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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2012
13. Jahrgang
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1. Nach § 171b GVG darf die Öffentlichkeit auch während der Verlesung des Anklagesatzes von der Verhandlung ausgeschlossen werden. (BGHSt)
2. a) Die Zustimmungserklärung der Staatsanwaltschaft zu dem Verständigungsvorschlag des Gerichts ist als gestaltende Prozesserklärung unanfechtbar und unwiderruflich. (BGHSt)
b) Das Entfallen der Bindungswirkung der Verständigung für das Gericht nach § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO tritt nicht kraft Gesetzes ein, sondern erfordert eine dahingehende gerichtliche Entscheidung. (BGHSt)
3. Für die in § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO als Vorschlag bezeichnete Bekanntgabe hat das Gericht das vom Angeklagten im Rahmen der Verständigung erwartete Prozessverhalten, bei dem es sich in aller Regel um ein Geständnis handeln wird (§ 257c Abs. 2 Satz 2 StPO), genau zu bezeichnen und unter antizipierender Berücksichtigung dieses Verhaltens und Beachtung der Vorgaben des materiellen Rechts eine strafzumessungsrechtliche Bewertung des Anklagevorwurfs vorzunehmen. Die Verständigung kommt gemäß § 257c Abs. 3 Satz 4 StPO zustande, wenn der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft dem gerichtlichen Verständigungsvorschlag zustimmen. (Bearbeiter)
4. Die Staatsanwaltschaft hat auch dann von sich aus keine Möglichkeit, die getroffene Verständigung mit der daraus resultierenden Bindungswirkung für das Gericht nachträglich zu Fall zu bringen, wenn sie die Voraussetzungen des § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO für ein Entfallen der Bindungswirkung als gegeben ansieht. (Bearbeiter)
5. Die Prüfung, ob eine mit dem materiellen Recht in Einklang stehende Ahndung auch bei veränderter Beurteilungsgrundlage noch im Rahmen der getroffenen Verständigung möglich ist, liegt im Verantwortungsbereich des Gerichts. Ein Abweichen von der Verständigung setzt unter anderem voraus, dass das Gericht wegen der veränderten Beurteilungsgrundlage zu der Überzeugung gelangt, dass der in Aussicht gestellte Strafrahmen nicht mehr tat- oder schuldangemessen ist. Dies ist in § 257c Abs. 4 Satz 1 StPO ausdrücklich geregelt, gilt in gleicher Weise aber auch für die Fälle des § 257c Abs. 4 Satz 2 StPO. (Bearbeiter)
6. Von einem nicht der Prognose entsprechenden Verhalten des Angeklagten, das ein Abweichen von der Verständigung zu rechtfertigen vermag, kann nur dann die Rede sein, wenn das von der Erwartung abweichende tatsächliche Prozessverhalten aus der Sicht des Gerichts der Strafrahmenzusage die Grundlage entzieht. Bei der Beantwortung der Frage, ob die in Aussicht gestellten Strafrahmengrenzen auch auf veränderter Beurteilungsgrundlage eine tat- und schuldangemessene Ahndung ermöglichen, kommt dem Gericht ein weiter Beurteilungsspielraum zu, der erst überschritten ist, wenn der zugesagte Strafrahmen nicht mehr mit den Vorgaben des materiellen Rechts in Einklang zu bringen ist. Dies wäre etwa anzunehmen, wenn die Strafrahmenzusage sich unter Berücksichtigung von neu eingetretenen oder erkannten Umständen oder des tatsächlichen Prozessverhaltens des Angeklagten so weit von dem Gedanken eines gerechten Schuldausgleichs entfernte, dass sie als unvertretbar erschiene. (Bearbeiter)
7. Ob in einem Festhalten an der Verständigung bei nach Maßgabe von § 257c Abs. 4 Satz 1 und 2 StPO unvertretbar gewordener Strafrahmenzusage zugleich ein Verfahrensverstoß gegen § 257c Abs. 4 StPO läge, lässt der der Senat dahinstehen. Ausführungen in den Urteilsgründen zum Festhalten an oder Abweichen von der Verständigung sind entgegen der Ansicht der Revision nicht erforderlich. (Bearbeiter)
8. Gemäß § 171b Abs. 3 GVG unanfechtbar und daher gemäß § 336 Satz 2 StPO der revisionsgerichtlichen
Überprüfung entzogen ist die gerichtliche Entscheidung darüber, ob die in § 171b Abs. 1 Satz 1 GVG normierten tatbestandlichen Voraussetzungen für einen Ausschluss der Öffentlichkeit im Einzelfall vorliegen. Der Ausschluss gilt jedoch nicht, wenn schon die generelle Befugnis für den Ausschluss der Öffentlichkeit während der Verlesung des Anklagesatzes in Frage gestellt wird. (Bearbeiter)
1. Einzelfall einer unbeanstandeten und verneinenden Beweiswürdigung zum Tötungsvorsatz bei der Anzündung eines Menschen, der mit Brandbeschleuniger übergossen wurde.
2. Das Tatgericht darf im Rahmen der Beweiswürdigung bei der Bewertung des Tatvorsatzes Geschehensabläufe berücksichtigen, die es zwar nicht für erwiesen, aber für „ausgesprochen plausibel“ gehalten hat. Es ist zwar weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zugunsten eines Angeklagten – etwa dessen Einlassung kritiklos folgend – Sachverhalte zu unterstellen, für deren Vorliegen keine zureichende Anhaltspunkte vorhanden sind.
3. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt (Wissenselement), ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (Willenselement). Bei äußerst gefährlichen Gewalthandlungen liegt es – wovon auch das Schwurgericht ausgeht – nahe, dass der Täter mit dem Eintritt des Todes rechnet; indem er gleichwohl sein gefährliches Handeln beginnt oder fortsetzt, nimmt er einen solchen Erfolg billigend in Kauf (st. Rspr.).
4. Das Wissens- oder das Willenselement des bedingten Vorsatzes können gleichwohl im Einzelfall fehlen, so etwa, wenn der Täter trotz erkannter objektiver Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut. Im Rahmen der Würdigung des Willenselements ist dabei neben der konkreten Angriffsweise auch die Persönlichkeit des Täters, sein psychischer Zustand zum Tatzeitpunkt und seine Motivation mit in die Betrachtung einzubeziehen. Bei der erforderlichen Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände (vgl. BGHSt 36, 1, 9 f.) darf das Tatgericht den Beweiswert offensichtlicher Lebensgefährlichkeit einer Handlungsweise nicht so gering veranschlagen, dass auf eine eingehende Auseinandersetzung mit diesen Beweisanzeichen verzichtet werden kann.
5. Dem Revisionsgericht ist es verwehrt, eine eigene Bewertung der Beweise vorzunehmen, auch wenn eine andere Bewertung näher gelegen haben mag (vgl. BGH NStZ-RR 2000, 328). Auch wenn das Nachtatverhalten der Angeklagten auch als Ausdruck ihrer plötzlichen Ernüchterung hätte gedeutet werden können, darf das Tatgericht dieses als Gesichtspunkt dafür heranziehen, dass der Angeklagte den Tod des Opfers nicht wollte.
Einzelfall einer Anzeige von ergänzenden Umständen gemäß § 30 StPO durch einen Bundesrichter, die nach Ansicht des Senats entgegen der Beurteilung dieses Bundesrichters im Zusammenhang mit dem Streit um die Neubesetzung des Vorsitzes des Senats die Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit nicht rechtfertigen.
Das in der forensischen Praxis gebräuchliche PCR-Verfahren zur Identifikation von in der Kern-DNA auftretender Systeme ist so weit standardisiert, dass es im Urteil keiner näheren Darlegungen hierzu bedarf. Dies gilt aber nicht für die im zweiten Schritt an die so gewonnenen Daten anknüpfende Wahrscheinlichkeitsberechnung, die von einer wertenden Entscheidung des Gutachters abhängt, welche Vergleichspopulation er ausgehend von der genetischen Herkunft des Täters heranzieht und inwieweit er aufgrund voneinander unabhängiger Vererbung der übereinstimmenden Merkmale die sog. Produktregel anwendet. Um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Wahrscheinlichkeitsberechnung auf ihre Plausibilität zu ermöglichen, ist die Mitteilung ihrer Grundlagen im Urteil erforderlich (st. Rspr., vgl. zuletzt BGH HRRS 2012 Nr. 522). Hierzu gehören – zumindest wenn der Angeklagte einer fremden Ethnie angehört – eine hinreichend deutliche Umschreibung der zum Vergleich herangezogenen Bevölkerungsgruppe sowie jedenfalls die Häufigkeit der einzelnen als übereinstimmend festgestellten Merkmale in dieser Vergleichspopulation sowie eine Aussage dazu, inwieweit in wissenschaftlich zulässiger Weise die sog. Produktregel zur Anwendung kam.
Das Tatgericht ist zwar nicht schon aufgrund des Zweifelssatzes an der Verurteilung gehindert, wenn „Aussage gegen Aussage“ steht. Wird die Tat vom Tatopfer selbst geschildert, so kann der Angeklagte auf dieser Grundlage verurteilt werden, wenn das Tatgericht von der Glaubhaftigkeit der Aussage des einzigen Belastungszeugen überzeugt ist. Es muss sich jedoch insbesondere dann, wenn eine Aussageänderung eingetreten ist, bewusst sein, dass die Aussage dieses Zeugen einer besonderen Glaubwürdigkeitsprüfung zu unterziehen ist (vgl. BGHSt 44, 153, 158). Geboten ist eine lückenlose Gesamtwürdigung der Indizien. Insbesondere ist mitzuteilen, wie die Nebenklägerin als Zeugin die Frage danach beantwortet hat, warum sie im vorangegangenen Strafverfahren in zwei Tatsacheninstanzen jeweils eine Tatbegehung des Angeklagten zu ihrem Nachteil in Abrede gestellt hatte.
1. Das Tatgericht ist nicht automatisch gehalten, einem Sachverständigen zu folgen. Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, muss es sich konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, dass es über das bessere Fachwissen verfügt (vgl. BGH, Urteil vom 12. Juni 2001 – 1 StR 190/01).
2. Um von dem Ergebnis eines aussagepsychologischen Gutachtens abzuweichen, kann sich das Tatgericht jedenfalls in Aussage gegen Aussage-Konstellationen nicht ohne weiteres auf die freie richterliche Beweiswürdigung berufen. Auch im Rahmen des § 261 StPO ist die Beweiswürdigung vielmehr substantiell anhand aussagepsychologischer Kriterien vorzunehmen, weshalb eine Auseinandersetzung mit der abweichenden (aussagepsychologisch fundierten) Argumentation eines Sachverständigengutachtens in den Urteilsgründen erforderlich bleibt.
Hat sich der Angeklagte nach Beratung durch seinen ersten Verteidiger zunächst bewusst gegen die Einlegung der Revision entschieden und damit von einem befristeten Rechtsbehelf bewusst keinen Gebrauch gemacht, kann er nicht mehr im Sinne des § 44 Satz 1 StPO verhindert sein, eine Frist einzuhalten (BGH NStZ 2001, 160; NStZ-RR 1998, 109). Das gilt auch dann, wenn ein Angeklagter nach Beratung durch seinen Verteidiger die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels möglicherweise falsch einschätzt (BGH NStZ 2001, 160).
Eine trotz Fehlens der Voraussetzungen des § 42 Abs. 3 Satz 1 JGG ergangene Übernahme hat keine bindende Wirkung für das übernehmende Gericht, sondern kann aufgehoben und die Sache dem abgebenden Gericht zurückgegeben werden (BGHR JGG § 42 Abs. 3 Abgabe 1).