnung"[30] des (erst hierdurch "personalisierten"[31]) straftatbestandlichen Unrechts unvereinbar. Dementsprechend sind auch die dazu verwendeten Methoden inakzeptabel, von denen das hier besprochene Urteil gleich zwei aufzeigt: Die eine – indirekte – knüpft gleichsam an die gesteigerte rechtliche Imprägnierung der sog. "normativen Tatbestandsmerkmale"[32] an, um vor dem Hintergrund der bekannten Abgrenzungsprobleme die Nähe zum (bloßen) Verbotsirrtum zu suchen; die andere – direkte – "normativiert" unmittelbar den Vorsatzbegriff, der in seinem voluntativen Element – siehe nur die berühmte Formel vom "Billigen im Rechtssinne"[33] – ohnehin unvermeidlich das Ergebnis einer bewertenden Zuschreibung ist. Dass jetzt aber auch die täterindividuelle Kognition nur noch Resultat von "Deutungen" sein soll und nicht mehr Gegenstand strafgerichtlicher Tatsachenfeststellung, dass nicht mehr die aktuelle, sondern nur noch die potentielle Kenntnis interessieren soll, ist – vergleichsweise[34] – neu. Die Gefahren liegen auf der Hand: Wegen der hochgradigen Deutungsoffenheit solcher "Normativierung"[35] fällt die Zuschreibung des Tatvorsatzes weitreichend in das Belieben des Zuschreibenden, der sein (Vor-)Urteil über das vom Beschuldigten mutmaßlich Gewusste nicht mehr länger wegen des (zu) "milden" Kenntnisprinzips zurückhalten muss. Auf diese Weise wird die fundamental bedeutsame Abstufung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit nivelliert[36] und verschwindet am Ende im kriminalpolitisch motivierten, funktionalistisch-instrumentellen Zugriff die empirische Gestalt der real handelnden Täterperson. Bestraft wird nicht mehr wegen der konkreten Tat eines individuellen Täters, sondern weil dieser die Erwartungen der Rechtsgemeinschaft enttäuscht hat. Diese "Umwertung" widerspricht nicht nur den zentralen Wertentscheidungen des geltenden Strafgesetzbuchs, sondern dürfte sich im Lichte des grundgesetzlichen "Menschenbildes" auch de lege ferenda als illegitim erweisen. [37]
Schon in anderem rechtsnormativen Zusammenhang ist dem 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs aufgrund mehrerer, dezidiert punitiver Judikate– in kritischer Absicht – der Titel einer "Speerspitze im Kampf gegen Steuersünder"[38] zuerkannt worden. Das hier besprochene Urteil verstärkt diesen Eindruck. Die Rolle der Judikative im gewaltengeteilten Staat richtig verstanden ist dies jedoch kein Ehrentitel, denn die Kriminalpolitik ist dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber anvertraut. Mancher wird hiergegen einwenden, dass es doch "nur" um einen Aspekt des Wirtschaftsstrafrechts gehe und hier eben aus Gründen der praktischen Relevanz die Wirksamkeit des Strafrechts in besonderem Maße Bedeutung erlangen müsse. Von der prinzipiellen Fragwürdigkeit einer solchen Betrachtungsweise einmal abgesehen[39] darf jedenfalls nicht übersehen werden, dass § 369 Abs. 2 AO das Steuerstrafrecht mit den allgemeinen Grundregeln verknüpft. Ebenso wie diese aber auf Steuerdelikte Anwendung finden, hat die richterrechtliche Interpretation hierzu notwendig Rückwirkungen auf das Strafrechtsverständnis im Ganzen. Das bei oberflächlicher Lektüre so wenig spektakulär erscheinende Urteil des 1. Senats vom 08. September 2011 ist somit alles andere als harmlos!
[1] Hassemer, in: Armin Kaufmann-GS 1989, S. 289, 295.
[2] Zum Streit über die dabei zugrunde gelegten Anforderungen – parallel zur "Tatfahrlässigkeit" oder strenger? – siehe im Überblick Duttge, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), Gesamtes Strafrecht. Handkommentar, 2. Aufl. (2011), § 17 Rn 16 ff. (m.w.N.).
[3] Siehe Klein, Archiv des Criminalrechts, Bd. I, 1796, S. 61.
[4] So die Gegensatzbildung von Welzel (Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 162) in Bezug auf den Streit zwischen Vorsatz- und Schuldtheorie; hierzu kritisch Jakobs, in: Schreiber-FS 2003, S. 949 ff.
[5] Dazu Schlüchter, Irrtum über normative Tatbestandsmerkmale im Strafrecht (1983), S. 65 ff., 80 ff.
[6] Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. III (1840), S. 327.
[7] T. Walter, Der Kern des Strafrechts (2006), S. 410.
[8] Klassisch: Binding, Die Normen und ihre Übertretung, Bd. II/2, 2. Aufl. (1916), §§ 125 ff.; zuletzt Fakhouri Gómez GA 2010, 270 ff.; Koriath Jura 1996, 124 ff.; Otto, Grundkurs Strafrecht. Allgemeine Strafrechtslehre, 7. Aufl. (2004), § 7 Rn 61 ff.; siehe auch die Grundsatzkritik von Naucke, in: Roxin-FS 2001, S. 503 ff.
[9] Zum Folgenden Jakobs, in: Schreiber-FS 2003, S. 949 ff., insbes. 956 f.; ders., in: Rudolphi-FS 2004, S. 107 ff.
[10] ZStW 121 (2009), 239 ff.
[11] In welcher diese erhebliche Bedenken hinsichtlich der steuerrechtlichen Behandlung der Lieferungen nach Deutschland formulierte.
[12] Zur Vorzugswürdigkeit dieser terminologischen Kennzeichnung gegenüber der etablierten Sprechweise ("Tatbestandsirrtum") siehe HK-GS/Duttge (o. Fn 2 ), § 16 Rn 1.
[13] BGHSt 5, 90, 92 unter Verweis auf Welzel NJW 1953, 486.
[14] Bspw. BGHR AO § 370 Vorsatz 5: "Für die Annahme des Vorsatzes, Steuern zu hinterziehen, genügt es, dass der Täter die tatsächliche, von ihm bewirkte Steuerverkürzung als solche erkennt und dass er sie will."
[15] BGH HRRS 2010, Nr. 137 (Rz. 41).
[16] Zum Streitstand statt vieler etwa MK/Joecks, 2. Aufl. (2011), § 16 Rn 42 ff. (m.w.N.).
[17] Siehe die – ohnehin sachgedanklich merkwürdige – Passage in Rz. 26: "Ob der Täter will, dass ein Steueranspruch besteht (?), ist für den Hinterziehungsvorsatz bedeutungslos".
[18] Dass sich im Übrigen aus der voluntativen Seite keine "weitergehenden Einschränkungen" im Hinblick auf die kognitiven Anforderungen des Vorsatzbegriffs ergeben (so Rz. 26), versteht sich von selbst. Schließlich handelt es sich ja auch – so die h.L. und bisherige st. Rspr. des BGH – um ein eigenständiges, zweites Element des Tatvorsatzes!
[19] Siehe statt vieler nur BGH StV 1988, 328; NStZ 2008, 451 = HRRS 2008 Nr. 475: "Mit dem Wissen oder Wissenmüssen von der generellen Gefährlichkeit seines Verhaltens ist noch nicht gesagt, dass der Täter den konkreten Erfolgseintritt auch akzeptiert, dass er sich innerlich mit ihm abgefunden hat".
[20] Siehe Rz. 10: "Ob er hierbei Rechtsrat eingeholt hatte, hat das Landgericht nicht festgestellt". – Eigentümlich hiermit kontrastierend aber Rz. 27: "Auch in Fällen, in denen ein nicht steuerlich sachkundiger Steuerpflichtiger eine von ihm für möglich gehaltene Steuerpflicht …[dieser Aspekt soll doch gerade erst erwiesen werden!] vermeiden will, … kann es für die Inkaufnahme einer Steuerverkürzung sprechen, wenn er keinen zuverlässigen Rechtsrat einholt…".
[21] Abl. Puppe ZStW 103 (1991), 1, 5; SK/Rudolphi/Stein, 125. Lfg. 2010, § 16 Rn 27; Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. (2006), § 12 Rn 40.
[22] Treffend Kindhäuser, in: Eser-FS 2005, S. 345, 357: "Fiktion zu Lasten des Täters".
[23] Siehe MK/Duttge (Fn. 16), § 15 Rn 131 ff. ("Übernahmefahrlässigkeit"); HK-GS/Duttge (Fn. 2), § 17 Rn 16 ff.
[24] OLG München NStZ-RR 2011, 247, 248.
[25] Rz. 21.
[26] Rz. 23, unter Verweis auf Allgayer, in: Graf/Jäger/Wittig (Hrsg.), Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (2011), § 369 AO Rn 28.
[27] Dazu statt vieler nur HK-GS/Duttge (Fn. 2), § 17 Rn 5 m.w.N.
[28] Roxin, in: Tiedemann-FS 2008, S. 375, 378.
[29] Puppe, in: Herzberg-FS 2008, S. 275, 294; ebenso Weidemann, Herzberg-FS 2008, S. 299, 306 f.
[30] Zum Begriff eingehend Feiler, Subjektive Zurechnung im Markenstrafrecht (2011), S. 53 ff.
[31] Zum "personalen Unrecht" zuletzt Duttge, in: Benakis-FS 2008, S. 155 ff. m.w.N.
[32] Bekanntlich ist umstritten, ob und vor allem wie sich diese Kategorie von den sog. deskriptiven bzw. deskriptiv-normativen Tatbestandsmerkmalen abgrenzen lässt, dazu im Überblick Roxin (o. Fn 21 ), § 10 Rn 57 ff.; zuletzt abl. B. Heinrich, in: Roxin-FS 2011, S. 449, 456 ff.
[33] BGHSt 7, 363, 369.
[34] Gaede benennt jedoch "Anschlusspotential" in der bereits ergangenen Rechtsprechung und verweist dabei insbesondere auf das Urteil des 1. Senats v. 7.12.1999 – 1 StR 538/99 (ZStW 121[2009], 239, 253 ff.
[35] Instruktive Analyse der "Modevokabel normativ" bei Hilgendorf, in: Rottleuthner-FS 2011, S. 45 ff., 60 f.: "Mit ihrer Hilfe kann man sich unbequemer Rationalitäts- und insbesondere Begründungsanforderungen entledigen, ohne unseriös zu wirken"!
[36] So im Ergebnis auch Gaede, ZStW 121 (2009), 239, 265 ff., 276, 279 f.
[37] Zur "Kritik des funktionalen Strafrechts" siehe zuletzt eingehend Murmann, in: Koriath/Krack/Radtke/Jehle (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und die Reform der Juristenausbildung (Festgabe zu Ehren von Prof. Dr. Fritz Loos), 2010, S. 189 ff.
[38] J. Jahn, GWR 2011, 327 ff.
[39] Auch dazu statt vieler nur Murmann (Fn. 37 ).