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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2010
11. Jahrgang
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1. Nicht jede fehlerhafte Anwendung der einfachgesetzlichen Bestimmungen über die Richterablehnung rechtfertigt das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts. Die Grenzen zum Verfassungsverstoß sind erst überschritten, wenn sich die Handhabung der §§ 24 ff. StPO im Einzelfall als willkürlich oder offensichtlich unhaltbar erweist oder wenn die richterliche Entscheidung über das Ablehnungsgesuch Bedeutung und Tragweite der Verfassungsgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG grundlegend verkennt (vgl. BVerfGE 82, 286, 299). Ob solche Umstände gegeben sind, kann nur anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden. (Vorliegend verneint im Falle einer 24-Stunden-Frist zur Stellung von Beweisanträgen.)
2. Das Setzen einer Frist zur Stellung von Beweisanträgen im Strafverfahren ist verfassungsrechtlich dem Grunde nach nicht zu beanstanden. Eine solche Fristsetzung wird jedoch nur in gewissen Prozesskonstellationen ernsthaft in Betracht zu ziehen sein. Der Bundesgerichtshof spricht von einer "vorsichtigen und zurückhaltenden" Handhabung und konkretisiert die Voraussetzungen vorliegend
dahingehend, dass regelmäßig zehn Verhandlungstage verstrichen sein müssen, das gerichtliche Beweisprogramm erledigt ist und bestimmte Anzeichen für Verschleppungsabsicht im bisherigen Verteidigungsverhalten gegeben sein müssen (vgl. auch BGH, Beschluss vom 23. September 2008 - 1 StR 484/08 -, NJW 2009, S. 605, 607). Unabhängig von den einfachrechtlichen Voraussetzungen im Einzelnen steht die Pflicht des Gerichts zur Aufklärung des Sachverhalts und damit zur Wahrheitserforschung im Vordergrund. Hieran kann sich der Angeklagte durch die Stellung von Beweisanträgen aktiv beteiligen.
3. Die Frist muss es den Verfahrensbeteiligten ermöglichen, auf der Basis des bisherigen Prozessverlaufs darüber zu entscheiden, ob und gegebenenfalls welche Beweisanträge noch gestellt werden sollen. Dies setzt die Zubilligung eines derartigen Zeitrahmens voraus, der eine sachgerechte Überzeugungsbildung sowie anschließende Entscheidung und damit eine effektive Verfahrensteilhabe ermöglicht. Ob hierzu weniger als 24 Stunden ausreichen, ist im Einzelfall zu entscheiden und erforderlichenfalls zu begründen. (Vorliegend unzulässige 24-Stunden-Frist).
4. Die mit einer Fristsetzung intendierte Beschleunigung des Verfahrens kann nur erreicht werden, wenn diese gegenüber sämtlichen Verfahrensbeteiligten gesetzt wird. Dabei liegt die rechtsstaatlich geforderte Beschleunigung des Strafverfahrens sowohl im Interesse des Opfers als auch des Beschuldigten. Gerade der Angeklagte, der durch sein vorheriges Verhalten zur Fristsetzung nicht unmittelbar Veranlassung bot, dürfte ein Interesse an einer zügigen Durchführung des Verfahrens haben. Der fehlende Ursachenbeitrag kann im Folgenden bei der Prüfung der Zurückweisung eines Beweisantrags wegen Verschleppungsabsicht berücksichtigt werden. Hat der Angeklagte im bisherigen Prozessverlauf keine Anzeichen eines nicht primär auf die Wahrheitsermittlung ausgerichteten Verhaltens gezeigt, werden strengere Anforderungen an das Vorliegen der subjektiven Voraussetzung der Prozessverschleppungsabsicht zu stellen sein.
1. Das Gebot, den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen, findet seine Grenzen im Grundrecht des Verurteilten auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Bei Gesundheitsgefährdungen eines Strafgefangenen entsteht zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung des Strafanspruchs und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner verfassungsmäßig verbürgten Rechte ein Spannungsverhältnis. Keiner dieser Belange genießt schlechthin den Vorrang. Ein Konflikt ist nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips, das bei der Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG Beachtung erfordert, durch Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen. Führt diese Abwägung zu dem Ergebnis, dass die dem Eingriff entgegenstehenden Interessen des Verurteilten ersichtlich wesentlich schwerer wiegen als diejenigen Belange, deren Wahrung die Strafvollstreckung dienen soll, so verletzt der gleichwohl erfolgte Eingriff das Verhältnismäßigkeitsprinzip und damit das Grundrecht des Verurteilten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 51, 324, 343 f.). Die Grenze ist jedenfalls erreicht, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Verurteilten ernsthaft zu befürchten ist, dass er bei Durchführung der Strafvollstreckung sein Leben einbüßen oder schwerwiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen wird (vgl. BVerfGE 51, 324, 345 ff.).
2. Mit der Würde des Menschen wäre es unvereinbar, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance, der Freiheit wieder teilhaftig zu werden (vgl. BVerfGE 45, 187, 245; 117, 71, 95), auf einen von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest zu reduzieren (vgl. BVerfGE 72, 105, 116 f.). Je nach den Umständen des Einzelfalls kann dem Interesse des Gefangenen an der Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit ein Gewicht zukommen, welches das der Gründe für einen weiteren, ununterbrochenen Vollzug zu übertreffen vermag (vgl. BVerfGE 64, 261, 277).
3. Die §§ 56 ff. StVollzG und § 455 Abs. 4 StPO tragen diesem Spannungsverhältnis zwischen der Pflicht des Staates zur Durchsetzung seines Strafanspruchs einerseits und dem Interesse des Verurteilten an der Wahrung seiner Gesundheit und Erhaltung seiner Lebenstüchtigkeit andererseits Rechnung. Bei der Auslegung von § 455 Abs. 4 StPO hat die Vollstreckungsbehörde die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Strafgefangenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Rechnung zu stellen. Diese kann im Einzelfall eine Strafunterbrechung auch über den Wortlaut von § 455 Abs. 4 StPO hinaus gebieten.
4. § 455 StPO verbietet einen Vollzug, von dem eine nahe Lebensgefahr oder schwere Gesundheitsgefahr droht. Allerdings muss bei einer solchen Gefahr nicht stets die Strafhaft unterbrochen werden, denn vom Vollzug droht die Gefahr dann nicht, wenn er Mittel zur Abhilfe bereit hält. Solche Mittel sind nicht nur die in § 455 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 StPO ausdrücklich genannte Untersuchung und Behandlung in Vollzugseinrichtungen, sondern auch diejenigen in einem externen Krankenhaus (§ 65 Abs. 2 StVollzG), die ebenfalls ohne Unterbrechung des Vollzugs vonstatten gehen können. Dies gilt aber nur, soweit die Behandlung noch als adäquat angesehen werden kann.
5. Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender Sachaufklärung beruhen (vgl. BVerfGE 70, 297, 308; 109, 133, 162). Drängen sich Anhaltspunkte für eine Ausnahmesituation auf, die in Anbetracht der Bedeutung und
Tragweite des Grundrechts des Strafgefangenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG eine Strafunterbrechung über den Wortlaut von § 455 Abs. 4 StPO hinaus gebieten könnte, ist die Vollstreckungsbehörde von Verfassungs wegen gehalten, Einzelheiten insbesondere des Gesundheitszustands, der Lebenserwartung und der Gefährlichkeit des Verurteilten zu klären. Gegebenenfalls hat sie insoweit (ergänzende) ärztliche Stellungnahmen oder ein Sachverständigengutachten einzuholen.
6. Die von der Vollstreckungsbehörde gemäß § 455 Abs. 4 StPO zu treffende Entscheidung ist eine Ermessensentscheidung. Die gerichtliche Entscheidung nach § 458 Abs. 2 StPO über die Einwendungen beinhaltet lediglich die Überprüfung, ob die Vollstreckungsbehörde ermessensfehlerfrei entschieden hat. Diese Ermessensprüfung setzt voraus, dass die Vollstreckungsbehörde eine nachprüfbare Ermessenentscheidung trifft. Dem hat die Vollstreckungsbehörde angesichts der in besonderem Maße wertenden Natur der Entscheidung, ob die Strafe zu unterbrechen ist, dadurch Rechnung zu tragen, dass sie ihre Würdigung je nach den Umständen des Einzelfalls eingehender abfasst, sich also nicht mit knappen, allgemeinen Wendungen begnügt.