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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2011
12. Jahrgang
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1. Die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK, nach der das Gericht auf Gesetz beruhen muss, ist eine Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips („rule of law“). Diese Bestimmung will sichern, dass die Organisation der Justiz nicht vom Ermessen der Exekutive abhängt, sondern durch Rechtsnormen konkretisiert wird, die auf das Parlament zurückgehen.
2. Die gesetzliche Bestimmung umfasst nicht nur die rechtliche Basis für die Eigenschaft als Gericht, sondern auch die Besetzung des Gerichts in jedem Einzelfall.
3. Einzelfall der Verletzung des Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK durch eine rückwirkende und mit nationalem Recht nicht begründetermaßen vereinbare Abordnung eines Richters durch den Gerichtspräsidenten.
1. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a. = HRRS 2011 Nr. 488) beeinträchtigt die zehn Jahre überschreitende Sicherungsverwahrung gemäß § 67d Abs. 3 Satz 1, § 2 Abs. 6 StGB ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen, wenn dieser die Anlasstaten vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl I S. 160) begangen hat (sog. Altfälle). Die Fortdauer der Unterbringung ist in diesen Fällen nur verhältnismäßig, wenn eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem Verhalten des Betroffenen abzuleiten ist und wenn bei ihm eine psychische Störung im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes (ThUG) besteht.
2. Die Entscheidung einer Strafvollstreckungskammer, die diese einschränkenden Voraussetzungen nicht beachtet, verstößt auch dann gegen die Verfassung, wenn sie bereits vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergangen ist. Entscheidend ist insoweit allein die objektive Grundrechtsverletzung und nicht, ob diese den Fachgerichten vorwerfbar ist.
3. Die den Vollstreckungsgerichten in dem genannten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gesetzte Überprüfungsfrist bis zum 31. Dezember 2011 ermächtigt die Gerichte nicht, den Entlassungstermin innerhalb der Frist nach ihrem Ermessen zu festzusetzen. Sie haben vielmehr die unverzügliche Entlassung des Betroffenen anzuordnen, wenn sie die Voraussetzungen einer weiteren Unterbringung für nicht gegeben erachten. Insbesondere rechtfertigt auch das Resozialisierungsgebot keine Fortdauer der Unterbringung zur Durchführung von Entlassungsvorbereitungen. Dem Erfordernis der Resozialisierung ist vielmehr durch Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht Rechnung zu tragen.
4. Der Begriff der psychischen Störung im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 ThUG setzt nach dem Willen des Gesetzgebers gerade keine Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB voraus. Er umfasst vielmehr auch spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz, der Impuls- und Triebkontrolle sowie insbesondere auch dissoziale oder antisoziale Persönlichkeitsstörungen. Bei diesen ist nicht der – typischerweise fehlende oder nur geringe – subjektive Leidensdruck, sondern die objektive Beeinträchtigung der Lebensführung in sozialer und ethischer Hinsicht relevant. Zu deren Beurteilung ist auf das gesamte – auch strafrechtlich relevante – Verhalten des Betroffenen abzustellen.
1. Die medizinische Zwangsbehandlung eines im Maßregelvollzug Untergebrachten greift in dessen Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein, das die körperliche Integrität des Betroffenen sowie dessen Selbstbestimmungsrecht schützt. Zwangsbehandlung ist dabei jede Behandlung gegen den Willen des Betroffenen, auch wenn dieser sich in eine von ihm abgelehnte Behandlung fügt, weil er körperlichen Widerstand für aussichtslos hält.
2. Dient die Zwangsbehandlung eines Untergebrachten dazu, das Ziel des Maßregelvollzuges zu erreichen und dem Betroffenen die Wiedererlangung seiner Freiheit zu ermöglichen, so kann die Behandlung durch das Freiheitsgrundrecht des Untergebrachten gerechtfertigt sein.
3. § 8 Abs. 2 Satz 2 UBG BW, wonach der Untergebrachte nach den Regeln der ärztlichen Kunst erforderliche Untersuchungs- und Behandlungsmaßnahmen zu dulden hat, soweit sie nicht einen operativen Eingriff erfordern oder mit einer erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit verbunden sind, verstößt gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 19 Abs. 4 GG und ist nichtig. Zum einen begrenzt die Vorschrift die Möglichkeit der Zwangsbehandlung nicht, wie verfassungsrechtlich geboten, auf die Fälle einer krankheitsbedingt fehlenden Fähigkeit zur Einsicht in die Notwendigkeit der Behandlung. Zum anderen ist das Verfahren defizitär ausgestaltet; denn die Vorschrift regelt weder ein Bemühen um eine freiwillige Zustimmung noch die generelle Anordnung und Überwachung durch einen Arzt und eine Pflicht zur Dokumentation sowie zur vorausgehenden Überprüfung der Maßnahme durch unabhängige Dritte.
1. Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG verwehrt den Gerichten jede tatbestandsausweitende Auslegung eines Strafgesetzes. Äußerste Grenze zulässiger Rechtsanwendung ist dabei der mögliche Wortlaut der Vorschrift. Für die Bestimmung des möglichen Wortsinns können auch gesetzessystematische und teleologische Erwägungen von Bedeutung sein (BVerfGK 3, 302, 303 ff.; 9, 420, 421 ff.; 10, 442, 447 ff.; 14, 177, 182 ff.).
2. Bei Blankettstrafgesetzen unterliegen nicht nur diese selbst, sondern auch die sie ausfüllenden Vorschriften den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes. Um eine solche Blankettstrafnorm handelt es sich bei § 370
Abs. 1 AO, welcher der Ausfüllung durch die Steuergesetze – hier insbesondere § 6a Abs. 1 UStG – bedarf.
3. Die Auslegung des § 6a Abs. 1 UStG durch den Bundesgerichtshof ist vor dem Hintergrund des Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu beanstanden: Systematik und Wortlaut des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG („den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegend“) lassen sowohl die Interpretation zu, dass entsprechende Besteuerungsvorschriften existieren, als auch, dass der Abnehmer der Steuer tatsächlich unterworfen wird. Die Auslegung durch den Bundesgerichtshof entspricht insbesondere der verbindlichen Auslegung der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH HRRS 2011 Nr. 276).
4. Die angegriffene Entscheidung verletzt Art. 103 Abs. 2 GG auch nicht unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes (BVerfG HRRS 2011 Nr. 737). Eine eindeutige Straflosigkeit des Verhaltens ergab sich weder aus der damaligen Rechtsprechung der Strafgerichte, noch aus Entscheidungen des Bundesfinanzhofs oder des Europäischen Gerichtshofs. Bei Zweifeln über die Rechtslage ist es zumutbar, diese durch Aufdeckung des wahren Sachverhalts auszuräumen.
1. Der Europäische Gerichtshof ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
2. Verletzt ein Gericht die sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ergebende Vorlagepflicht, entzieht es die Verfahrensbeteiligten nur dann dem gesetzlichen Richter, wenn seine Entscheidung willkürlich ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn keine Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass die eigene Auslegung und Anwendung des Unionsrechts mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs übereinstimmt. Das Unionsrecht umfasst dabei das geschriebene und ungeschriebene Recht in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof sowie die von diesem entwickelten Auslegungsmethoden und -grundsätze.
3. Die Auffassung, eine ausländische Fahrerlaubnis im Inland sei ungültig, wenn eine inländische Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis zwar abgelaufen, aber noch im Verkehrszentralregister eingetragen ist und nicht getilgt, ist vor dem Hintergrund der 3. Führerscheinrichtlinie unter keinem Aspekt haltbar. Eine derartige Auslegung des § 28 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, Satz 3 FeV widerspricht eindeutig der bisherigen, noch zur 2. Führerscheinrichtlinie ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.
1. Ein Strafverteidiger, der sich gegen die Versagung einer Aktenübersendung in seine Kanzleiräume wendet, kann die entsprechende gerichtliche Entscheidung selbständig mit der Verfassungsbeschwerde angreifen. Er ist nicht auf die Rechtsmittel in der Hauptsache zu verweisen, weil dort nur Rechtsverletzungen zum Nachteil seines Mandanten gerügt werden können.
2. Auch bei zwischenzeitlich erfolgter Aktenübersendung besteht für die Verfassungsbeschwerde des Verteidigers ein Rechtsschutzbedürfnis, wenn etwa aufgrund von Äußerungen seitens des Gerichts von einer Wiederholungsgefahr auszugehen ist.
3. Die Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts ist grundsätzlich Sache der Fachgerichte. Das Bundesverfassungsgericht greift erst dann ein, wenn eine Verletzung des Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) in seiner Ausprägung als Willkürverbot in Betracht kommt. Willkürlich ist eine Entscheidung insbesondere dann, wenn sie bei objektiver Betrachtung unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar oder in sich widersprüchlich ist oder wenn sie sachfremden Zwecken dient.
4. Die Gewährung von Akteneinsicht für den Verteidiger nur auf der Geschäftsstelle des Gerichts unter Verweigerung einer Aktenübersendung in die Kanzleiräume ist in sich widersprüchlich und damit objektiv willkürlich, wenn erkennbar ist, dass die Entscheidung auf Zweifeln an der ordnungsgemäßen Bevollmächtigung basiert; denn in diesem Fall hätte die Akteneinsicht gänzlich verwehrt werden müssen.
5. Willkürlich ist auch die Verweigerung einer Aktenübersendung an den Verteidiger, wenn erkennbar ist, dass das Gericht hiermit die Nichtvorlage einer nach dem Gesetz nicht erforderlichen schriftlichen Vollmacht sanktionieren will.
1. Art. 104 Abs. 1 GG sichert das in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Grundrecht auf Freiheit der Person in besonderer Weise ab, indem er die Pflicht, die sich aus einem freiheitsbeschränkenden Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt.
2. Die Befugnis zur Erteilung von Auflagen und Weisungen liegt nach § 56b und § 56c Abs. 1 StGB allein bei dem zuständigen Gericht. Dieses hat in einem Bewährungsbeschluss die Verhaltensmaßgaben so bestimmt zu auszusprechen, dass der Verurteilte eindeutig erkennen kann, welches Verhalten von ihm erwartet wird und unter welchen Voraussetzungen ihm der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung droht.
3. Gewisse Konkretisierungen der dem Verurteilten auferlegten Pflichten darf das Gericht dem Bewährungshelfer überlassen, wenn dadurch etwa organisatorischen Erfordernissen Rechnung getragen wird. Dabei ist es auch nicht von vornherein ausgeschlossen, eine bloße Präzisierung der Voraussetzungen, unter denen ein Widerruf der Strafaussetzung droht, einem Dritten zu überlassen. Die Kammer lässt offen, ob dies auch für die Bestimmung des Zeitraums gilt, in dem eine vom Gericht festgelegte Anzahl an Arbeitsstunden zu erbringen ist.
4. Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, müssen auf einer zureichenden richterlichen Sachaufklärung beruhen. Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung setzt daher Feststellungen des Gerichts voraus, welche Aufforderungen wann und von wem an den Verurteilten ergangen sind, inwiefern er diese schuldhaft nicht befolgt hat und inwiefern für ihn erkennbar war, dass ein Verstoß einen Widerruf zur Folge haben werde.
1. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a. = HRRS 2011 Nr. 488) verstößt § 66 Abs. 1 StGB, wie die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung insgesamt, gegen das aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG herzuleitende Abstandsgebot.
2. Die Vorschriften über die Sicherungsverwahrung dürfen jedoch nach Maßgabe der in dem Urteil getroffenen Weitergeltungsanordnung bis zum 31. Mai 2013 weiter angewendet werden. Bis zu diesem Zeitpunkt können gerichtliche Entscheidungen über die Anordnung oder Fortdauer der Sicherungsverwahrung nicht mit dem Argument angegriffen werden, die zugrundeliegenden Normen seien verfassungswidrig. Dies gilt unabhängig davon, ob die Entscheidung nach oder bereits vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 ergangen ist.