HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2010
11. Jahrgang
PDF-Download

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Alter schützt vor Strafe nicht?

Zugleich Besprechung der Verfahren gegen Demjanjuk und Boere, beides laufende Strafverfahren vor dem LG München II und LG Aachen, sowie BVerfG, Beschluss vom 15.10.2009, 2 BvR 2331/09; 2 BvR 2332/09; BVerfG, Beschluss vom 6.10.2009, 2 BvR 1724/09.

Dr. Susanne Beck, LL.M., Wiss. Mitarbeiterin, Universität Würzburg

Statistischen Untersuchungen zufolge wird im Jahr 2060 jeder siebte Deutsche 80 Jahre oder älter sein.[1] Die 58 bis 63-jährigen könnten die größte Bevölkerungsgruppe[2] und die über 80-jährigen 12 % der deutschen Bevölkerung ausmachen. Die rasche Alterung der deutschen Bevölkerung[3] ist ein Thema, mit dem sich die Gesellschaft und damit auch die Rechtswissenschaft dringend auseinandersetzen müssen.[4] Auch im Strafrecht

gewinnt diese Entwicklung an Bedeutung, da in den nächsten Jahren immer mehr ältere Menschen Opfer und Täter von Straftaten sein werden. Während das Hineinwachsen junger Menschen in die strafrechtliche Haftung in vielen Gesetzen geregelt ist, sind Schutzräume für alte Menschen in diesem Rechtsgebiet nur fragmentarisch zu erkennen.[5] Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Problematik, wie mit älteren Menschen im Strafprozess bzw. bei der Verurteilung umzugehen ist, inzwischen auch deutsche Gerichte beschäftigt.[6] Diese Fälle sind exemplarisch für die Grundproblematik der angemessenen Gleich- bzw. Ungleichbehandlung,[7] da einerseits die besondere Lebenssituation der Angeklagten – etwa der schlechte Gesundheitszustand – und somit die Sicherung seiner diese Situation betreffenden konkreten Grundrechte eine Andersbehandlung nahe legen könnten, andererseits der Staat zur Gleichbehandlung von Straftätern sowie zum Aufrechterhalten allgemeiner Sicherheit in der Gesellschaft verpflichtet ist.

I. Umgang mit älteren Menschen im Strafrecht

Die Entscheidungen des BVerfG, die die Verfassungsbeschwerden der beiden wegen NS-Verbrechen Angeklagten Demjanjuk und Boere als unzulässig abwiesen, besitzen eine gewisse Relevanz für die Frage, wie das Alter von Angeklagten in Strafverfahren zu berücksichtigen ist. Generell scheinen sie die Richtung vorzugeben, dass ein hohes Lebensalter als solches, sowie eine geschwächte Gesundheit, nicht per se Verhandlungsunfähigkeit oder rechtliche Sonderbehandlung bedeuten. Dies ist eine überraschend hohe Grenze für die Bejahung einer Grundrechtsverletzung, insbesondere mit Blick auf die Bedeutung des Lebensrechts und das Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Der BGH verneinte mit Urteil vom 27.04.2006 einen generellen "Altersrabatt" für ältere Straftäter,[8] stellte jedoch zugleich fest, dass es bei der Strafzumessung erforderlich ist, sich mit dem fortgeschrittenen Alter der Angeklagten und der Wirkung der Strafen auf ihr zukünftiges Leben auseinanderzusetzen. Das Gericht betonte auch, dass das Landgericht insofern richtig gehandelt habe, als es auf Strafen erkannte, die den Angeklagten noch die Hoffnung lassen, ihre Entlassung aus dem Strafvollzug erleben zu können.[9]

Diese höchstrichterliche Rechtsprechung führt zu der grundlegenden Frage, ob eine Sonderbehandlung älterer Menschen im Einzelfall eine ausreichende Rücksichtnahme auf ihre spezielle Situation darstelle oder ob eine generalisierende Andersbehandlung erforderlich sei, um ihre speziellen Grundrechte – in aller Regel geht es um das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG – zu sichern.[10] Auch, wie die Berücksichtigung und Wahrung dieser Rechte im konkreten Fall, d.h. bei Abwägung der Pflichten des Staates, eine gerechte Strafverfolgung zu garantieren und den Rechten des Angeklagten, angemessen erfolgen könnte, ist keineswegs unproblematisch. Hierfür ist zu analysieren, inwieweit ein hohes Alter zu besonderen Eigenschaften führt, anschließend ist zu diskutieren, auf welche rechtlichen Fragen sich diese Unterschiede auswirken könnten und wie sie zu berücksichtigen sind.

1. Veränderungen durch steigendes Lebensalter

Biologisch hat Altern zur Folge, dass im Zuge eines umfassenden Leistungsrückgangs geistige und körperliche Fähigkeiten abnehmen und sich die statistische Wahrscheinlichkeit bestimmter Krankheiten erhöht. Mit dem Lebensalter verändern sich die intellektuellen Fähigkeiten und kognitiven Prozesse.[11] Der Rückgang der geistigen Fähigkeiten kann auch auf einer Krankheit basieren, die vor allem im Alter auftritt: der Demenz.[12] Diese verstärkt den Verlust der kognitiven Leistungsfähigkeit und wirkt sich dramatisch auf alle Aspekte der Persönlichkeit aus, unter anderem auf die Fähigkeit zur Selbstkritik.[13] Zudem sind oft die Sinne älterer Menschen beeinträchtigt, so nimmt etwa ihr Seh- oder Hörvermögen ab. Dies kann zu verlangsamten Reaktionen führen. Ein offensichtliches biologisches Merkmal des Alters, das für die Strafzumessung eine Rolle spielen könnte, ist die geringere verbleibende Durchschnitts-Lebenserwartung im Vergleich zu jüngeren Menschen.

Ältere Menschen befinden sich aufgrund des Endes der Berufstätigkeit in einer sozialen Sonderstellung. [14] Der

gesellschaftliche Status der Rente kann zu Ausgliederung aus der Gesellschaft führen und somit zur Folge haben, dass älteren Menschen die Regeln der jüngeren Generationen fremd und unbekannt sind. Auch geht mit dem Eintritt in die Rente zumeist eine plötzliche und erhebliche Verringerung der formalen Sozialkontrolle einher.[15] Der neue soziale Status der Rente kann zudem die biologisch bedingten physischen und psychischen Abbau- und Rückbildungserscheinungen noch verstärken.[16] Es ist zu berücksichtigen, dass ältere Menschen in einem anderen als dem aktuell gültigen Wertesystem erzogen wurden und ihr Leben verbrachten. Insbesondere wenn sie wegen lang zurückliegenden Taten angeklagt werden, ist zu bedenken, dass diese gerade unter diesem damaligen Eindruck stattfanden.

2. Berücksichtigung des Alterns im Straf- und Strafprozessrecht

Fraglich ist, inwieweit dies im Straf- und Strafprozessrecht von Bedeutung ist. Eine gewisse Berücksichtigung des Lebensalters findet sich hier bereits gegenüber Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden. Bei der Festsetzung eines bestimmten Lebensalters für den Beginn der Strafmündigkeit wird ebenfalls statistisch bzw. generalisierend vorgegangen: Offensichtlich gibt es Jugendliche, die früher einsichtsfähig sind oder im Gegenteil sehr viel später die geistige Reife eines durchschnittlichen Erwachsenen besitzen. Trotzdem wird per Gesetz unwiderleglich vermutet, dass Kinder unter 14 Jahren keine strafrechtlich relevante Verantwortlichkeit besitzen; Jugendliche bis 18 Jahre sind in Bezug auf den Strafprozess und Art und Höhe der Strafe anders zu behandeln als Erwachsene und bei Heranwachsenden ist das Gericht zumindest verpflichtet, in jedem Einzelfall die Entscheidung zu treffen, ob Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht anwendbar ist, §§ 105 JGG.[17] Auch wenn die geistige Entwicklung bei älteren Menschen nicht vergleichbar standardisiert erfolgt wie bei Kindern und Heranwachsenden, könnten sich die statistisch festgestellten Unterschiede insbesondere auf Schuldfähigkeit nach §§ 20 f. StGB,[18] Durchführung des Strafprozesses[19] und Art und Höhe der Strafe auswirken. Ohne Zweifel sind etwa die gesundheitlichen Beeinträchtigungen älterer Menschen zu berücksichtigen, Art. 2 Abs. 2 GG. Solche liegen natürlich auch bei jüngeren Angeklagten vor, treten jedoch im Alter deutlich häufiger auf. Auch die Gefahr, an einer Krankheit zu versterben oder erhebliche Gesundheitsschäden in Kauf nehmen zu müssen, steigt mit dem Lebensalter. Somit wirkt sich die Belastung eines Strafprozesses auf ältere Angeklagte oft erheblich stärker aus als auf jüngere. Die Argumentation, dass dies zum allgemeinen Lebensrisiko gehöre,[20] ist deshalb nur bedingt überzeugend. Somit scheint es die Sicherung insbesondere der Rechte nach Art. 2 Abs. 2 GG zu erfordern, dass ihre besondere Situation durch einen speziellen Umgang mit ihnen berücksichtigt wird.

Die Berücksichtigung der biologischen und sozialen Besonderheiten muss dabei keineswegs in Form einer generellen Andersbehandlung erfolgen, insbesondere da bisher die Berücksichtigung im Einzelfall keineswegs immer defizitär erscheint. Es ist vor allem dafür zu sorgen, dass Gerichte über die Merkmale hohen Alters informiert sind und diese in ihre Überlegungen einbeziehen – sei es durch größere Sorgfalt bei Entscheidungen über Schuldfähigkeit, Haft- und Verhandlungsfähigkeit, sei es durch eine Sicherung der Rechte der Angeklagten etwa durch Anwesenheit medizinischen Personals, kurze Verhandlungsdauer, Unterbringung in speziellen Institutionen. Dies wird in der Regel bereits durchgeführt, allerdings ist die Art und Weise der Berücksichtigung kaum vorhersehbar, was der notwendigen Transparenz eines Rechtsstaats nur bedingt gerecht wird. Denkbar wäre, ab einem bestimmten Lebensalter eine grundsätzliche Verpflichtung der mit der Entscheidung befassten Institutionen – Polizei, Staatsanwaltschaft oder Richter – anzunehmen, das Alter und seine Folgen explizit in die Entscheidung einzubeziehen und den Einzelfall auch ohne weitere Hinweise auf deren Vorliegen zu untersuchen, und ab einem besonders hohen Lebensalter das Vorhandensein bestimmter derartiger Einschränkungen widerleglich zu vermuten.

Etwas anderes gilt bezüglich der geringeren statistischen Lebenswahrscheinlichkeit. Diese betrifft jeden älteren Menschen gleichermaßen. Diesbezüglich einen generellen "Altersrabatt" bei der Strafzumessung zu fordern, scheint schon deshalb nicht sinnvoll, weil bei der richterlichen Abwägung derart viele individuelle Aspekte von Tat und Täter zu berücksichtigen sind, dass ein generalisierender Rabatt dem nicht gerecht würde. Allerdings ist zu fordern, dass bei Straftätern eines hohen Lebensalters die höhere Bedeutung jedes verbleibenden Lebensjahrs in besonderem Maße in Betracht gezogen wird, um so den Anforderungen des § 46 StGB, der gerade eine Berücksichtigung aller relevanten Umstände erfordert, gerecht zu werden. Zudem ist zu beachten, dass sich alte Menschen aufgrund ihrer oftmals verminderten Anpassungs‑ und Leistungsfähigkeit schwieriger in die täglichen (Arbeits‑)Abläufe einer Strafvollzugsanstalt integrieren. Gelegentlich sehen sie sich Angriffen durch jüngere Mitinhaftierte ausgesetzt, oft besteht eine starke Distanz zwischen den verschiedenen Generationen und ältere Haftinsassen sind stärker isoliert als die der jüngeren Generation.[21] Aus diesen Gründen sollten Strafrichter, wiederum primär zum Schutz der Rechte aus Art. 2 Abs. 2 GG, die Unterbringung in speziellen Anstalten oder spezielle Haftbedingungen bedenken. So gibt es in Kon-

stanz[22] eine spezielle Justizvollzugsanstalt für Ältere.[23] Generell ist aufgrund der voraussichtlich steigenden Zahl älterer Straftäter ein Ausbau solcher Einrichtungen zu fordern.

Bei der Frage der Durchführung eines Strafverfahrens und der Höhe der verhängten Strafe nach § 46 StGB bezüglich alter Menschen ist überdies zu diskutieren, inwieweit die Strafzwecke in diesen Fällen erreicht werden können und sich somit die Verhängung von Strafe in ihrem konkreten Fall rechtfertigen lässt. Nach rein vergeltenden Straftheorien[24] kann, soweit der Täter schuldfähig handelt, unabhängig vom Lebensalter dieselbe Strafe verhängt werden wie bei einem jungen Täter, da sich das Ausmaß der Schuld nicht verändert. Anders dagegen muss das Ergebnis für präventive Straftheorien lauten. Jedenfalls bei der Spezialprävention bleibt zu fragen, ob der ältere Mensch, etwa wenn er für eine lange zurückliegende Tat verurteilt werden soll, tatsächlich noch eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.[25] Doch auch mit Blick auf die Generalprävention[26] ist zu überdenken, ob etwa die Verurteilung eines über 90 Jahre alten Menschen, der gebrechlich und bettlägerig ist, tatsächlich erforderlich und zweckförderlich ist, um die Allgemeinheit von einer Tatbegehung abzuschrecken bzw. deren Vertrauen in die Geltung von Strafnormen zu stärken. Gerade bei schweren Delikten mag dies nicht abzulehnen sein, es ist jedoch ebenfalls plausibel, zu argumentieren, dass die Allgemeinheit eine Verurteilung eines sehr alten Menschen schwerer nachvollziehen kann.

II. Die Entscheidungen des BVerfG

1. Der Fall Demjanjuk

Seit dem 30.11.2009 läuft vor dem Landgericht München II der Prozess gegen John Demjanjuk.[27] Die Anklage lautet auf Beihilfe zum Mord in 27.900 Fällen.[28] Der Fall steht aus unterschiedlichsten Gründen im öffentlichen Interesse und in der Diskussion in der Rechtswissenschaft. Von der Presse wird er als einer der wohl letzten großen "Nazi-Prozesse"[29] intensiv begleitet. Die Verhandlung wird unter großem Besucherandrang geführt, nachdem Demjanjuk nach mehreren ärztlichen Untersuchungen für haft- und verhandlungsfähig erklärt wurde – die Verhandlungsdauer darf jedoch pro Tag nicht mehr als zweimal 90 Minuten betragen.

Der Durchführung des Prozesses gingen bereits einige rechtliche Debatten vor dem BVerfG voraus: Durch zwei Beschlüsse vom 15.10.2009 und 16.10.2009 wies das BVerfG die Verfassungsbeschwerde des mutmaßlichen NS-Verbrechers John Demjanjuk ab.[30] Die Richter in Karlsruhe entschieden, dass die Klage als unzulässig abzuweisen sei, weil gerichtliche Zwischenentscheidungen wie der Eröffnungsbeschluss nicht vor das Verfassungsgericht gebracht werden könnten und zunächst der Rechtsweg vollständig zu erschöpfen sei.

Schon vorher, am 17.06.2009, hatte das BVerfG eine andere Klage Demjanjuks als unzulässig abgewiesen. Begründet wurde dies damit, dass der Beschwerdeführer nicht spezifiziert hätte, in welchen Grundrechten er verletzt worden wäre.[31] Die Klage sei überdies jedenfalls unbegründet. Demjanjuk hatte vorgebracht, dass die Entscheidung der US-Gerichte über seine Auslieferung nach Deutschland rechtswidrig sei und er dadurch in seinen, in dem zwischen diesen beiden Staaten bestehenden Auslieferungsvertrag gewährten, Schutzrechten verletzt würde. Das BVerfG war der Ansicht, dass diese Verträge nur für die Vertragspartner bindend wären und der Beschwerdeführer als Individuum daraus keine Rechte geltend machen könne. Soweit seine Beschwerde Handlungen der US-Behörden betreffe, wären deutsche Gerichte unzuständig. Die deutsche Zustimmung zu der Auslieferung schließlich stelle, so das BVerfG, weder eine direkte noch indirekte Einschränkung der Freiheit des Beschwerdeführers dar.

Somit begann das Strafverfahren wie geplant am 30.11.2009 und soll voraussichtlich im Mai 2010 enden. Die Anklage lautet auf Beihilfe zum Mord von 27.900 Juden im ehemaligen Konzentrationslager Sobibor, Polen im Jahr 1943. Die Einhaltung dieses Zeitplans ist jedoch fraglich, nachdem das Verfahren bereits am dritten Verhandlungstag ausgesetzt werden musste, weil der Angeklagte nach Angaben der Ärzte an diesem Tag zu krank für die Weiterführung war.[32] Überdies brachten die Verteidiger erhebliche Einwände gegen das Verfahren vor.

a) Berücksichtigung des hohen Lebensalters des Angeklagten

Ein zentraler Aspekt des Prozesses gegen Demjanjuk, der medial bisher eher geringes Interesse gefunden hat, aber für das Strafrecht doch von weitreichender Bedeutung ist, ist das hohe Lebensalter des Angeklagten.[33] Zum einen zeichnete sich in der praktischen Durchführung des Verfahrens bereits frühzeitig ab, dass der Gesundheitszustand bzw. die Konzentrationsfähigkeit des Ange-

klagten den reibungslosen Fortgang in Gefahr bringen könnte. Zum anderen ist es nicht unberechtigt, zu diskutieren, inwieweit die Gerechtigkeit es erfordert, einen Mann, der inzwischen ein sehr hohes Lebensalter erreicht hat, aufgrund der bestehenden Beweislage vor ein Strafgericht zu führen.[34] Auch für die Verurteilung könnte das Lebensalter eine erhebliche Rolle spielen. Primär geht es also darum, inwieweit der Eingriff durch zumindest eine Gefährdung der Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 GG tatsächlich durch das Strafbedürfnis gerechtfertigt sind, insbesondere wenn die vorgebrachten Ziele des staatlichen Handelns nur bedingt erreichbar erscheinen. Hierbei ist einerseits zu berücksichtigen, dass Demjanjuk, den medizinischen Gutachten nach, aktuell mit Blick auf sein Alter nicht in starkem Maße erkrankt zu sein scheint, er andererseits durchaus mit gewissen Alterserscheinungen – wie geringerer Konzentrationsfähigkeit – konfrontiert ist und zumindest in näherer Zukunft (d.h. im Falle einer Verurteilung voraussichtlich während der Haft) mit einer Verschlechterung seines Zustands zu rechnen ist. Wie hiermit umzugehen ist, ist zugegebenermaßen eine Abwägungsfrage, die durch die Strafgerichte vorzunehmen ist, wobei jedoch die Grenzen der Willkür nicht überschritten werden dürfen. Letztlich ist dies tatsächlich oft nur im Einzelfall zu entscheiden, allerdings ist wichtig, dass die Gerichte die Eigenschaften hohen Alters überhaupt berücksichtigen und angemessen gewichten.

aa) Illegalität der Auslieferung

Nach dem Vorbringen der Anwälte Demjanjuks hätte dieser aufgrund seines hohen Alters und der damit verbundenen, vermeintlich starken, gesundheitlichen Beeinträchtigungen schon nicht nach Deutschland ausgeliefert werden dürfen. Die Frage, ob die Entscheidung über die Auslieferung deutscher Behörden Demjanjuk in diesen Rechten und seinem Recht auf ein faires Verfahren einschränke, ist problematisch. Zutreffend ist, dass das BVerfG über die Richtigkeit der Entscheidungen ausländischer Behörden nicht entscheidungsbefugt ist. Doch ist zu beachten, dass im Strafverfahren der Grundsatz des fairen Verfahrens gilt, und dessen Verletzung – etwa durch eine illegale Verbringung in das Land, in dem das Verfahren geführt werden sollte – zur Aussetzung des Verfahrens führen könnte. Diese Problematik wurde intensiv diskutiert im Fall Eichmann, der von israelischen Agenten entführt wurde, um anschließend in Israel vor Gericht gestellt werden zu können.[35] Der vorliegende Fall ist hierzu jedoch keinesfalls vergleichbar. Sowohl US-amerikanische als auch deutsche Institutionen waren an der Entscheidung beteiligt, Demjanjuk schöpfte in beiden Ländern umfassend den Rechtsweg aus. Seine Auslieferung basiert also auf einem rechtsstaatlichen Entscheidungsprozess.[36] Allein auf sein Alter oder seinen Gesundheitszustand kann die Verletzung individueller Rechte nicht gestützt werden, insbesondere, da ihm die Möglichkeit bleibt, dies auch im Verfahren in Deutschland zum Gegenstand gerichtlicher Entscheidung zu machen.

bb) Fortdauer der Untersuchungshaft

Dies ist auch tatsächlich geschehen: Von den Anwälten wurden das Alter und der Zustand des Angeklagten bereits im Zusammenhang mit den Haftbeschwerden und der Verhandlungsfähigkeit vorgebracht.[37] Zu der Beurteilung des Gesundheitszustands wurden Experten hinzugezogen, die die Haftfähigkeit Demjanjuks bejahten. Zugegebenermaßen haben die Richter selbst nicht die nötige Sachkenntnis, um sich ein eigenes Urteil über den Gesundheitszustand zu bilden, so dass die Befragung von Experten durchaus erforderlich ist – zu beachten ist aber auch, dass dies allein eben nicht hinreichend ist.[38] Die Richter müssen jedenfalls eine eigene Position zu den Sachverständigengutachten ausbilden und bei Zweifeln oder sich ändernden Umständen weitere oder erneute Gutachten hinzuziehen. Bezüglich der Untersuchungshaft ist anzumerken, dass von Demjanjuk aufgrund seines Lebensalters und seiner Rückenbeschwerden weder Flucht noch Einwirken auf Beweismittel zu befürchten sind, § 112 Abs. 2 StPO. Zwar kann das Gericht bei Mordanklagen nach dem Wortlaut des § 112 Abs. 3 StPO unabhängig davon Untersuchungshaft anordnen. Hierbei ist zunächst zu berücksichtigen, dass diese Norm nach unstreitiger Ansicht einschränkend ausgelegt wird, d.h. ohne die Annahme zumindest einer gewissen Fluchtgefahr oder eines anderen Haftgrundes ohnehin nicht anwendbar ist. Doch selbst unabhängig davon ist überdies fraglich, ob hier mit Blick auf die gefährdeten Rechte überhaupt eine verhältnismäßige Ermessensausübung vorliegt. Sein Lebensalter könnte durchaus gegen die Haft sprechen; Gründe dafür, warum Demjanjuk inhaftiert sein müsste, sind nicht ersichtlich. Wichtig wäre also zum einen eine nachvollziehbare Begründung der Haftfortdauer, zum anderen eine andauernde und diese Umstände einbeziehende Überprüfung ihrer Notwendigkeit.[39]

cc) Demjanjuks Verhandlungsfähigkeit

Nicht unproblematisch ist auch die Frage der Verhandlungsfähigkeit.[40] Wie bereits dargelegt sollte bei einem

derart hohen Alter wie im Falle Demjanjuks die möglichen Beeinträchtigungen eine wichtige Rolle bei staatlichen Entscheidungen spielen. Auch hier wurden Experten gehört und diese erklärten ihn für – vor allem aufgrund seiner Rückenbeschwerden und Konzentrationsfähigkeit bedingt – verhandlungsfähig. Es ist wiederum zumindest festzustellen, dass dies allein noch nicht notwendig eine tragfähige Basis für eine Entscheidung darstellen kann.[41] Sicher ist zutreffend, dass die Aufgabe des Staates, seine Bürger zu schützen und den Rechtsnormen Geltung zu verschaffen, von zentraler Bedeutung ist. Auch besteht an dem Prozess als "letztem großen Nazi-Prozess" ein großes öffentliches Interesse und der Angeklagte hätte, sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, ein unvorstellbares Ausmaß an Schuld auf sich geladen. Überdies ist es Richtern aufgrund mangelnden Expertenwissens nicht möglich, sich selbst ein Urteil über den Gesundheitszustand zu bilden. Dennoch ist Skepsis angebracht, falls im weiteren Verfahrensverlauf weitere Indizien für Beeinträchtigungen der Gesundheit Demjanjuks sprechen sollten und somit nahelegten, dass der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht nur unerheblich ist. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass ein Strafverfahren einen älteren Menschen stärker beeinträchtigt als einen jüngeren. Nur ein Beispiel für die Nebenfolgen der Prozessteilnahme ist ein Vorfall, bei dem er auf dem Weg zur Verhandlung aus dem Rollstuhl fiel und sich verletzte.[42] Die Frage nach der körperlichen und geistigen Fähigkeit, an einem Strafprozess teilzunehmen, sollte unabhängig von der jeweiligen Anklage und dem öffentlichen Interesse getroffen werden – es geht dabei ausschließlich um den aktuellen Zustand des Angeklagten. Allerdings ist festzustellen, dass das Gericht diesbezüglich bisher mit erheblicher Sorgfalt vorging und die medizinische Versorgung Demjanjuks durchaus auf hohem Niveau sichergestellt ist und sein Gesundheitszustand permanent überwacht wird.

Mit Blick auf sein hohes Lebensalter ist zudem zumindest zu diskutieren, ob mit der Weiterverhandlung tatsächlich ein Signal für die Rechtsstaatlichkeit gesetzt wird und somit der Eingriff zur Wahrung der dem Strafprozess zugrundeliegenden Ziele überhaupt geeignet ist. Selbst wenn es sich ohne Zweifel um schreckliche Taten und ein noch immer nicht vollständig aufgearbeitetes Kapitel der deutschen Geschichte handelt, sollte doch gerade mit Blick auf die Zustände im Dritten Reich im Vordergrund stehen, dass die Gerichte im jetzigen Deutschland ohne Vorurteile und Vorverurteilung, ohne Blick auf die Öffentlichkeit handeln und auch die individuellen Rechte jedes Angeklagten, und sei es eines ehemaligen NS-Verbrechers, achten.[43] Der Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG wäre jedenfalls unverhältnismäßig, wenn durch die Belastung durch den Strafprozess ein schwerkranker Mensch in seiner Gesundheit, oder gar seinem Leben, konkret und schwer gefährdet wäre. Insofern ist zur Wahrung der Grundrechte des Angeklagten wie bereits dargelegt im Mindesten zu fordern, die Gesundheit Demjanjuks auch im weiteren Verfahrensverlauf zu beobachten. Die bereits bezeugte Rücksichtnahme des Gerichts auf den Gesundheitszustand des Angeklagten lässt durchaus darauf hoffen. Dies ist, auch wenn hierfür die Enttäuschung der Öffentlichkeit und der Opfer hingenommen werden muss, unbestritten Minimalvoraussetzung rechtsstaatlichen Handelns.

dd) Berücksichtigung des Alters bei der Strafzumessung

Die Frage des Lebensalters kann auch bei der Strafzumessung eine Rolle spielen, § 46 StGB.[44] Sollte die Staatsanwaltschaft die angeklagten Taten nachweisen können, droht Demjanjuk Haft bis zu 15 Jahren, §§ 27 Abs. 2, 49 Abs. 1 Nr. 1, 38 StGB. Angesichts der erheblichen Schuld, des erschreckenden Ausmaßes seiner Taten und der Unaussprechlichkeit der Vorgänge in den Konzentrationslagern des Dritten Reichs erscheint hier eine hohe Strafe auch ohne Zweifel angemessen. Andererseits besteht die Vorgabe des BGH, dass für Angeklagte zumindest die theoretische Möglichkeit eröffnet werden muss, das Gefängnis lebend zu verlassen.[45] Dies wäre bei einer derartigen Strafe möglicherweise nicht gegeben. Überdies hat bei einem fast 90 Jahre alten Menschen jedes Lebensjahr eine höhere Bedeutung als für einen jungen Menschen. Schließlich sind die Haftbedingungen eines normalen Gefängnisses für einen älteren Menschen kaum zumutbar. Eine denkbare Möglichkeit wäre, neben der Verringerung der Strafe, Demjanjuk in einem Spezialgefängnis für ältere Straftäter unterzubringen.

b) Nebenaspekte des Alters und der langen Dauer zwischen Verbrechen und Anklage

Neben diesen direkt mit dem Alter und Gesundheitszustand Demjanjuks zusammenhängenden Aspekten des Verfahrens gibt es einige Punkte, die darauf basieren, dass hier Verbrechen angeklagt werden, die Jahrzehnte zurückliegen und unter einem anderen Wertesystem begangen wurden. Dies kann, neben den rechtlichen Einzelfragen, zumindest das Strafmaß beeinflussen.

aa) Anwendbarkeit des aktuellen Rechts

Zur Diskussion könnte stehen, welches Recht in zeitlicher Hinsicht anwendbar ist. Nach § 2 StGB ist das Recht anzuwenden, das zum Zeitpunkt der Tat in Kraft war, wenn nicht das aktuell gültige Recht dem Angeklagten zum Vorteil gereicht. Somit wäre für Demjanjuk grundsätzlich das im Dritten Reich gültige Reichsstrafgesetzbuch anwendbar.[46] Da aber auch dieses Mord mit Strafe bewehrt und grundsätzliche Einigkeit darüber besteht, dass der von Hitler angeordnete Vernichtungsbefehl nicht als Rechtfertigung dienen kann,[47] das Reichsstrafgesetzbuch als mögliche Strafe aber sogar die Todesstrafe vorsah,[48] ist es zumindest nicht unplausibel zu argumentieren, dass es sich bei dem aktuellen Recht um das mildere Gesetz handele. Somit kann es bei der Anwendbarkeit des StGB bleiben.

bb) Befangenheit des Gerichts und Gleichheit im Unrecht

Nicht zuletzt mit der Einstellung deutscher Gerichte zum NS-Wertesystem wurde auch der Befangenheitsantrag gegen das Gericht begründet: Nach dem Vorbringen des Verteidigers sei es Willkür, dass Befehlshaber des Lagers Sobibor freigesprochen wurden, nun aber der Befehlsempfänger Demjanjuk angeklagt würde.[49] Der Befangenheitsantrag des Verteidigers nach § 24 StPO ist unplausibel, weshalb das Gericht auch in seiner derzeitigen Besetzung weiterverhandelt. Befangenheit ist immer dann anzunehmen, wenn berechtigte Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Richters bestehen.[50] Es besteht kein Anlass, davon auszugehen, dass die Richter aufgrund der medialen Berichterstattung voreingenommen wären – diesbezüglich wurde von den Verteidigern auch nichts vorgebracht. Die mögliche Ungleichbehandlung ist jedoch, wenn überhaupt, eine Frage des materiellen Strafrechts bzw. der Strafgerechtigkeit, gegebenenfalls der Gleichbehandlung nach Art. 3 GG und damit eine Verfassungsfrage. Unabhängig davon, dass zunächst zu prüfen wäre, ob hinter den jeweiligen Freisprüchen spezifische Gründe stehen, die sich im Fall Demjanjuk nicht finden, besteht im Übrigen Einigkeit darüber, dass es keine "Gleichheit im Unrecht" geben kann.[51] Selbst wenn die Freisprüche fehlerhaft gewesen wären, könnte sich Demjanjuk nicht darauf berufen, aus diesem Grund ebenfalls freigesprochen zu werden. Staatliche Institutionen und Gerichte können nicht zur Wiederholung von Fehlern verpflichtet werden.

cc) Rechtfertigung oder Entschuldigung wegen Notstands

Ein weiterer Ausdruck des historischen Wertesystems, in dem die Taten vor Jahrzehnten begangen wurden, könnte die Argumentation sein, dass die Kriegsgefangenen, die in Sobibor als Wärter arbeiteten (sogenannte Trawniki) selbst unter Todesdrohungen zu ihrer Tätigkeit erpresst wurden.[52] Dies ist, unter Berücksichtigung der historischen Gegebenheiten im NS-Regime, keineswegs unwahrscheinlich und es ist aus heutiger Perspektive kaum nachvollziehbar, wie erheblich der Druck auf die Beteiligten war, am System mitzuwirken. Deshalb ist durchaus zweifelhaft, ob sich Demjanjuk nicht auf Notstand nach §§ 34 oder 35 StGB berufen könnte. Dies stellt eine andere Situation als das bloße "Handeln auf Befehl" dar, dass nach § 3 VStGB nur dann zur Schuldlosigkeit führt, wenn der Täter nicht erkennt, dass der Befehl oder die Anordnung rechtswidrig ist und deren Rechtswidrigkeit auch nicht offensichtlich ist.[53] Hier wird jedoch neben der Situation der Befehlsbefolgung eine Bedrohung von Demjanjuks Leben vorgebracht. Sollte sich dies bewahrheiten,[54] ist dies eine über die übliche Hierarchie hinausgehende, eine nachvollziehbare Notlage verursachende Lage. Es ist zumindest nicht völlig unverständlich, dass ein Mensch zum Schutz seines eigenen Lebens das Leben anderer Menschen opfert. Andererseits erfordert eine Rechtfertigung nach § 34 StGB, dass das geschützte Gut das geopferte wesentlich überwiegt, so dass eine Aufrechnung Leben gegen Leben nicht möglich ist.[55] Demjanjuk könnte jedoch nach § 35 StGB entschuldigt sein, wenn für sein Leben tatsächlich eine nicht anders abwendbare Gefahr bestanden hätte. Sollte sich die Situation in Sobibor tatsächlich derart gestaltet haben, dass jedes andere Verhalten von seiner Seite zu seinem Tod geführt hätte, ist dies jedenfalls nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen.[56] Inwieweit das Gericht diese Tatsachen jedenfalls für möglich hält und aufgrund dessen zumindest berechtigte Zweifel an der Schuld des Angeklagten bestehen, wird der Prozessverlauf zeigen – jedenfalls sollte diese, den Umständen der NS-Herrschaft durchaus entsprechende, Möglichkeit vom Gericht in Betracht gezogen werden. Selbst wenn die im Verfahren festgestellten Umstände nicht zu einer Entschuldigung Demjanjuks führen, könnte doch zu berücksichtigen sein, dass der Druck auf die Beteiligten in dieser Zeit erheblich war.

c) Zwischenergebnis zur Relevanz des Lebensalters

Die Forderung, diese Aspekte des Lebensalters und der unterschiedlichen Wertesysteme zu berücksichtigen, bedeutet keineswegs, dass dies zwingend zu einer Strafmilderung führen muss, sollten Demjanjuk die Taten nachgewiesen werden können. Anbetracht der erheblichen Schuld, die er damit auf sich geladen hätte, ist dies sogar ausgesprochen zweifelhaft. Doch nicht nur am Ergebnis, sondern auch an der angemessenen und vorurteilsfreien Berücksichtigung aller relevanten Aspekte zeigt sich die Rechtsstaatlichkeit eines Gerichts. Von Bedeutung ist somit nur, dass die Richter diese Punkte in ihre Entscheidung einbeziehen und sich bei ihrer Gewichtung nicht von den sonstigen Umständen des Falls beeinflussen lassen.

d) Weitere prozessuale Aspekte des Verfahrens

Der Vollständigkeit halber seien noch einige weitere rechtliche Probleme des Demjanjuk-Prozesses erwähnt. Sie stehen nicht direkt mit seinem Lebensalter in Verbindung, ergeben sich aber teilweise daraus, dass die angeklagte Tat Jahrzehnte zurückliegt.

aa) Grundsatz "ne bis in idem"

Eine Verletzung des Grundsatzes "ne bis in idem" nach Art. 103 Abs. 3 GG[57], wie er von den Verteidigern vorgebracht wurde, ist abzulehnen. Zum einen regelt Art. 103 Abs. 3 GG nur die Doppelbestrafung durch inländische Gerichte,[58] zum anderen würde dieser Vorwurf inhaltlich nicht greifen, da die Anklage in Israel auf einem anderen Sachverhalt basierte. Das israelische Gericht hatte ihn als vermeintlichen "Iwan der Schrecklichen" wegen Taten in Treblinka angeklagt – im Verfahren vor dem LG München II dagegen geht es um mögliche Straftaten im Lager Sobibor. Da es sich um einen anderen Lebenssachverhalt handelt,[59] liegt kein Strafklageverbrauch vor, selbst wenn dabei dasselbe Beweismittel eine Rolle gespielt haben mag.

bb) Deutsche Gerichtsbarkeit und Anwendbarkeit deutschen Strafrechts

Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts und die deutsche Gerichtsbarkeit könnten sich aus § 7 Abs. 1 StGB ergeben.[60] Danach müssten die Opfer der Tat deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Dies ist wohl[61] für 2.000 der von der Staatsanwaltschaft aufgeführten Opfer der Fall. Es ist problematisch, inwieweit sich daraus die deutsche Gerichtsbarkeit auch für die übrigen Fälle ergibt – möglicherweise könnte man Demjanjuk als ausländischen Amtsträger nach § 5 Nr. 12 StGB ansehen,[62] ob er jedoch tatsächlich eine derartige Funktion ausgeübt hat, ist Tatfrage und im Laufe des Verfahrens zu klären. Überdies ist diskussionswürdig, inwieweit auch für die Fragen, welches lokale Recht anwendbar ist, das aktuelle Recht oder das zur Zeit der Tat gültige Recht anzuwenden ist.[63] Diese Fragen wird das Gericht vor der Verurteilung noch im Detail klären müssen. Die Zuständigkeit des LG München II dagegen folgt aus der Entscheidung des BGH nach § 13a StPO,[64] die sich darauf stützt, dass sich der Angeklagte vor seiner Ausreise in die USA in diesem Gerichtsbezirk aufhielt.[65]

cc) Beweisbarkeit der Vorwürfe

Im Prozess wird eine entscheidende Rolle spielen, ob Demjanjuk unzweifelhaft nachgewiesen werden kann, dass er als Wärter in Sobibor arbeitete – es bestehen jedenfalls gewisse Zweifel an der Echtheit des als Beweismittel dienenden Ausweises.[66] Zudem ist fraglich, inwieweit die konkrete Beteiligung an den vorgeworfenen Taten beweisbar ist. Schließlich könnte man argumentieren, dass neben der Tatsache, dass die jeweiligen Morde in Sobibor begangen wurden, auch bewiesen werden müsse, dass Demjanjuk jeweils dazu Hilfe geleistet hat, und Vorsatz bezüglich seines Beitrags und des konkreten Mordes hatte.[67] Andererseits könnte man annehmen, dass neben der Tatsache, dass sich Demjanjuk zu diesem Zeitpunkt als Trawinki in Sobibor aufhielt, lediglich die allgemeinen Tätigkeiten dieser Wächter bewiesen werden müssten. Soweit feststünde, dass ohnehin alle diese Tätigkeiten als Beihilfe zu den Morden entsprechend § 27 StGB anzusehen seien, könnte man daraus schließen, dass Demjanjuk mit seinem Verhalten zu allen Morden, die zur Zeit seines Aufenthalts stattfanden, bestraft werden könne.[68] Dies waren nach Angaben der Staatsanwaltschaft

ca. 29.000 Ermordungen. Es bleibt fraglich, ob das Gericht diese Beweisführung als ausreichend ansehen wird. Insofern gilt zwar die freie Beweiswürdigung durch die Richter, § 261 StPO, dabei darf jedoch nicht die Grenze zur Willkür überschritten werden.[69] Erst im Laufe der Verhandlung wird sich also zeigen, ob die Staatsanwaltschaft das ehrgeizige Ziel, Demjanjuk die angeklagte Beihilfe zu den Morden unzweifelhaft nachzuweisen, erreichen kann, und erst im Anschluss daran wird es möglich sein, die Beweiswürdigung des Gerichts umfassend zu analysieren und zu kommentieren.

2. Der Fall Boere

Auch der zweite Fall[70] betrifft ein Mitglied des NS-Regimes. Der 88-jährige Boere soll als Mitglied der "Germanischen SS in den Niederlanden" im Jahr 1944 drei Morde begangen haben. Vor dem BVerfG brachte er vor, dass in die Entscheidung des OLG Köln, das Strafverfahren zu eröffnen und damit die ursprüngliche Entscheidung des LG Aachen, das ihn für verhandlungsunfähig erklärte, abzuändern, in seinem Grundrecht nach Art. 2 Abs. 2 GG verletze. Das OLG habe rechtswidrig die Gefahr, die die Durchführung des Verfahrens für sein Leben oder zumindest seine Gesundheit darstelle, verneint. Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerde mit Beschluss vom 6.10.2009 als unzulässig ab, weil die Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht erfüllt seien. Der Fall sei weder von grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung noch sei eine Verhandlung erforderlich, um die von der Verfassung garantierten Rechte des Beschwerdeführers zu sichern, da die Beschwerde von vorneherein keine Aussicht auf Erfolg habe. Die Beschwerde sei überdies jedenfalls unbegründet.

Grund für diese Entscheidung war die erhebliche Bedeutung, die die Richter der staatlichen Verpflichtung, ein funktionierendes Strafverfahren und damit Sicherheit für die Bevölkerung sowie Gleichheit vor dem Recht zu garantieren, zuerkannten. In Fällen, in denen die Durchführung eines Strafverfahrens zu einer konkreten Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Angeklagten führen könnte, gerät diese Verpflichtung mit dessen Rechten in Konflikt. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend seien zu dessen Lösung alle relevanten Umstände zu berücksichtigen, wie etwa die voraussichtliche Dauer des Strafverfahrens, die Wahrscheinlichkeit und Qualität der drohenden Gesundheitsschädigungen, die Schwere der angeklagten Tat, etc. Grundsätzlich läge, so das BVerfG, die Entscheidung über die Eröffnung des Strafverfahrens bei dem jeweiligen Strafgericht. Das BVerfG könne lediglich überprüfen, ob bei der Entscheidung alle relevanten Umstände berücksichtigt und in angemessenem Verhältnis gegeneinander abgewogen habe, oder ob sie im Gegenteil auf willkürlicher und die verfassungsrechtlichen Grenzen verkennender Argumentation beruhe.

Im vorliegenden Fall ergab die Überprüfung, dass das OLG die Bedeutung und den Inhalt des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG erkannte und entsprechend würdigte.[71] Die Abwägung zwischen den staatlichen Pflichten und den Rechten des Beschwerdeführers wurde von den Richtern des BVerfG als korrekt bewertet, insbesondere wurde das Risiko für Leben und Gesundheit nicht übersehen. Die Begründung des OLG, dass die Gefahr einer schweren Erkrankung zum allgemeinen Lebensrisiko des Beschwerdeführers zu rechnen sei und deshalb einem Strafverfahren nicht entgegenstehe, sei nicht zu beanstanden. Im Licht der erheblichen Schwere der vorgeworfenen Taten und dem öffentlichen Interesse an dem Verfahren sei das Abwägungsergebnis plausibel. Auch dass das Gericht entgegen dem Sachverständigenurteil die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten bejahte, sei nicht grundsätzlich unzulässig. Diese Entscheidung eines Gerichts sei normativ und kann zu einem anderen Ergebnis kommen als die faktische Einschätzung von Experten.

Somit fand das Strafverfahren gegen Boere vor dem Landgericht Aachen wie geplant statt. Wie vom OLG angeordnet wurde er mit einem Ambulanzwagen zum Gericht gebracht und während des Verfahrens waren dauerhaft ein Notarzt und Sanitäter anwesend. Boere hatte die Taten inzwischen gestanden[72] und wurde am 22. März 2010 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt.[73] Auch die Verteidiger von Boere hatten in seinem Prozess vorgebracht, dass er in Befehlsnotstand gehandelt hätte,[74] dies wurde jedoch nach Ansicht des Gerichts durch die Beweisaufnahme widerlegt – Boere sei im Gegenteil eher der Drahtzieher der Aktionen gewesen. Überdies wurde diskutiert, inwieweit das bereits gegen ihn erlassene Urteil vor einem niederländischen Gericht aus dem Jahre 1949 eine Rolle spielen sollte. Diesbezüglich ging das deutsche Gericht letztendlich davon aus, dass Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) die jetzige Verurteilung nicht hindere, da das erste Urteil nicht vollstreckt worden war. Hier greife als Schranke i.S.d. Art. 52 Abs. 1 GRC der Art. 54 SDÜ der eine weitere Verurteilung gerade dann zulässt, wenn die Erstverurteilung nicht vollstreckt wurde.[75]

Sein Lebensalter und Gesundheitszustand sowie die Tatsache, dass die Taten unter dem Eindruck eines anderen Wertesystems begangen wurden, hätten höchstens im Rahmen eines übergesetzlichen Milderungsgrunds berücksichtigt werden können.[76] Insofern hat ist zwar

zutreffend, dass die Umstände nicht als derart außergewöhnlich anzusehen sind, dass eine lebenslange Haftstrafe unverhältnismäßig erscheint – dennoch wäre es wünschenswert gewesen, dass dies von den Richtern zumindest in Betracht gezogen worden wäre.

Die Haftfähigkeit Boeres ist noch zu prüfen, zudem hat die Verteidigung bereits angekündigt, in Revision zu gehen. Aus diesen Gründen geht auch das Gericht selbst nicht davon aus, dass die Strafe vollstreckt werden wird.[77] Sollte dies doch einmal der Fall sein, bleibt überdies zu diskutieren, ob Boere in einer besonderen Haftanstalt für Ältere untergebracht werden sollte.

III. Konsequenzen aus den Überlegungen zur Altersfrage für die Entscheidungen

Die Fälle lassen sich im Blick der dargelegten Argumentation zu Alter im Strafrecht wie folgt bewerten: Grundsätzlich steht auch ein sehr hohes Lebensalter und auch ein gewisser Eingriff in die Grundrechte nach Art. 2 Abs. 2 GG der Durchführung eines Strafverfahrens sowie einer Verurteilung, auch einer Haftstrafe, offensichtlich nicht entgegen. In den Entscheidungen des BVerfG war das Lebensalter der Beschwerdeführer – teilweise aus prozessualen Gründen – nicht vorrangig. So wurde die erste Verfassungsbeschwerde Demjanjuks als unzulässig verworfen, weil es an der Geltendmachung der Verletzung individueller Rechte fehlte, die zweite Abweisung basierte auf der fehlenden Erschöpfung des Rechtswegs. Diese Entscheidungen sind bezüglich der prozessualen Voraussetzungen zutreffend und insofern nicht zu kritisieren – somit sind die Aspekte, die mit dem hohen Lebensalter Demjanjuks zusammenhängen, hier unabhängig von diesen Beschlüssen im Kontext mit dem aktuell gegen ihn stattfindenden Prozess zu betrachten. Sicherlich kann sein hohes Lebensalter nicht allein dazu führen, dass gegen ihn kein Strafverfahren eröffnet werden könnte. Es ist zuzugeben, dass an dem Verfahren eines NS-Verbrechers, dem Verbrechen dieses Ausmaßes vorgeworfen werden, ein erhebliches öffentliches Interesse besteht, was sich auch an der hohen Anzahl an Besuchern des Verfahrens zeigt,[78] so dass wohl die Erreichung zumindest des Strafzwecks der positiven Generalprävention, insbesondere der Normbestärkung, nicht in Frage steht. Auch muss an dem Urteil der Ärzte, dass beschränkte Verhandlungsfähigkeit besteht, nicht per se gezweifelt werden, nur weil der Angeklagte fast 90 Jahre alt ist. Schließlich gibt es offensichtlich viele Aspekte des Verfahrens gegen Demjanjuk, die von größerer Wichtigkeit sind als sein Lebensalter.

Eingegangen ist das BVerfG auf die Grundrechte im Fall Boere und hat auf Basis seiner Abwägung die Klage für zumindest unbegründet erklärt, da das entscheidende Gericht diese Rechte hinreichend berücksichtigt habe. Es ist jedoch fraglich, ob die Bedeutung, die das BVerfG der staatlichen Verpflichtung, die Durchführung eines Strafverfahrens, Gleichheit vor dem Gesetz und Sicherheit der Bevölkerung zu garantieren, tatsächlich die Bedeutung der Einzelgrundrechte Leben und Gesundheit des Beschwerdeführers nach Art. 2 Abs. 2 GG in diesem starken Maße übersteigt.[79] Somit ist die Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs durch das entscheidende Gericht durchaus zweifelhaft, da die Beeinträchtigung doch erheblich erschien. Zwar kann das BVerfG die Abwägung lediglich in Bezug auf Willkür überprüfen,[80] zudem ist anzumerken, dass sich der Zustand Boeres während des Verfahrens stabilisierte – dies war jedoch zum Zeitpunkt der Entscheidung des BVerfG nicht absehbar. Insgesamt bleibt die geringe Bedeutung, die das BVerfG den individuellen Rechten in seiner Entscheidung beimaß, zumindest überraschend. Auch ist die zugrundeliegende Entscheidung der Gerichte wenn auch wohl nicht verfassungswidrig, doch in Bezug auf die Bedeutung der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit zumindest zweifelhaft, was eine vertieftere Argumentation durch das BVerfG hätte wünschenswert erscheinen lassen. Generell sollten diese gerade bei älteren Tätern in Zukunft größeres Gewicht besitzen und auf die möglichen Beeinträchtigungen Rücksicht genommen werden.

IV. Schlussfolgerungen

Die rapide Alterung der deutschen Bevölkerung wird in den nächsten Jahren zu erheblichen Schwierigkeiten in verschiedenen Gesellschaftsbereichen führen und das Recht vor neue Herausforderungen stellen. Zentral für den Umgang mit dieser Entwicklung ist die Diskussion darüber, inwieweit ältere Menschen mit jüngeren gleichgestellt und inwieweit sie anders behandelt werden müssen. Da Lebensumstände und persönliche Eigenschaften älterer Menschen in einigen Aspekten durchaus statistisch relevant vom Durchschnitt der Bevölkerung divergieren, ist zu fordern, dass diesem Umstand bei der Entscheidungsfindung von Behörden und Gerichten zumindest erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Praktisch könnte dies so gestaltet werden, dass ab einem gewissen Lebensalter beim Vorliegen von Indizien etwa für eine verringerte kognitive Leistungsgeschwindigkeit, einer Entfremdung von sozialen Regeln und Werten o.ä. weitergehend nach deren Auswirkungen geforscht werden muss und ab einem sehr hohen Lebensalter sogar eine aktive Verifikation des Nicht-Vorliegens erfolgen sollte.

In den Entscheidungen des BVerfG in den Fällen Demjanjuk und Boere wurde die Frage des Alters nur am Rande gestreift – explizit erwähnt wurde die Problematik nicht. Selbst wenn es in beiden Fällen um mögliche NS-Verbrecher geht, so ist doch für einen Rechtsstaat von besonderer Bedeutung, sich gerade auch in derartigen Verfahren zu bewähren und die Grundrechte der Angeklagten zu achten. Es bleibt zu hoffen, dass die Strafgerichte auch weiterhin sowohl die prozessualen als auch die materiell-rechtlichen Besonderheiten, die sich aus

dem Lebensalter, Gesundheitszustand und sonstigen Beeinträchtigungen der Angeklagten ergeben, bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. Diese Fälle zeigen, dass die Berücksichtigung hohen Lebensalters im Strafrecht nicht unproblematisch ist und eine generalisierende Vorgehensweise nicht möglich sein wird. Doch können die statistisch relevanten Unterschiede zwischen älteren und jüngeren Menschen von Strafgerichten nicht ignoriert werden und müssen in der Berücksichtigung der Grundrechte, insbesondere der Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, einbezogen werden. Gerade für Verhandlungs- und Haftfähigkeit, aber auch Strafzumessung und Art und Weise der Strafe sind die häufig auftretenden Beeinträchtigungen älterer Menschen von erheblicher Bedeutung, und auch materiell-rechtlich könnten einige Besonderheiten zu berücksichtigen sein. Rechtsstaatlichkeit zeigt sich gerade im Umgang mit derartigen Situationen, in denen zwar von Schuld des Angeklagten auszugehen ist, eine Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs aber unmenschlich erscheint. Hier muss das Strafbedürfnis zurücktreten und den individuellen Rechten des Bürgers Raum verschaffen, selbst wenn es sich um einen Straftäter handelt. Die Humanität eines Staates ist gerade dort von Bedeutung, wo er mit denjenigen konfrontiert ist, die gegen seine Regeln verstoßen.


[1] Pressemitteilung des Statistischen Bundesamts Nr. 435 vom 18. 11. 2009, unter www.destatis.de (10.01.2009).

[2] Coeste, forum kriminalprävention 2004, 32.

[3] Dazu allgemein: Lenz u.a. (Hrsg.): Wie lange dürfen wir arbeiten? Zukunftsforum Politik (2006), mit Verweis auf: Birg, Die demographische Zeitenwende (2001); Kohli/Künemund (Hrsg.): Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey (2000); Miegel, Die deformierte Gesellschaft (2002); Pruchno/Smyer (Hrsg.), Challenges of an Aging Society: Ethical Dilemmas, Political Issues (2007); Schinmany, Die Alterung der Gesellschaft: Ursachen und Folgen des demographischen Umbruchs (2003); Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott (2004).

[4] Das Thema "Alter" wird derzeit intensiv als Frage der Diskriminierung im Europarecht diskutiert. Vgl. Bieback ZSR 2006, 75 ff., Hahn, Auswirkungen der europäischen Regelungen zur Altersdiskriminierung im deutschen Arbeitsrecht (2006); Polloczek, Altersdiskriminierung im Licht des Europarechts (2008); jeweils m.w.N. Diese Diskussion betrifft die hier diskutierte Fragestellung jedoch nicht direkt. Im Folgenden geht es um eine Frage der Gleich- oder Ungleichbehandlung aufgrund spezifischer Eigenschaften, die ein hohes Lebensalter mit sich bringt – also um das Alter als Proxy-Kriterium – nicht dagegen darum, inwieweit Alter als solches ein besonders diskriminierendes Kriterium darstellt (was fraglich sein dürfte, da Alter im Gegensatz zu anderen Kriterien alle Bürger gleichermaßen betrifft, vgl. dazu u.a. Meenan Maastricht Journal of European and Comparative Law 2003, 9, 12). Überdies soll es hier ja gerade um die mögliche Besserstellung älterer Menschen gehen und die Wahrung ihrer konkreten Freiheitsgrundrechte im Vordergrund stehen. Dass dies eine Ungleichbehandlung der jüngeren Menschen im Sinne des allgemeinen Gleichheitssatzes darstellt, wird berücksichtigt.

[5] Häußling, in: Deimling (Hrsg.), Alter und Geschlecht im Blickpunkt gerontologischer Forschung, 1997, S. 41 ff.

[6] BVerfG, Beschluss vom 15.10.2009, 2 BvR 2331/09, 2 BvR 2332/09; BVerfG, Beschluss vom 6.10.2009, 2 BvR 1724/09; BGH 27.04.2006 - 4 StR 572/05. Vgl. aktuell: http://www.lg-wuppertal.nrw.de/presse/archiv/2010/Pressemitteilung_Nr__2-2010_v__8_2_2010.pdf.

[7] Hierzu Huster, Rechte und Ziele. Zur Dogmatik des allgemeinen Gleichheitssatzes (1993); Möckel DVBl 2003, 488 ff.

[8] "Einen Rechtssatz des Inhalts, dass jeder Straftäter schon nach dem Maß der verhängten Strafe die Gewissheit haben muss, im Anschluss an die Strafverbüßung in die Freiheit entlassen zu werden, gibt es nicht." ( BGH vom 27. 4. 2006, 4 StR 572/05, 17)

[9] Dem Angeklagten muss "unter Vollstreckungsgesichtspunkten grundsätzlich eine Chance verbleiben, wieder der Freiheit teilhaftig zu werden", BGH 4 StR 572/05, S. 18 mit Verweis auf BVerfGE 45, 187, 228 f., 239, 242, 245; 64, 261, 270 ff., 281; 72, 105, 113 ff.; 86, 288, 312; BVerfG NStZ 1996, 53, 54 f.

[10] S. Fn. 4 und 7.

[11] In Querschnittstudien wurde gezeigt, dass sich die maximale kognitive Leistungsgeschwindigkeit für Siebzigjährige auf 40 % reduziert hat; Mezger, Geistige Funktionen im Alter, http://home.allgaeu.org/gmezger/pers/gf.html.

[12] Die Statistik zeigt, dass derzeit von den unter 70-jährigen weniger als fünf Prozent, bei den 80-jährigen fast 15 % und bei den 90-jährigen annähernd die Hälfte an Demenzerkrankungen leiden; Infobrief des Nationalen Ethikrats 9/2005, 2.

[13] Infobrief des Nationalen Ethikrats 9/2005, 1.

[14] Coester forum kriminalprävention 2004, 35; Bukov/Maas/Lampert Journal of Gerontology: Psychological Sciences 2002, 510.

[15] Vgl. Schwind, Kriminologie, 19. Aufl. 2009, § 3 Rn. 37.

[16] Laubenthal GA 1993, 521.

[17] Vgl. BGH NStZ 01, S. 555 (m. Anm. Eisenberg); grundlegend Pruin, De Heranwachsendenregelung im deutschen Jugendstrafrecht (2007).

[18] Deshalb wird auch teilweise das Einfügen von Alter als eigenständiges Merkmal in §§ 20, 21 StGB gefordert, Kreuzer/Hürlimann (Hrsg.), Alte Menschen als Täter und Opfer, 1992, S. 75.

[19] Vgl. zu der Problematik der Untersuchungshaft bei todkranken bzw. älteren Angeklagten etwa die Fälle Honecker, BerlVerfGH NJW 1993, S. 515 und Mielke, BerlVerfGH NJW 1994, S.436.

[20] BVerfG, Beschluss vom 6.10.2009, 2 BvR 1724/09.

[21] Kuhlmann/Naegele Sozialer Fortschritt 2008, 182 ff.; Schramke, Alte Menschen im Strafvollzug (1996), S. 185 ff.; Wolf Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie 2009, 1862.

[22] Es handelt sich dabei um die Außenstelle Singen.

[23] Laubenthal, in: Festschrift für Seebode (2008), S. 499 ff.

[24] Zum Wiedererstarken dieser Straftheorien: Küpper, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Jahrbuch für Recht und Ethik (2003), S. 57; dagegen Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. (2006), §3 A Rn.8.

[25] Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. (2006), §3 A Rn.12ff.

[26] Roxin, Strafrecht AT, 4. Aufl. (2006), § 3 A Rn. 11 ff.

[27] Der Prozess um Demjanjuk wirft einige zentrale rechtliche Fragestellungen auf, die jede für sich einer detaillierten Analyse bedürften. Insofern ist im Folgenden nur ein Überblick über die wichtigsten Aspekte und Argumente möglich, wobei entsprechend dem gewählten Fokus die Berücksichtigung des Lebensalters des Angeklagten im Vordergrund steht.

[28] http://www.justiz.bayern.de/sta/sta/m1/presse/archiv/2009/02129/

[29] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,616999,00.html

[30] BVerfG, Beschluss vom 15.10.2009 - 2 BvR 2331/09; 2 BvR 2332/09

[31] BVerfG, Beschluss vom 17.06.2009 - 2 BvR 1076/09, NVwZ 2009, 1156.

[32] http://www.sueddeutsche.de/politik/4/496320/text/

[33] http://diepresse.com/home/politik/zeitgeschichte/525489/index.do?direct=528123&_vl_backlink=/home/index.o&selChannel=624; http://www.sueddeutsche.de/politik/567/465159/text/: "Der Mann ist alt, sehr alt…"

[34] http://www.sueddeutsche.de/politik/692/496012/text/

[35] Lasok, International and Comparative Law Quarterly 1962, 355 ff. Derzeit steht auch ein Fall, in der ein Arzt vom Vater eines 1982 verstorbenen Mädchens nach Frankreich entführt wurde und sich nun dort vor Gericht verantworten muss, in der Diskussion; vgl. http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,656612,00.html.

[36] Mertens German Law Journal 2005, 407 ff.; Lippmann Houston Journal of Inernational Law 1982/1983, 1 ff.

[37] http://www.rp-online.de/panorama/deutschland/Gutachten-zu-Verhandlungsfaehigkeit-wird-erstellt_aid_ 707889.html; http://www.sueddeutsche.de/politik/567/465159/text/

[38] BGHSt NStZ 2003, 99 (m. Anm. Duttge NStZ 2003, 375); Krau, ZStW 85 (1973), 320; Sass DS 2007, 256.

[39] OLG Köln NJW 1996, 1686: "Jedoch ist der Erlaß eines Haftbefehls oder die Fortdauer des Vollzugs der Untersuchungshaft verfehlt, wenn eine Flucht des Angeschuldigten ganz fernliegend und eine Wiederholung der Tat entweder ausgeschlossen ist oder dieser Gefahr durch mildere Maßnahmen begegnet werden kann." Vgl. auch Krauß, in: Beck'scher Online-Kommentar StPO § 112 Rn. 27 f. (Jürgen Graf, ed., 2009).

[40] " Verhandlungsfähigkeit bedeutet, dass der Angekl. in der Lage sein muss, seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Form zu führen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen"; BVerfG, NStZ-RR 1996, 38; BGH, NStZ 1996, 242; OLG Stuttgart, NStZ-RR 2006, 313. Vgl. auch BVerfG Urteil vom 20.09.2001 - 2 BVR 1349/01 NJW 2002, 51, 52: "Vielmehr ist, wenn angesichts des Gesundheitszustands des Besch. zu befürchten ist, dass er bei Durchführung des Strafverfahrens sein Leben einbüßen oder schwer wiegenden Schaden an seiner Gesundheit nehmen werde, das Spannungsverhältnis zwischen der Verpflichtung zu einer wirksamen Rechtspflege und dem rechtsstaatlichen Gebot, die Grundrechte des Besch. zu wahren, nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsprinzips durch eine insbesondere Art, Umfang und mutmaßliche Dauer des Strafverfahrens sowie Art und Intensität der zu befürchtenden Schädigung berücksichtigende Abwägung der widerstreitenden Interessen zu lösen". Zum Fall Honnecker KG NStZ 1993, 297.

[41] S. Fn. 38.

[42] http://www.derwesten.de/nachrichten/panorama/Demjanjuk-muss-im-November-vor-Gericht-id34611.html.

[43] Papier/Möller NJW 1999, 3289.

[44] Streng JR 2007, 271.

[45] BGH vom 27. 4. 2006 – 4 StR 572/05, m. Anm. Streng JR 2007, 296 ff.; Nobis NStZ 2006, 489. Vgl. hierzu auch BVerfGE 45, 187.

[46] Die Frage der Vergangenheitsbewältigung im Recht stellte sich erneut im Zusammenhang mit Handlungen in der DDR; vgl. zu beiden Fragen P apier/Möller NJW 1999, 3289; Wassermann NJW 1993, 895 ff.

[47] OLG Frankfurt a. M., HESt 1, 67, 71; Werle NJW 1992, 2529, 2533 mit kritischen Anmerkungen bezüglich der fehlenden Rechtswirkung des Befehls, 2534 f.; gegen ihn wiederum Füßer ZRP 1993, 180 ff.; vgl. auch P apier/Möller NJW 1999, 3289.

[48] Vgl. § 211 RStGB 1941.

[49] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,664238,00.html.

[50] Fischer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl. (2008), § 24 Rn. 3 ff.

[51] Dürig/Scholz, in: Maunz/Dürig, GG-Kommentar, 55. Erg.L. 2009, Art. 3 Rn. 179 ff.

[52] http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,664238,00.html

[53] Weigend, in: Münchner Kommentar zum StGB Bd. 6/2, 1.Aufl. 2009, § 3 VStGB Rn. 18 ff.

[54] Hiergegen wird vorgebracht, dass es den Wärtern wohl jederzeit freistand, das Lager zu verlassen, http://www.stern.de/panorama/mutmasslicher-ns-kriegsverbrecher-mordprozess-gegen-john-demjanjuk-beginnt-1525539.html.

[55] Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. (2006), § 34 Rn. 23 m.w.N.

[56] Perron, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. (2006), § 35 Rn. 10 ff. Dies ist letztlich Tatfrage und im Prozess noch zu klären. Zu der Aussage eines Historikers über die möglichen Strafen für unzuverlässige Trawniki, aber auch über zahlreiche, teilweise erfolgreiche Fluchtversuche vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/815/500086/text/.

[57] BVerfGE 75, 1; BGH NStZ 1998, 149 (150).

[58] Schmid-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, 55. Erg.L. 2009, Art. 103 Rn. 309 ff.

[59] Schmid-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, 55. Erg.L. 2009, Art. 103 Rn. 281 ff.

[60] Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. (2006), § 7 Rn. 4 ff.

[61] Ein Zusatzproblem ist, dass nach damaligen deutschem Recht die jüdischen Opfer nicht als deutsche Staatsangehörige angesehen wurden. Somit liegt die Zuständigkeit nur vor, wenn diese ursprüngliche Entscheidung als rechtswidrig anzusehen ist und somit rückwirkend die Opfer als deutsche Staatsangehörige zu betrachten sind, vgl. zur Frage der Anwendbarkeit aktuellen deutschen Rechts im Detail den Beitrag von Burchard in diesem Heft.

[62] So die Ansicht des Ermittlers der Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg Walther: http://www.br-online.de/aktuell/prozess-gegen-john-demjanjuk-DID1258534337127/demjanjuk-kriegsverbrecher-prozess-ID1259233080877.xml

[63] Vgl. auch hierzu den Beitrag von Burchard in diesem Heft.

[64] BGH, Beschluss vom 09. Dezember 2008 - 2 ARs 536/08 = HRRS 2009 Nr. 52.

[65] Fischer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl. (2008), § 13 a Rn. 1 ff.

[66] http://www.stern.de/panorama/vernichtungslager-sobibor-wirbel-um-demjanjuks-ss-ausweis-705133.html.

[67] Cramer/Heine, in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. (2006), Vorbem. zu §§25, Rn. 17 ff.

[68] So die Ansicht des Vertreters der Nebenkläger Nestler, vgl. hierzu das Interview unter http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,677299,00.html. Teilweise wird sogar deutlich weiter gegangen: Walther von der Ermittlungsbehörde Ludwigsburg etwa fordert, der "eherne Grundsatz" in deutschen Strafverfahren, dass eine konkrete Tat ermittelt werden müsse, bedürfe in diesem speziellen Fall der "industriell durchgeführten Massentötung" der Nazis und in einer "Todesfabrik" wie Sobibor einer Modifizierung, http://www.br-online.de/aktuell/prozess-gegen-john-demjanjuk-DID1258534337127/demjanjuk-kriegsverbrecher-prozess-ID1259233080877.xml. Diese Aussage erscheint angesichts der Tatsache, dass die Unschuldsvermutung im Strafrecht für den Rechtsstaat von fundamentaler Bedeutung ist, ausgesprochen problematisch und der Preis seiner Aufgabe unverhältnismäßig hoch.

[69] Schoreit, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 6. Aufl. (2008), § 261 Rn. 45; Pelz, NStZ 1993, 361.

[70] BVerfG, Beschluss vom 6.10.2009, 2 BvR 1724/09.

[71] BVerfG, Beschluss vom 6.10.2009, 2 BvR 1724/09.

[72] http://www.focus.de/fotos/der-angeklagte-heinrich-boere-hat-ein-gestaendnis-abgelegt_mid_573754.html

[73] http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-03/boere-kriegsverbrechen-urteil; http://www.focus.de/politik/deutschland/tid-17670/tid-17671/urteilsspruch-die-feigen-morde-des-heinrich-boere_aid_492220.html; http://www.stern.de/panorama/urteil-im-mordprozess-gegen-frueheren-ss-mann-boere-1552945.html

[74] http://www.stern.de/panorama/prozess-gegen-ns-verbrecher-gericht-verurteilt-ss-moerder-boere-zu-lebenslanger-haft-1553005.html

[75] OLG Köln, Beschl. vom 3.7.2007, - 2 Ws 156/07.

[76] Vgl. hierzu BGHSt 30, 105.

[77] http://www.stern.de/panorama/prozess-gegen-ns-verbrecher-gericht-verurteilt-ss-moerder-boere-zu-lebenslanger-haft-1553005.html

[78] http://www.sueddeutsche.de/muenchen/386/494719/text/

[79] Di Fabio, in Maunz/Dürig, GG, 55. Erg.L. 2009, Art. 2, Rn. 63: "Die statistisch oder mit anderen wissenschaftlichen Mitteln nachweisbare signifikante Erhöhung der Wahrscheinlichkeit später zu erkranken, muss als Eingriff in die körperliche Integrität gewertet werden."

[80] BVerfG, Beschluss vom 24. Februar 1995 - 2 BvR 345/95, NJW 1995, S. 1951 (1952).