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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
März 2010
11. Jahrgang
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Von Akad. Rat a. Z. Dr. Christoph Burchard, LL.M. (NYU), Tübingen
Mit Anklageschrift v. 10. Juli 2009 – 115 Js 12496/08 – wirft die Staatsanwaltschaft München I dem 1920 in der Ukraine geborenen John Demjanjuk 15 tatmehrheitliche Fälle der Beihilfe zum Mord an mindestens 27.900 Menschen vor. Der Angeklagte soll als Mitglied so genannter "fremdvölkischer Wachmannschaften", nämlich als so genannter "Trawniki-Mann"[1], in dem vom Deutschen Reich betriebenen Lager Sobibór (gelegen in der heutigen Republik Polen) im Zeitraum vom 28. März 1943 bis 16. September 1943 daran mitgewirkt haben, die in 15 Eisenbahntransporten eintreffenden Personen – größtenteils Menschen jüdischer Religionszugehörigkeit Glaubens aus dem von deutschen Truppen besetzten Königreich der Niederlande – in Gaskammern zu verbringen, wo sie anschließend ermordet wurden. Das LG München II hat die Anklage mit Beschluss v. 1. Dezember 2009 unverändert vor der Strafkammer als Schwurgericht eröffnet. Seit dem 30. November 2009 findet die Hauptverhandlung statt. Mit Beschluss v. 2. Februar 2010 hat das Gericht verschiedenste Anträge der Verteidiger zurückgewiesen. Unter Ziff. 7 dieses Beschlusses wird ausgesprochen, dass auf die angeklagten Taten deutsches Strafrecht anzuwenden sei, was die Verteidigung in Abrede gestellt hatte.
In der Tat drängt sich die Frage nach der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf, weil es sich auf den ersten Blick um Auslandstaten eines Ausländers zum Nachteil von Ausländern zu handeln scheint: Der Angeklagte war zum Tatzeitpunkt ukrainischer Staatsangehöriger und hat(te) die deutsche Staatsangehörigkeit weder durch seine Kriegsgefangenschaft noch durch seine Rekrutierung für die "fremdvölkischen Wachmannschaften" und seine wachmannschaftlichen Tätigkeiten erworben.[2] Das
Lager Sobibór lag zum Tatzeitpunkt im so genannten Generalgouvernement Polen, Provinz Lublin, das – auch funktional – nie in das deutsche Reichsgebiet eingegliedert wurde[3] und heute in der Republik Polen liegt. Die meisten der Opfer waren keine deutschen Staatsangehörigen. Soweit die Anklageschrift auch 1.939 "deutsche Juden"[4] erwähnt, die vor der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in die vermeintlich sicheren Niederlande geflohen waren, liegt es nach Tatzeitrecht, dessen Geltung positivistisch einmal unterstellt, nahe, dass diese ermordeten Menschen im Tatzeitpunkt zwangsweise ausgebürgert waren und somit ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren hatten.[5]
Gleichwohl lässt sich begründen, dass, warum und inwieweit deutsches Strafrecht auf die angeklagten Taten anwendbar war und ist. Dem LG München II ist also im Ergebnis zuzustimmen. Freilich kann Kritik an der Begründungstiefe geäußert werden. Zudem weist die dem Beschluss zugrunde liegende Rechtsmaterie mannigfaltige Untiefen auf, vor allem im Hinblick auf die Überlagerung der strafanwendungsrechtlichen Problematik (§§ 3-7, 9 StGB) durch das intertemporale Strafrecht (§§ 1, 2 StGB). In der Tat bringt der Fall Demjanjuk eine bislang wenig beachtete Problematik zum Vorschein: das intertemporale Strafanwendungsrecht.
Um das vor Augen zu führen, gilt es zunächst kurz die Argumente des LG München darzustellen (sub I.), um dann den insbesondere durch das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) gesetzten Rahmen für die Lösung intertemporaler strafanwendungsrechtlicher Fragen zu skizzieren (sub II.). Im Anschluss können die drei möglichen Anknüpfungspunkte für die Begründung der deutschen Strafgewalt über das sachgegenständliche Verfahren näher erörtert werden: Nämlich zum Ersten die Konstruktion eines Inlandstatortes qua der Teilnahme an Einzelverbrechen, die wiederum Teil einer im deutschen Reichsgebiet orchestrierten und administrierten Gesamttat waren, also Teil der von dort ausgehenden rassisch motivierten Vernichtungspolitik, insbesondere des Genozids an den europäischen Juden (§ 9 Abs. 2 StGB); hinter dieser Argumentationslinie müssen jedoch etliche strafanwendungs-, beteiligungs- und (mord‑)tatbestandsdogmatische Fragezeichen gesetzt werden (sub III.). Sofern der Angeklagte zum Zweiten an der Ermordung von "deutschen Juden" mitgewirkt haben sollte, war und ist deutsches Strafrecht anwendbar; insofern muss jedoch nicht nur mittels der Radbruch’schen Formel die Zwangsausbürgerung der Opfer ungeschehen gemacht, sondern überdies auch noch erklärt werden, wie sich entgegen dem eindeutigen Wortlaut von Art. 116 GG das heutige bundesdeutsche Strafrecht auf scheinbare "Nie-Bundes"deutsche beziehen kann (§ 7 Abs. 1 StGB) (sub IV.). Schließlich ist es zum Dritten weniger aus rechtsgegenwärtiger, denn aus rechtshistorischer Sicht fragwürdig, ob die Handlungen des Angeklagten im Tatzeitpunkt als die eines "Trägers eines deutschen staatlichen Amtes" klassifiziert worden wären und deutsches Strafrecht deshalb Anwendung finden kann (§ 4 Abs. 3 Nr. 1 RStGB; § 5 Nr. 13 StGB); sofern der Angeklagte im Tatzeitpunkt jedoch aufgrund seines damaligen Status (etwa als Kriegsgefangener oder aber als "fremdvölkischer" Lager-Wachmann) unter das RStGB fiel, gilt es die allgemeinen Grundsätze des intertemporalen Strafrechts auf das Strafanwendungsrecht zu übertragen und – mit der herrschenden Meinung und Rechtsprechung – die Kontinuität des Unrechts- in Gestalt des Strafanwendungstypus bei sich wandelnder Gesetzeslage zu analysieren (sub V.). Im Anhang werden schließlich die maßgeblichen Reichsnormen im Wortlaut wiedergegeben.
Der strafanwendungsrechtliche Gehalt des besagten Beschlusses v. 2. Februar 2010 ist wie folgt im Wortlaut wiederzugeben:
"7. Deutsches Strafrecht ist anwendbar, weil es sich bei den angeklagten Taten um eine Inlandstat, keine Auslandstat handelt, weil hinreichender Tatverdacht besteht, dass die Taten sich gegen deutsche Staatsangehörige richtete[n], und weil die Angehörigen der fremdvölkischen Wachmannschaften zu dem Personenkreis gehören, der auch bei Auslandstaten deutschem Strafrecht unterfiel[...].
b) Unabhängig von der Qualifizierung der im Ausbildungslager Trawniki ausgebildeten fremdvölkischen Wachmannschaften ist darauf hinzuweisen, dass § 4 Abs. 3 Nr. 1 StGB in der 1943 geltenden Fassung (aus v. Olshausen, Kommentar zum StGB für das Deutsche Reich, 12. Auflage, Berlin 1942; ebenso Schönke, Strafgesetzbuch, 2. Auflage 1944) lautet: ‚Unabhängig vom Recht des Tatorts gilt das deutsche Strafrecht für folgende Straftaten, die ein Ausländer im Ausland begeht: 1. Straftaten, die er als Träger eines deutschen staatlichen Amts, als deutscher Soldat oder als Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes ... begeht; ...’
Die Erstreckung der Anwendbarkeit des StGB auf Träger eines deutschen staatlichen Amtes entspricht § 5 Nr. 13 der geltenden Fassung; sie umfasst "Taten, die ein Ausländer als Amtsträger oder für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteter begeht", wobei § 11 Abs. 1 Nr. 2 lit. c) StGB den Amtsträger als eine Person definiert, die "sonst dazu bestellt ist, bei einer Behörde oder bei einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung unbeschadet der zur Aufgabenerfüllung gewählten Organisationsform wahrzunehmen."
Dies deckt sich mit der Definition, wie sie § 4 Abs. 3 Nr. 1 StGB a.F. durch die Literatur erfahren hat. Danach sind Amtsträger des Staates Personen, die, ohne Beamte zu sein, dazu bestellt sind, obrigkeitliche Aufgaben wahrzunehmen (v. Olshausen, a.a.O., § 4 Anm. 12).
Die zur Tatzeit geltende Erstreckung der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf "deutsche Soldaten", zu denen unter den Voraussetzungen des Wehrmachtsgesetzes[6] vom 21.05.1935 in der Fassung des Gesetzes vom 20.08.1940[7] auch Ausländer gehören konnten, ist nunmehr in § 1a Wehrstrafgesetz enthalten.
c) Deutsches Strafrecht gilt ferner nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 StGB in der zur Tatzeit geltenden Fassung, entsprechend § 7 Abs. 1 der geltenden Fassung des StGB, für Taten [...], die im Ausland gegen einen deutschen Staatsangehörigen begangen wurden. Hierzu verweist die Kammer auf Punkt 6 c) des Beschlusses vom 21.12.2009[...].[8]
d) Deutsches Strafrecht gilt gem. § 4 Abs. 1 StGB in der 1943 geltenden wie auch § 3 der aktuellen Fassung des StGB für Taten, die im Inland begangen wurden. Dabei kann noch dahingestellt bleiben, ob – wie v. Olshausen a.a.O. Anm. 5 vor § 3 und Schönke a.a.O. Vorbem. § 3 Anm. – das Generalgouvernement Inland war (a.A. allerdings Grau/Krug/Rietzsch, Deutsches Strafrecht, Band 1, 2. Auflage, 1943, Anm. 5a zu § 3 Abs. 1[...]). Denn Tatort der Beihilfe ist auch Tatort der Haupttat (statt aller: Fischer, StGB, 57. Auflage,[§ 9]Rn. 10; für den in 1943 insoweit einschlägigen § 3 Abs. 3 StGB zuletzt RG v. 14.07.1936 – 4 D 462/36, JW 1936, 2655; RG vom 02.02.1940 – 4 D 663/39, RGSt 74, 59; v. Olshausen a[.]a[.]O. § 4 Anm. 2 unter Verweis auf § 3 Anm. 11c; Schönke a.a.O. § 3 Anm. III.1.a). Dabei genügt es schon, wenn einer der Haupttäter auch nur eine Vorbereitungshandlung im Inland begangen hat (vor allem RG vom 14.11.1922 – IV 561/22, RGSt 57, 144 [...]."
Der Beschluss benennt somit drei Anknüpfungspunkte für die Begründung der deutschen Strafgewalt. In Hinsicht auf die Ermordung von deutschen Staatsangehörigen folgt die Geltung deutschen Strafrechts unmittelbar aus dem Gesetz (vgl. §§ 4 Abs. 2 Nr. 2 RStGB, 7 Abs. 1 StGB). Mit Blick auf die Begründung eines Inlandstatortes als auch auf die gerichtlichen Hinweise zur (Amtsträger‑ bzw. Soldaten‑)Eigenschaft des Angeklagten seien folgende ein- und weiterführende Erläuterungen gestattet:
Die Begründung auch[9] eines Inlandstatortes für die Auslands-Beihilfe findet sich in einem Schriftsatz der Nebenklage[10] erstmals detailliert ausgeführt. Danach stelle die von deutschem Boden aus beschlossene, geplante, befohlene und strukturell durchgeführte rassisch motivierte Vernichtungspolitik, insbesondere der Genozid an den europäischen Juden, die eigentliche "Haupttat" bzw. "Gesamttat" dar. Diese sei entweder "von den politisch und hierarchisch Verantwortlichen des NS-Regimes von Deutschland aus gemeinschaftlich mit deutschen SS-Schergen, die vorort u.a. auf Polnischem Boden handelten," begangen worden. Alternativ sei diese Haupttat (auch) in mittelbarer Täterschaft (kraft Organisationsherrschaft in organisatorischen Machtapparaten, wie man anfügen darf) durch die Hauptverantwortlichen der NS-Vernichtungsmaschinerie verübt und damit abermals von deutschem Boden aus begangen worden. Der damit begründete Inlandstatort der Haupttat schaffe somit auch einen Inlandstatort für die Auslands-Beihilfe.
Vor diesem Hintergrund werden die Implikationen des Beschlusses v. 2. Februar 2010 deutlich: Gleich ob die von deutschem Reichsgebiet aus agierenden Hintermänner echte Tatbeiträge zu den einzelnen Mordtaten geleistet oder aber den Genozid durch dessen Gesamtplanung "nur" vorbereitet haben, wird in der Logik des LG München II ein automatischer Inlandstatort für ausländische Einzel(tat)beiträge – seien sie durch unmittelbare Täter oder durch Teilnehmer gesetzt – begründet. Zugespitzt läuft dies auf eine umfassende Allzuständigkeit Deutschlands für NS-Verbrechen hinaus, auch wenn deren unmittelbare Ausführung von Ausländern im Ausland gegen Ausländer ins Werk gesetzt wurde.
Soweit das LG München II auf den Amtsträ-
ger- bzw. Soldaten-Status des Angeklagten verweist, geht die "Amtsträgertheorie" maßgeblich auf die "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" in Ludwigsburg, die das Demjanjuk-Verfahren durch ihre Ermittlungen in Gang gesetzt hat, zurück: "Da die Tötung von Juden als hohe Aufgabe des deutschen Staates gesehen worden sei, seien diejenigen, die dabei eingesetzt waren, deutsche Amtsträger gewesen – auch wenn sie wie Demjanjuk nie[deutsche]Staatsbürger waren."[11] Demgegenüber beharrt die Verteidigung darauf, dass "der Angeklagte, wenn unterstellt, er sei Trawniki-Wachmann gewesen, allenfalls Militär oder Soldat gewesen wäre, aber kein Träger eines deutschen Amtes."[12] Diese Position erklärt sich wiederum daraus, so darf vermutet werden, dass nach der heute einschlägigen wehrstrafrechtlichen Literatur der "Soldat[...]kein Amtsträger iS des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB" sein soll.[13]
Mit seinen Ausführungen hat sich das LG München II demzufolge einen weiten tatrichterlichen Feststellungsspielraum zwischen den beiden – vermeintlichen – Polen einer Amtsträger- oder Soldateneigenschaft des Angeklagten gesichert; jeder dieser Pole führe zur Anwendbarkeit deutschen Strafrechts.
Bevor die einzelnen Argumente des Beschlusses v. 2. Februar 2010 näher untersucht und bewertet werden können, gilt es zuvor den allgemeinen, den §§ 1, 2 Abs. 1, Abs. 3 StGB zu entnehmenden Prüfungsrahmen für intertemporales Strafanwendungsrechts zu bestimmen (sub 1.). Im Anschluss sind die Spezifika einer (Nicht‑)Berücksichtigung nationalsozialistischen (Un‑)Rechts offen zu legen (sub 2.).
Das intertemporale Strafrecht basiert auf zwei Grundsätzen: Erstens bestimmen sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt (so die einfachrechtliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbotes in § 2 Abs. 1 StGB); insofern herrscht Einigkeit,[14] dass Gesetzesänderungen nach Be-
gehung der Tat nicht zu Lasten des "Täters" gehen, also die Tat nicht am Maßstab eines nachträglich neu erlassenen oder verschärften Strafgesetzes zu messen ist.[15] Zweitens ist, wenn das bei Beendigung der Tat geltende Strafgesetz vor der Entscheidung geändert wird, die Strafe dem mildesten Gesetz zu entnehmen (so das in § 2 Abs. 3 StGB angeordnete Meistbegünstigungsprinzip); als milderes Gesetz gilt insbesondere die nachträgliche, selbst nur die zwischenzeitliche[16] Entkriminalisierung eines Verhaltens.
Nach im Schrifttum nicht unbestrittener,[17] aber richtiger und auch vom BGH[18] bestätigter Ansicht gelten diese beiden allgemeinen Grundsätze auch für das Strafanwendungsrecht,[19] so dass man vom intertemporalen Strafanwendungsrecht sprechen muss. Das sei im Folgenden in der gebotenen Kürze normtheoretisch substantiiert, um ein für das Demjanjuk-Verfahren relevantes Prüfungsschema für die Bestimmung des milderen Strafanwendungs-Gesetzes zu entwickeln.
Grundlegend dafür sind die Worte des BGH:
"Die Regelung, ob auf ein bestimmtes Geschehen das deutsche Strafrecht anzuwenden ist, ist[...] – von wenigen Ausnahmen abgesehen – ein Teil des sachlichen Rechts; sie behandelt das Ausmaß der Geltung des sachlichen Strafrechts und befasst sich nicht mit der verfahrensrechtlichen Frage nach dem Umfang der Strafgerichtsbarkeit [...]. Das mildeste Gesetz ist durch einen Vergleich der verschiedenen Rechtszustände von der Zeit der Tat bis zur Zeit der Aburteilung zu ermitteln."[20]
Das überzeugt staats- und überdies auch normtheoretisch. Staatstheoretisch wäre es befremdlich, wenn das Strafwendungsrecht erst in einem zweiten Schritt die staatliche Verbots- und Sanktionsgewalt (Jurisdiktion) limitierte und damit im ersten Schritt von einem zunächst unbeschränkt-universalen Bewertungsanspruch nationalen Strafrechts ausginge;[21] eine solche Argumentation führte unweigerlich zu Konflikten mit dem völkerrechtlichen Nichteinmischungsgebot, weil sich nationales Strafrechtsdenken zum Richter über Sachverhalte aufschwingen würde, die es weder unmittelbar noch mittelbar etwas angehen. Auch normtheoretisch[22] ist deshalb vielmehr von einem von Anfang an beschränkten, durch die strafanwendungsrechtlichen Vorschriften aktualisierten Bewertungsanspruch des deutschen Strafrechts auszugehen (so genannte "Relativität des Unrechts"[23]). Das Strafanwendungsrecht konkretisiert demnach die Bewertungs- in Form der Verhaltensnorm gegen einen je bestimmten Personen- bzw. potentiellen Täterkreis. Erst die Vorschriften über den Anwendungsbereich deutschen Strafrechts lassen damit abstrakte Bewertungsnormen praktisch werden, so dass das Strafanwendungsrecht – im Tatzeitpunkt – Bestandteil der "primären Norm"[24] ist. Gleichwohl hat der BGH[25] mit Zustimmung im Schrifttum[26] bekräftigt, dass der Vorsatz sich nicht auf die Geltung und Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts erstrecken muss; dogmatisch werden die Geltungsbereichsnormen mithin häufig als – verfassungsrechtlich nicht unproblematische – "objektive Bedingungen der Strafbarkeit"[27] gehandelt.
Kommt es zwischen Tat und Aburteilung zu einer Änderung des Strafanwendungsrechts, so kann eine geänderte Strafanwendungsvorschrift ein abgeschlossenes Geschehen naturgemäß psychologisch nicht mehr beeinflussen. Das geänderte Strafanwendungsrecht ist daher – im Aburteilungszeitpunkt – lediglich Bestandteil der "sekundären", nämlich der "Sanktionsnorm." Diese berechtigt die Träger der staatlichen Hoheitsgewalt dazu, die Verletzung einer noch vom überkommenen Recht ausgesprochenen Verhaltensnorm strafrechtlich zu sanktionieren. Diese Berechtigung ist negativ in die Grenzen des Rückwirkungs- in der Form eines Verbotes der rückwirkender Andersbewertung vergangener Geschehen (§ 2 Abs. 1 StGB) sowie in die des Meistbegünstigungsprinzips (§ 2 Abs. 3 StGB) zurück gebunden. Positiv folgt die besagte Berechtigung aus dem strafanwendungsrechtlichen Befehl zur Bewertung je bestimmter Geschehen nach Maßgabe des geltenden Strafrechts; dieser Befehl
zeugt davon, dass der demokratische Gesetzgeber in einem Geschehen (allemal auch) eine Verletzung der deutschen Gemeinschaftsgüter erkennt.[28] Insofern ist es ein Charakteristikum des Strafanwendungsrechts, dass eine mögliche Straftat – im materiellen Sinne der Verletzung einer Strafvorschrift – entweder ganz oder gar nicht gemeinschaftsgüterwidrig, d.h. bei positivistischer Betrachtung entweder nur als Unrecht oder nur als Neutrum klassifizierbar ist; entweder kommt deutsches Strafrecht zur Anwendung oder eben nicht!
Diese hier nur andeutbare Normentheorie des intertemporalen Strafanwendungsrechts wird bei der Bestimmung des mildesten Strafanwendungs-Gesetzes nach § 2 Abs. 3 StGB bedeutsam. Hierzu ist im Allgemeinen weitgehend anerkannt, dass nicht jede "Variation des Tatbestands oder sonstiger Bestrafungsvoraussetzungen"[29] als Entkriminalisierung vergangener Taten zu werten ist; nicht jede Umgestaltung oder Umformulierung des Strafgesetzbuches zeugt mit anderen Worten von einem Willen des historischen Gesetzgebers, dass eine nach überkommenem Recht strafbare Handlung prospektiv nicht mehr gemeinschaftsgüterverletzend (fort‑)wirkt oder revisionistisch gar noch nie gemeinschaftsgüterverletzend war.
Umstritten ist freilich, ob und inwiefern die Bestrafungsvoraussetzungen des alten Gesetzes im neuen und geänderten Gesetz enthalten sein müssen. Der Große Senat des BGH hat insofern bekanntlich kompromissformelhaft eine Kontinuität im Unrechtstyp für ausreichend (aber nicht unbedingt für geboten) erachtet:
"Gibt der Gesetzgeber durch die völlige Umgestaltung einer Strafvorschrift zu erkennen, das er nicht mehr das bisher verpönte, sondern ein ganz anders geartetes Verhalten als Unrecht betrachtet, dann können die Straftatbestände des alten und des neuen Gesetzes nicht mehr zueinander in Beziehung gesetzt werden; denn dadurch würde Nichtvergleichbares miteinander verglichen werden. Im Falle einer Umgestaltung des Tatbestandes durch das neue Gesetz ist deshalb vor Eintritt in die Vergleichung der beiden Gesetze zunächst zu prüfen, ob der Unrechtskern der Tat erhalten geblieben ist oder ein völlig neuer Unrechtstyp geschaffen wurde."[30]
Im Schrifttum wird dagegen häufig die strengere Forderung erhoben, die in den Gesetzen des Tat- und Entscheidungszeitpunktes genannten strafbarkeitskonstitutiven Merkmale müssten identisch sein; das sei nicht der Fall, "wenn auch nur eine Bestrafungsvoraussetzung durch eine neue Vorraussetzung ersetzt" werde.[31] Nach wiederum anderer, einen Mittelweg aufzeigender Formulierung, liegt ein entkriminalisierend-milderes Gesetz zumindest dann nicht vor, "wenn die durch die inhaltliche Veränderung[eines Strafgesetzes]das auf die konkrete Sachverhaltskonstellation bezogene Ver- oder Gebot, das hinter den Straftatbeständen steht, dieselbe (laienmäßig fassbare) Aussage über den Täter trifft, wenngleich vielleicht auch in anderen Worten."[32]
In Übertragung auf das intertemporale Strafanwendungsrecht ist all dem zweierlei zu entnehmen:
Erstens führen redaktionelle Änderungen in strafanwendungsrechtlichen Vorschriften nicht per se zu entkriminalisierend-milderen Gesetzen im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB.
Zweitens , und deutlich weitergehender, wird durch den Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte (also wenn für die jeweils zu bejahende Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nach überkommenem Gesetz ein anderer Aufhänger galt als nach dem geänderten Gesetz) die – als Maximalforderung erhobene – Identität strafbarkeitskonstitutiver Merkmale in der Regel nicht in Abrede gestellt. Ein Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte führt – anders als natürlich der spätere Entfall der Geltung des deutschen Strafrechts für einen vormals erfassten Sachverhalt – mit anderen Worten nicht automatisch zu einem entkriminalisierend-milderen Strafanwendungs-Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB.
Letzteres begründet sich wie folgt: Strafbarkeitskonstitutiv ist jeweils nur das "Ob" der Anwendbarkeit deutschen Strafrechts. Das entspricht der "Alles-oder-Nichts-Struktur" des Strafanwendungsrechts. Ferner stellt ein Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte die bewertungsnormative Identität der Verletzung ansonsten in seinen Voraussetzungen gleicher Straftatbestände (beispielsweise der Mordtatbestände nach dem RStGB und dem StGB) auch deshalb nicht in Frage, weil die historische Gemeinschaftsgüterwidrigkeit eines Verhaltens durch dessen abermalige strafanwendungsrechtliche Erfassung in die geänderte Rechtslage fortgesetzt wird und wirkt. Dass der Betroffene schließlich diesen Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte, d.h. sein individuelles Erfasstsein unter anderen strafanwendungsrechtlichen Vorzeichen, psychologisch nicht vorhersehen konnte, spricht nicht gegen die hier vertretene Auffassung und verletzt insbesondere auch nicht das Rückwirkungsverbot. Denn immerhin liegt es in der Natur des intertemporalen Strafrechts, dass eine geänderte gesetzliche Straf(anwendungs)lage ein abgeschlossenes Verhalten psychologisch nie beeinflussen, d.h. nicht mehr die primäre, sondern nur die sekundäre Norm bilden kann. Soweit man sich dennoch auf eine psychologisierte Argumentation einlassen will, ist auch darauf hinzuweisen, dass der Täter im Tatzeitpunkt durchaus vorhersehen konnte, dass deutsches Strafrecht zum Tragen kommt und dass er sich gemeinschaftsgüterwidrig verhält.
Auf den allfälligen Einwand, dass der Täter nicht vorhersehen konnte, warum deutsches Strafrecht nach der Gesetzesveränderung gelten wird, ist wie folgt zu reagieren: So darf schon grundsätzlich bezweifelt werden, ob der Täter im Tatzeitpunkt wirklich über den genauen kriminalpolitischen Gehalt eines später gegen ihn zur Anwendung gebrachten Gesetzes informiert sein muss; nicht jeder kriminalpolitische Wandel führt automatisch zu einem entkriminalisierend-milderen Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB. Um aber letzte verbleibende rückwirkungsrechtliche Zweifel zu zerstreuen, ist ein Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte zumindest dann legitim, wenn eine Kontinuität im Anknüpfungstypus sichergestellt ist. Das ist der Fall, wenn sich die Anwendung deutschen Strafrechts jeweils, d.h. nach dem überkommenen und nach dem geänderten Gesetz, auf die gleichen strafrechtsanwendungsrechtlichen (Grund‑)Prinzipien stützt. Eine solche Kontinuität im Anknüpfungstypus unterscheidet sich dabei – trotz der gewollten terminologischen Nähe – strukturell von der herrschenden Meinung über die für § 2 Abs. 3 StGB hinreichend erachtete Kontinuität im Unrechtstyp; während dort das Meistbegünstigungsprinzip bestrafungsfreundlich ausgelegt wird, wirkt die Prüfung der Kontinuität im Anknüpfungstypus hier bestrafungslimitierend.
Gemäß § 2 Abs. 3 StGB ist überdies die Vergleichung des überkommenen Gesetzes mit dem neuen Gesetz notwendig. Um aber überhaupt eine sinnvolle Prüfung nach geltendem Recht vornehmen zu können, ist es erforderlich, dass der Tatsachverhalt sinngemäß umgestellt, d.h. er so behandelt wird, als wäre die Tat im Zeitpunkt der Aburteilung begangen worden.[33] Der Umstellungsgegenstand sollte insofern nicht über Gebühr über die faktische (geographische, personale etc.) Tatsituation hinaus, d.h. insbesondere nicht auf überkommene außer- oder vorstrafrechtliche Rechtslagen bzw. auf Regelungseffekte des überkommenen Rechts ausgedehnt werden. Außer- oder vorstrafrechtliche Fragen beurteilen sich demzufolge – im Aburteilungszeitpunkt – regelmäßig nach Maßgabe des geltenden Aburteilungsrechts. Im sachgegenständlichen Verfahren müsste demnach etwa eine – natürlich nur der tatrichterlichen Feststellung – mögliche (!) historische Qualifizierung des Angeklagten als Wehrmachtssoldat oder als Hilfswilliger der SS bzw. der Waffen-SS nicht in geltendes Recht transponiert werden; der Angeklagte müsste also nicht automatisch einem Bundeswehrsoldaten gleichgestellt, sondern sein entsprechender Status nach dem einschlägigen Soldatengesetz beurteilt werden.
Diese restriktive Sicht des Umstellungsgegenstandes rechtfertigt sich daraus, dass bei einer Änderung von Straf(anwendungs)gesetzen eine Bestrafung für einen Altfall nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nur dann in Betracht kommt, wenn ein in der Vergangenheit liegendes gemeinschaftsgüterwidriges, d.h. von deutschem Strafrecht erfasstes Verhalten weiterhin ein strafrechtliches Unrecht darstellt. Davon könnte jedoch keine Rede mehr sein, wenn nachwirkender Schutz für oder eine nachwirkende Anknüpfung an überkommene außer- oder vorstrafrechtlicher Regelungseffekte vorgenommen würde; denn dann würde eine nachwirkende, aber eben keine aktuelle Unrechtsbewertung der Aburteilung zugrunde gelegt werden. Bei der Vergleichung ist demnach "der gesamte Rechtszustand zu berücksichtigen, wie er einerseits zur Zeit der Tat oder andererseits zur Zeit der Entscheidung bestanden hat."[34]
Eine intertemporale Vergleichung mit der zum Tatzeitpunkt geltenden Rechtslage zwingt im Demjanjuk-Verfahren auf den ersten Blick zu einer Berücksichtigung von nationalsozialistischen Gesetzen und damit auch von nationalsozialistischem Unrecht. Als echte Alternative käme nur in Betracht, das (Un‑)Recht des Tatzeitpunktes auszublenden und während und im Zusammenhang mit der NS-Diktatur begangene Straftaten allein an später erlassenem, rechtsstaatlich einwandfreiem bundesdeutschem Strafrecht zu messen. Dieser auch völkerrechtlich offen stehende Weg[35] ist allerdings auf dem "deutschen Sonderweg zum Rückwirkungsverbot"[36] kaum gangbar, weil kaum mit dem Wortlaut von Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.[37]
Es bleibt damit dabei, dass dem Demjanjuk-Verfahren auch das Strafanwendungsrecht der NS-Zeit zugrunde zu legen und alle außer- oder vorstraf(anwendungs)rechtlichen Fragen nach Maßgabe der damaligen Gesetzeslage zu beantworten sind. Dieser zunächst strikt positivistische Grundsatz erfährt freilich in der obergerichtlichen Rechtsprechung zwei – im Wesentlichen im Rahmen der juristischen Aufarbeitung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen sowie der Strafverfolgung von "DDR-Mauerschützen" entwickelte – Durchbrechungen. Diese bewahren deutsche Gerichte davor, sich zum willfährigen Diener eines vor-rechtsstaatlichen und pervertierten (Un‑)Rechts machen zu müssen:[38]
Zum Ersten sollen überkommene Gesetze immer rechtsstaatlich auszulegen sein, was ggf. auch die flagrante Uminterpretation der im Dritten Reich geltenden Rechtsauffassungen rechtfertige.[39] Die Frage lautet demnach: Was hätte ein von rechtsstaatlichen Grundsätzen geleiteter und Menschenrechte achtender Jurist aus NS-Gesetzestexten gemacht? Eine solche Uminterpretation kommt freilich meines Erachtens zulasten des Angeklagten nur in Betracht, wenn die Anerkennung und Berücksichtigung der historischen Rechtswirklichkeit rechtsstaatlich nicht hinnehmbar ist. Das ist der Fall, wenn sich ein wirklicher "rechtsstaatlicher Insichkonflikt zwischen [rückwirkungsrechtlicher]Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit"[40] einstellt, der einseitig zugunsten der letzteren aufzulösen ist.[41]
Ist zum Zweiten eine rechtsstaats- und menschenrechtskonforme Auslegung der zum Tatzeitpunkt geltenden Gesetzeslage nicht möglich, so ist in extremen Ausnahmefällen die – rechtstheoretisch und rechtsphilosophisch nicht unzweifelhafte, aber durch BGH[42] und BVerfG[43] in der Sache weiterhin anerkannte – Radbruch’sche Formel anzuwenden. Danach verliert "positives Recht, das im Widerspruch zu einem nach allgemeiner Überzeugung unverletzlichen Kernbereich des Rechts steht, seine Eigenschaft als ‚Recht’"[44], und bleibt somit bei der Alt-Rechtsanwendung außer Betracht.
Zusammenfassend gelten bei Änderungen des Strafanwendungsrechts zwischen Tat und Aburteilung die Regeln des intertemporalen Strafrechts: Mithin ist die faktische Tatsituation sowohl nach dem Recht des Tat- als auch nach dem Recht des Aburteilungszeitpunktes zu beurteilen. Eine sinngemäße Anerkennung überkommener außer- oder vorstrafrechtlicher Regelungseffekte kommt bei der Prüfung geltenden Rechts nicht in Betracht. Bei einem Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte liegt ein entkriminalisierendes, d.h. milderes Strafanwendungs-Gesetz nach § 2 Abs. 3 StGB allemal dann nicht vor, wenn eine Kontinuität im Anknüpfungstypus gewahrt ist. Die dem Angeklagten zu Last gelegten nationalsozialistischen Gewaltverbrechen sind (auch) mit den zur Tatzeit geltenden Gesetzen des Dritten Reiches zu erfassen. Bei der Prüfung der Tatzeitstrafbarkeit kommt demnach das damalige Strafanwendungsrecht zum Tragen. Außer- und vorstrafanwendungsrechtliche Fragen bestimmen sich nach dem damaligen Rechtszustand. Eine nach heutigen Maßstäben rechtsstaatlich und menschenrechtlich nicht hinnehmbare NS-Rechtswirklichkeit kann entweder durch eine völkerrechts-, rechtsstaats- oder menschenrechtskonforme Auslegung von NS-Gesetzen rekonstruiert oder, wenn dies nicht möglich ist, durch die Anwendung der Radbruch’schen Formel korrigiert werden.
Nach Maßgabe des im Vorstehenden entwickelten Prüfungsschemas ist die erste Argumentationslinie des LG München II – "Tatort der Beihilfe ist auch Tatort der Haupttat[…]. Dabei genügt es schon, wenn einer der Haupttäter auch nur eine Vorbereitungshandlung im Inland begangen hat." – historisch inakkurat; sie steht
überdies weder im Einklang mit der Normgenese des heute geltenden § 9 Abs. 2, Abs. 1 StGB noch ist sie teleologisch frei von Widersprüchen.
Den folgenden Einzelerwägungen sei zur Klarstellung vorweggeschickt: Es ist politisch nicht daran zu zweifeln, dass für die – im untechnischen Sinne – Hintermänner der von deutschem Boden ausgehenden, rassisch motivierten NS-Vernichtungspolitiken, insbesondere des Genozids an den europäischen Juden, ein Inlandstatort begründet war und ist. Fraglich ist jedoch, ob dieser – abermals im untechnischen Sinne gesprochen – Inlandstatort der Orchestrierung und Administrierung rassisch motivierter Vernichtungspolitiken sich automatisch auch auf Auslandsbeihilfen erstreckt; so wünschenswert eine solche Erstreckung auch rechtspolitisch ist, so sehr muss sie mit dem überkommenen und geltenden Recht auch zu bewerkstelligen sein. Gerade in einer das überkommene Recht berücksichtigenden Argumentation kann – mangels einer § 9 Abs. 2, Abs. 1 StGB entsprechenden Vorschrift – der für den Haupttäter begründete Inlandstatort nicht automatisch als Inlandstatort der Auslands-Beihilfe qualifiziert werden.
Dass nach der reichsgerichtlichen Rechtsprechung "der Tatort der Beihilfe auch Tatort der Haupttat" sei, belegt das LG München II unter Verweis auf RG JW 1936, 2655 und RGSt 74, 55, 59. Ein Blick in diese Reichsgerichtsrechtsprechung widerlegt den Beschluss eher, als dass sie ihn bestätigt:
Der in RG JW 1936, 2655 abgedruckte Leitsatz lautet:
"Eine im Inland verübte Beihilfe zu einer im Ausland begangenen Haupttat ist in allen Beziehungen – einschließlich der zu ihrem Tatbestande begrifflich gehörenden Haupttat – lediglich nach dem deutschen Strafgesetz gerade so zu beurteilen, als fiele auch die Haupttat unter die deutschen Strafgesetze."
Damit wird – wie nunmehr auch in § 9 Abs. 2 S. 1 2. Var. StGB – die Inlandsteilnahme, die eine im Ausland begangene Haupttat fördert, als Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit deutschen Strafrecht herausgestellt und folglich die umgekehrte Situation wie im Demjanjuk-Verfahren behandelt.
Die in diesem Verfahren interessierende mögliche Auslandsteilnahme an einer Inlandshaupttat findet sich in RGSt 74, 55, 59 f. besprochen. Dort heißt es:
"[Der Begründung eines Inlandstatortes]steht auch nicht etwa der Umstand entgegen, dass[der Gehilfe]die helfende Tätigkeit im Ausland entfaltet hat. Nach feststehender Rechtsprechung des RG folgt aus der unselbständigen Natur der Beihilfe, das heißt ihrer Abhängigkeit von der Haupttat, dass der Ort der Begehung der Haupttat auch als Begehungsort der Beihilfe zu gelten hat, gleichviel ob der Gehilfe seine helfende Tätigkeit an einem anderen Ort entwickelt hat[...]. Die Beihilfe besteht in der Förderung der Haupttat, die notwendig ihre Wirkung auch da äußert, wo die Haupttat begangen wird."[45]
Es tritt demnach deutlich zu Tage, dass das RG die Erstreckung deutschen Strafrechts auf die Auslandsbeihilfe davon abhängig macht, dass letztere sich auf eine Inlandshaupttat ausgewirkt und diese "gefördert" hat. Prüfungsmaßstab für § 4 Abs. 1 RStGB ist demnach eine faktische oder zumindest normative, physische oder zumindest psychische Förderungsauswirkung einer Auslandsbeihilfe im Inland.[46] Diese historische Auslegung des § 4 Abs. 1 RStGB scheint auch frei von unrechtsstaatlicher Durchformung, so dass eine korrigierende oder revidierende Uminterpretation hier kontraindiziert ist.
Ob eine Förderungsauswirkung einer Auslandsbeihilfe im Inland im sachgegenständlichen Verfahren zu bejahen ist, obliegt der tatrichterlichen Beurteilung und kann deshalb hier nicht entschieden werden. Dagegen spricht freilich, dass eine wachmannschaftliche Tätigkeit in einem Vernichtungslager die – ggf. im tatbestandsdogmatischen Sinne: nur vorbereitende und – auf deutschem Boden erfolgte Planung und Administration des Holocausts kaum, weder normativ noch faktisch, beeinflusst haben wird.
Plausibler erscheint die Argumentation der Nebenklage, dass die Eisenbahntransporte der zur Ermordung in Sobibór vorgesehenen Menschen über deutsches Reichsgebiet verlaufen sind. Im Sinne der so genannten Transitdelikte[47] ließe sich dann – und hier sei das Nebenklagevorbringen bewusst ergänzt – argumentieren, dass folglich auf deutschem Reichsgebiet ein nach außen in Erscheinung getretener und in diesem Sinne ein "Vorbereitungs-" oder gar ein "Versuchserfolg"[48] im Inland eingetreten ist. Doch selbst wenn man sich von solchen erfolgsunrechtsterminologischen Untiefen nicht abschrecken lassen wollte, wäre zu klären, wie ein nachträgliches Verhalten des Angeklagten in Sobibór (d.h. das Verbringen der ankommenden Menschen in Gaskammern) einen im Inland zu verzeichnenden Transiterfolg noch fördern können soll. Infrage kommt hier lediglich eine Art psychische Beihilfe, weil die Transporte ohne die in Aussicht gestellten Tätigkeiten der "fremdvölkischen Wachmannschaften" nicht durchgeführt worden wären. Allerdings signalisiert die Tatsache, dass die Anklage die während der Transporte verstorbenen Menschen dem Angeklagten
nicht zweifelsfrei zur Last legt,[49] dass mit Blick auf diesbezügliche Förderungen ein Nachweis schwierig werden könnte. Insofern wäre es allemal in sich widersprüchlich, wenn der Angeklagte sich einerseits – mangels tatbestandlicher Beihilfe – nicht für den Tod von Menschen während der Transporte verantworten müsste, während andererseits aufgrund des Transits durch reichsdeutsches Hoheitsgebiet – und kraft entsprechender Förderungsauswirkungen der Auslandsbeihilfe – deutsches Strafrecht zur Anwendung kommen soll. Hier muss einheitlich entschieden werden.
Die damit gesetzten – rechtlichen wie faktischen – Fragezeichen hinter der Geltung reichsdeutschen Strafrechts für die dem Angeklagten zu Last gelegte Auslandsbeihilfe gelten inhaltsgleich auch für das aktuelle Recht. Das ist freilich dem Wortlaut und der Systematik von § 9 StGB nicht unmittelbar zu entnehmen. Nach § 9 Abs. 2 S. 1 1. Var. StGB ist die Teilnahme auch "an dem Ort begangen, an dem die Tat begangen ist." Letzteres findet sich dann scheinbar in Abs. 1 definiert, demzufolge die "Tat an jedem Ort begangen ist, an dem der Täter gehandelt hat[...]oder an dem der zum Tatbestand gehörende Erfolg eingetreten ist".[50] Wortlaut und Systematik des § 9 StGB legen daher nahe, dass diese Vorschrift im Vergleich zu § 4 Abs. 1 RStGB (bzw. genauer: im Vergleich zu dessen Konkretisierung durch die Reichsgerichtsrechtsprechung) ein schärferes, nämlich weiteres Strafanwendungsgesetz darstellt: Einerseits wird auf eine Förderungsauswirkung der Auslandsbeihilfe im Inland verzichtet; andererseits wird der Inlandstatort der Auslandsbeihilfe nicht nur kraft ihrer Akzessorietät zum Inlands-Haupttaterfolg begründet, sondern auch kraft ihrer Beziehung zur Inlands-Haupttäterhandlung.
Diese Erweiterung rechtfertigt sich aus der Akzessorietät des Beihilfe allerdings teleologisch nur insoweit, als die Beihilfehandlung sich in der Inlands-Haupttat (sei es dem Inlandserfolg oder der Inlandshandlung eines Haupttäters) geäußert, d.h. diese konkret – entweder normativ oder faktisch – gefördert hat.
Auch die Entstehungsgeschichte von § 9 StGB lässt kaum keinen anderen Schluss zu. In den Protokollen der Großen Strafrechtskommission findet sich Erhellendes über den Sinn und Zweck des heutigen § 9 Abs. 2 S. 1 StGB. In den Worten Jeschecks:
"Die Bestimmung befasst sich mit der Frage, ob Erfolg der Anstiftung lediglich die Herbeiführung des Tatentschlusses bzw. Erfolg der Beihilfe lediglich die Förderung der Haupttat ist oder ob auch die Begehung der Haupttat als ein Erfolg der Teilnahmehandlung angesehen werden kann. Diese Frage habe ich in Übereinstimmung mit dem Reichsgericht und der herrschenden Lehre im letzteren Sinne bejaht, weil der Teilnehmer ja gerade wegen seiner Mitverantwortlichkeit für die Begehung der Haupttat bestraft wird. Daraus folgt dann, dass auch eine im Ausland begangene Teilnahme an einer Inlandstat im Inland bestraft werden kann, weil sie mit Rücksicht auf den eingetretenen Erfolg als Inlandstat zu behandeln ist."[51]
Nur im Lichte dieser Übertragung der auswirkungs- und erfolgsbezogenen Rechtsprechung des Reichsgerichts ins geltende Recht wird verständlich, warum die einschlägige Kommentarliteratur zu § 9 Abs. 2 StGB als Ort der Teilnahme auch heute noch denjenigen ausgibt, "wo sich der jeweilige Teilnahmeakt fördernd auswirkt."[52] In diesem Sinne schreibt Ambos: "Tatort des Gehilfen ist u.a. dort, wo die Gehilfenhandlung ausgeführt wird und sich haupttatfördernd auswirkt."[53] Es ist damit normgenetisch mehr als fraglich, ob nach geltendem Recht eine Auslandsbeihilfe, die sich weder in einem Inlandserfolg noch in einer Inlandshandlung eines Haupttäters auswirkt, sondern erst und nur bei einem Auslandserfolg (hier also bei der Ermordung vieler tausender Menschen in Sobibór) zum Tragen kommt, deutschem Strafrecht unterfallen soll. Die besseren akzessorietätsdogmatischen und normgenetischen Gründe sprechen dagegen und gebieten eine einschränkende Auslegung des – zugegebenermaßen – weiten Wortlauts von § 9 Abs. 2, Abs. 1 StGB. Der Inlands-Tatort der Inlands-Haupttat kann demnach für die Auslands-Beihilfe nur gelten, wenn sich letztere in ersterer faktisch oder normativ niedergeschlagen und sie physisch oder psychisch gefördert, d.h. sich im Inland ausgewirkt hat. Abermals steht also hier zur Debatte, ob zumindest Beihilfe zum Transiterfolg geleistet wurde (s. oben III.1.).
Bei all dem wurde bis dato implizit unterstellt, dass überhaupt auf deutschem Boden eine Haupttat verwirklicht wurde bzw. ein Haupttäter im Inland eine Tathandlung vorgenommen hat. Nur unter dieser Prämisse kann überhaupt über eine Auslandsteilnahme an einer inländischen Haupttat bzw. über eine Auslandsteilnahme an einer Inlandstathandlung räsoniert werden. Diese Prämisse ist jedoch alles andere als frei von tatbestands- und beteiligungsdogmatischen Zweifeln:
Dabei erscheint es auf den ersten Blick mehr als plausibel und mehr als legitim, dass die Orchestrierung und Administrierung des Holocausts die eigentliche Haupt- oder Gesamttat darstellt, die ihrerseits im Inland begangen wurde. In dieser Logik konstituieren inter alia die einzelnen, in den im Ausland gelegenen Vernichtungslagern begangenen Morde in ihrer Gesamtheit die rassisch motivierte NS-Vernichtungspolitik, insbesondere den Genozid an den europäischen Juden. Die einzelnen Morde bzw. die dazu erbrachte Beihilfe ist in der Folge Mitwirkung an einem umfassenden, von deutschem Boden ausgehenden Völkermord.
Eine solche Auslands-Mitwirkung an einem Inlands-Völkermord wurde jedoch nicht zur Anklage gebracht. Und das aus gutem Grunde, da eine rückwirkende Anwendung von §§ 220a StGB a.F., 6 VStGB auf die NS-Zeit nicht mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar sein soll. Führt man dann jedoch, wie dies dann tatbestands- und rückwirkungsdogmatisch erforderlich ist, die historisch-genozidären Geschehen in Sobibór auf die "gemeine" Beihilfe in 15 Fällen zum Mord in mindestens 27.900 Fällen zurück, so kommt man nicht umhin, in diesen (Auslands‑)Morden die eigentlichen Haupttaten zu erkennen; das gilt sowohl nach damaliger wie nach heutiger Rechtslage. Das mag man rechtspolitisch scharf kritisieren, weil sich die Tatbestandsdogmatik des "gemeinen Mordes" über die historischen Zusammenhänge hinwegsetzt. Allein, eine Verselbständigung des Genozids zum Planungs- oder Führungsverbrechen ist weder im überkommenen noch im geltenden deutschen Strafrecht angelegt; eine entsprechende Argumentation ist folglich auch kaum mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar.
Bemerkenswert ist insofern auch noch, dass selbst das Völkerstrafrecht nicht den nahe liegenden Weg gegangen ist und Völkerstraftaten wie Völkermord oder Humanitätsverbrechen nicht als Führungs- und Planungsverbrechen konstruiert. Mit Kreß ist zu resümieren, "dass die meisten Tatbestandsvarianten der geltenden Definitionen von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit von der Ausführungsebene aus formuliert sind."[54]
Mithin hat – auch bei einer völkerstrafrechtskonformen Auslegung des geltenden gemeinen Mordtatbestandes – die Begründung eines Inlandstatortes von den einzelnen Auslandsmorden, d.h. von der Ausführungsebene, auszugehen. Um einen Inlandstatort zu begründen, müssen diese Auslandsmorde, etwa mithilfe der anerkannten Zurechnungskriterien der Beteiligungsdogmatik, ins Inland projiziert werden. Dabei stellen sich mannigfaltige Probleme ein, unabhängig davon, ob – was natürlich der tatrichterlichen Klärung zu überlassen ist – die von deutschem Reichsgebiet aus agierenden Planer und Verwalter des Holocausts nun als Anstifter, Mittäter oder mittelbare Täter der einzelnen Mordausführungen zu qualifizieren sind:
Insofern ist zunächst zu bemerken, dass im Falle einer Anstiftungslösung die Konstruktion eines Inlands-Tatortes zwingend misslänge. Die Auslandsbeihilfe zur Auslandshaupttat wird nicht durch eine Inlandsanstiftung zur Inlandstat.[55]
Der Nachweis einer Mittäterschaft zwischen den NS-Führung- bzw. Verwaltungskadern, den für den Transport verantwortlichen Personen sowie den Lagerverantwortlichen in Sobibór wird insofern Schwierigkeiten bereiten, als Mittäterschaft nicht schon im Falle des einseitigen Einverständnisses gegeben ist. Zwar können mehrere eine Tat auch dann gemeinschaftlich begehen, wenn sie einander nicht kennen; allerdings ist und bleibt für einen gemeinsamen Tatplan erforderlich, dass sich "jeder bewusst ist, dass andere mitwirken und alle im bewussten und gewollten Zusammenwirken handeln."[56]
Trotz dieser Nachweisprobleme ist eine Mittäterlösung strafanwendungsrechtlich "interessant", weil nach der Rechtsprechung von RG[57] und BGH[58] bereits die Inlands-Vorbereitungshandlung eines Mittäters – nämlich die Vorbereitung zu späteren Auslands-Haupttaten – einen Inlandstatort begründen soll.[59] Insofern ist mit dem BGH wie folgt zu differenzieren:
Erstens soll eine Vorbereitungshandlung eine Handlung im Sinne des § 9 Abs. 1 StGB darstellen, sofern sie nur selbständig mit einer Strafsanktion bedroht ist.[60] In Frage kommt hier – nach geltendem Recht – eine Inlands-Verabredung zum Auslands-Mord gemäß § 30 StGB,[61] die dann untechnisch gesprochen in den mittäterschaftlich
begangenen Auslands-Morden aufgeht bzw. die konkurrenzrechtlich gesprochen subsidiär zu den später begangenen Morden ist. "Dass[diese Inlands-Verabredung]als solche nicht bestraft werden kann, weil sie hinter der Ausführung der verabredeten Tat zurücktritt (Subsidiarität), nimmt ihr nicht den Charakter einer tatortbegründenden Handlung."[62]
So überzeugend das für Mittäter klingen mag, d.h. so überzeugend es ist, dass die mittäterschaftliche Planung des Holocausts für sämtliche Mittäter einen originären Inlandstatort begründet, so wenig mag zu überzeugen, dass dieser Inlandstatort einer Inlands-Verbrechensverabredung auch für die erst im nachhinein[63] geleistete Auslands-Beihilfe zur mittäterschaftlichen Auslands-Haupttat gelten soll. In diesem Sinne ist zwar nicht am Inlandstatort zu zweifeln, sondern nur an dessen automatischer Erstreckung auf die Auslands-Beihilfe. Eine solche nachträgliche Auslands-Beihilfe ist nämlich in keiner Weise akzessorisch zur Inlands-Verabredung und hat sich darin auch in keiner Weise ausgewirkt. Es grenzte somit an Rabulistik, wenn nach § 9 Abs. 2 S. 1 StGB der Ort der Teilnahme dem § 9 Abs. 1 StGB zu entnehmenden Ort der Haupttat gleichgesetzt, letzterer vermittels mittäterschaftlicher Spezifika begründet und dann ohne Berücksichtigung der zeitlichen Abfolge des Geschehens auf die Auslandsteilnahme erstreckt würde.
Zweitens , und auf die Voraussetzung einer selbständigen strafrechtlichen Erfassung einer Vorbereitungshandlung verzichtend, soll nach dem BGH zudem auch Folgendes gelten:
"Bei einem Mittäter, dessen Tatbeitrag sich in einer Vorbereitungshandlung erschöpft, bestimmt diese Vorbereitungshandlung den Tatort der Handlung, da eine andere Willensbetätigung als Anknüpfungspunkt für die Tatortbestimmung nicht in Betracht kommen kann."[64]
Nach Küppers erfreute sich der BGH mit dieser Auffassung noch 1993 einhelliger Zustimmung.[65] Trotzdem muss der sich nun dagegen leise regenden Kritik[66] umfassend zugestimmt und eine Verletzung der Wortlautgrenze in den Raum gestellt werden: § 9 Abs. 1 StGB lautet, dass "[e]ine Tat an jedem Ort begangen ist, an dem der Täter gehandelt hat." Dann kann jedoch eine deliktisch selbständig nicht erfasste, d.h. straflose Vorbereitungshandlung im gleichen Atemzug nur schwerlich als deliktische "Tat" bezeichnet werden. Ebenso wenig macht eine straflose Vorbereitungshandlung den Handelnden zum "Täter". Auch mittäterschaftliche Zurechnungsüberlegungen führen nicht weiter, weil diese nur und erst bei der "gemeinschaftlichen Begehung einer Straftat" (§ 25 Abs. 2 StGB) zur Anwendung kommen; wenn eine "Straftat" im Ausland begangen wird, ist die Anwendbarkeit von § 25 Abs. 2 StGB qua der strafanwendungsrechtlichen Vorschriften und nicht umgekehrt die "Anwendung des Strafanwendungsrechts" qua § 25 Abs. 2 StGB zu begründen. Anerkennt man demnach, dass nach geltendem Recht Vorbereitungshandlungen straflos sind, kann ein strafloses Verhalten nicht gleichzeitig einen Bewertungsanspruch deutschen Strafrechts nach sich ziehen.
Selbst bei einem faktischen Nachweis der Mittäterschaft zwischen Inlands- und Auslandstätern – hier wohl zwischen den auf deutschem Reichsgebiet handelnden Planern und Verwaltern des Holocausts und den Lagerverantwortlichen in Sobibór – wird damit nicht automatisch ein Inlandstatort für die nachträgliche Auslands-Beihilfe geschaffen: Reine Inlandsvorbereitungshandlungen eines Mittäters reichen dafür allemal nicht aus; haben die Mittäter freilich im Inland, etwa durch die durch deutsches Reichsgebiet rollenden Transporte, bereits zur Ermordung der Tatopfer angesetzt, so wäre ein Inlandstatort begründet. Dann lässt sich nur darüber diskutieren, ob und unter welchen Voraussetzungen dieser Inlandstatort auch für die Auslands-Beihilfe gelten darf (s. oben III.1. und III.2.).
Schließlich gilt es noch einige Zweifel an der Begründung eines Inlandstatortes der Auslands-Beihilfe kraft mittelbarer Täterschaft des NS-Führungs- und Verwaltungskaders zu säen. Diese mittelbare Täterschaftslösung basiert dabei abermals auf der Überlegung, dass der Inlandstatort des Inlands-Haupttäters – hier also des Inlands‑Hintermanns – auch für die Auslands-Beihilfe gelten soll.
Erstens ist die dafür anzuerkennende Figur eines Täters hinter dem Täter, d.h. einer mittelbaren Täterschaft in organisatorischen Machtapparaten, ein Kind der bundesrepublikanischer Strafrechtswissenschaft, die damit erst auf die Organisationsstrukturen des Dritten Reiches reagierte.[67] Dem RG war diese Figur noch unbekannt, und im Tatzeitpunkt herrschte – selbst unter Zugrundelegung eines streng subjektiven Täterbegriffs – die Auffassung vor, "Voraussetzung für die Möglichkeit mittelbarer Täterschaft[sei], dass die Mittelsperson nicht selbst mit Täterwillen handelt. Ist dies der Fall, dann kommt nur Anstiftung in Betracht."[68]
Nimmt man demzufolge die positivistische These, das intertemporale Straf(anwendungs)recht habe den gesamten Rechtszustand im Tatzeitpunkt zumindest im Grundsatz anzuerkennen und der Prüfung der Strafbarkeit zugrunde zu legen, beim Worte, so sieht sich die mittelbare Täterschaftslösung nachhaltigen dogmenhistorischen Bedenken ausgesetzt. Es lässt sich auch kaum argumentieren, dass die Nichtanerkennung des "Täters hinter dem Täter" nachgerade von unrechtsstaatlichem Denken zeuge, mit der Folge, dass eine Uminterpretation der damaligen Rechtswirklichkeit im Lichte eben dieser Figur notwendig werde; diese Argumentation bräche den Stab über all jene, die auch heute dieser Figur – aus den unterschiedlichsten Gründen – skeptisch gegenüber stehen und ihr nicht folgen wollen.[69]
Am ehesten ließe sich noch argumentieren, dass das Tatgericht, indem es die Figur des Täters hinter dem Täter auf das Tatzeitrecht anwendet, "bloß" eine – nach obergerichtlicher Rechtsprechung[70] noch dazu mutmaßlich rückwirkungsrechtlich unproblematische – Änderung der Auslegung des Tatzeitrechts vornehmen würde. Dass ein solches Vorgehen freilich "Kosten" verursachen würde, liegt auf der Hand, weil man sich des Eindrucks nicht erwehren könnte, dass das Bekenntnis zur historischen Rechtswirklichkeit auf dem Altar der rechtspolitisch gewollten Geltung deutschen Strafrechts für NS-Taten geopfert würde. Allemal wäre von einem solchen Vorgehen abzuraten, wenn sich der intertemporale Bewertungsanspruch deutschen Strafrechts anders begründen und unter weitergehender Berücksichtigung des Tatzeitrechts bewerkstelligen ließe.
Zweitens sei zu Bedenken gegeben, dass es zurechnungsdogmatisch nicht unzweifelhaft ist, ob bei einer mittelbaren Täterschaft von aus dem Inland agierenden Hintermännern, die hinter im Ausland begangenen Straftaten stehen, wirklich nach § 9 Abs. 1 StGB ein Inlandstatort geschaffen wird. Fraglich ist insofern, ob die Hintermänner im Inland nicht nur im natürlichen Sinne, sondern gerade auch im (Strafanwendungs‑)Rechtssinne "handeln".[71] Das ist zu bejahen, wenn die Organisationsherrschaft der Hintermänner (bzw. genauer: die Einwirkung auf die jeweiligen Tatmittler) die eigentliche Inlands-Tathandlung darstellt. Es ist jedoch zu verneinen, wenn die Ausführungshandlungen der Tatmittler den Hintermännern nur "zugerechnet" werden, d.h. die Organisationsherrschaft nur zurechnungslegitimierend, nicht aber handlungsbegründend ist; in der Logik einer Zurechnungskonstruktion wären folglich die Morde (nur) im Ausland verwirklicht und die mittelbaren Täter so zu behandeln, also ob sie selbst im Ausland tätig geworden wären. Der aus der Versuchsdogmatik hinlänglich bekannte Streit – zum Zeitpunkt des Versuchsbeginns bei der mittelbaren Täterschaft, nämlich ob der mittelbare Täter selbst oder nur sein Tatmittler "handelt" und damit zur Tat unmittelbar ansetzt[72] – steht damit auch strafanwendungsrechtlich zur Entscheidung an, wollte man den Inlandstatort der Auslands-Beihilfe über die mittelbare Täterschaft von mittelbaren Inlandstätern konstruieren.[73]
Drittens muss schließlich betont werden, dass § 9 StGB nicht auf die Figur des "Täters hinter dem Täter" zugeschnitten ist; strafanwendungsdogmatisch ist diese Figur wiederum nicht mit der Figur der Auslands-Beihilfe abgestimmt. Dazu vergegenwärtige man sich folgendes argumentum ad absurdum: Für die Auslands-Beihilfe scheint, folgt man dem Wortlaut des § 9 Abs. 2 StGB, ein Inlandstatort gegeben zu sein, wenn der mittelbare Täter im Inland gehandelt, also auf seinen Tatmittler eingewirkt und so dessen Auslands-Tat beherrscht hat, die wiederum durch die in Frage stehende Auslands-Beihilfe gefördert wurde. Prüft man diesen Tatmittler nun aber selbst als unmittelbaren Auslands-Täter, so bestimmt sich der Tatort nach § 9 Abs. 1 StGB allein nach seinen eigenen Auslandshandlungen bzw. den Auslandserfolgen der Tat; ihm können auch nicht im Wege einer reversen Zurechnung die Inlands-Tatbeiträge seines Hintermanns zu Last gelegt werden (das gelänge nur, wenn Hintermann und Tatmittler als Mittäter zu qualifizieren wären, was sich jedoch natürlich konzeptionell ausschließt).[74] Für den Auslands-Tatmittler als unmittelbaren Auslands-Täter gilt demnach kein Inlandstatort, für den Auslands-Gehilfen hingegen schon. Diese Unstimmigkeit muss der Gesetzgeber durch eine klare und bestimmte Regelung ab-, nicht aber ein Gericht durch Auslegung eines unbestimmten Strafgesetzes auflösen.
Während die zuvor erörterte Begründung eines umfassenden – alle Morde umgreifenden – Inlandstatortes für die in Frage stehende Auslands-Beihilfe mit einer Vielzahl an faktischen Nachweis- und juristischen Erklärungsproblemen verbunden ist, ist dem LG München II nachhaltig zuzustimmen, dass das überkommene und das
geltende deutsche Strafrecht selektiv [75] für die Ermordung "deutscher Juden" gilt. Schwierigkeiten bereitet insofern weniger die Anwendbarkeit des RStGB als vielmehr die des StGB, der scheinbar Art. 116 GG und das dort angeordnete – und hier wohl kaum befriedigte – Antragserfordernis für eine Wiedereinbürgerung von zu NS-Zeiten zwangsausgebürgerten Mitbürgern entgegensteht. Um dieses Hindernis zu überwinden, muss – mit Billigung des BVerfG – diese vom Wortlaut eindeutig einschlägige Verfassungsvorschrift aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte und ihrer Teleologie unangewendet bleiben:
Was zunächst die Anwendbarkeit des RStGB anbetrifft, wurde durch BVerfGE 20, 98, 99 eindeutig festgestellt, dass die NS-gesetzliche Zwangsausbürgerung "deutscher Juden" im Sinne der Radbruch’schen Formel nichtig ist. Den Leitsätzen der Entscheidung ist in der Sache nichts hinzuzufügen:
"Nationalsozialistischen Rechtsvorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde.
In der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 (RGBl. I, S. 772) hat der Widerspruch zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass sie von Anfang an als nichtig erachtet werden muss."
Das BVerfG sanktioniert somit die partielle Durchbrechung der im Tatzeitpunkt geltenden Rechtswirklichkeit. In rechtsstaatlich "aufgeklärter" Nichtberücksichtigung der Zwangsausbürgerung der in Sobibór ermordeten deutschen Mitbürger jüdischen Glaubens – die ihre reichsdeutsche Staatsangehörigkeit auch nicht anderweitig, etwa durch Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit, verloren haben – folgt bei historischer Betrachtung somit die deutsche Strafgewalt aus § 4 Abs. 2 Nr. 2 RStGB, weil und sofern die angeklagten Auslands-Beihilfen des Angeklagten die gegen reichsdeutsche Staatsangehörige gerichteten Auslands-Straftaten förderten.[76]
Während demnach nach dem Tatzeitrecht die Zwangsausbürgerungen ungeschehen gemacht werden können, stößt die Begründung der bundesdeutschen Strafgewalt auf das Problem, dass die in Sobibór ermordeten "deutschen Juden" nach Art. 116 Abs. 2 GG[77] scheinbar – mangels Antragsstellung oder Wohnsitznahme in Deutschland – nie die "bundes"-deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. Nähme man Art. 116 Abs. 2 GG beim Worte, dann entfiele gemäß § 7 Abs. 1 StGB, wonach bundesdeutsches Strafrecht nur bei gegen Deutsche im Sinne des Grundgesetzes[78] gerichteten Taten gilt, die bundesdeutsche Jurisdiktion; in diesem Sinne wäre dann § 7 Abs. 1 StGB ein entkriminalisierend-milderes Strafgesetz nach § 2 Abs. 3 StGB.
Das mag perplex, wenn nicht "unanständig", klingen, weil den ermordeten und zwangsausgebürgerten Personen gerade durch ihre Ermordung die Möglichkeit genommen wurde, einen Antrag auf Wiedereinbürgerung zu stellen oder nach dem Kriege einen Wohnsitz in Deutschland zu nehmen. Und doch hat das BVerfG in der o.g. Entscheidung in einem weiteren Leitsatz postuliert:
"Für diejenigen, die eine fremde Staatsangehörigkeit nicht erworben haben, liegt die Bedeutung des Art 116 Abs. 2 GG darin, dass der deutsche Staat sie – unbeschadet des Umstandes, dass sie die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren haben – nicht als Deutsche betrachtet, solange sie nicht durch Wohnsitzbe-
gründung oder Antragstellung sich auf ihre deutsche Staatsangehörigkeit berufen."
Begründet wird das damit, dass ein erstes Unrecht – nämlich die Zwangsausbürgerung im Dritten Reich – nicht durch ein weiteres Unrecht – nämlich eine Zwangseinbürgerung nach dem Grundgesetz – geheilt werden soll.[79] Für zwangsausgebürgerte Mitbürger, die den Krieg überlebt und die Voraussetzungen des Art. 116 Abs. 2 GG nicht erfüllt haben, kommt folglich nur in Betracht, sie im Sinne des § 7 Abs. 1 StGB "wie" Deutsche zu behandeln[80] oder aber ausnahmsweise einen originären strafanwendungsrechtlichen Deutschenbegriff zu prägen[81].
Solcher Begründungsaufwand wird für die hier interessierende Konstellation, dass die zwangsausgebürgerten Mitbürger den Krieg nicht überlebt haben, allerdings nicht relevant. Wie das BVerfG nämlich unter Auswertung der Protokolle des Parlamentarischen Rates zu Tage gefördert und dann klarstellt hat:
"Art 116 Abs. 2 gilt nicht für die Verfolgten, die den 8. Mai 1945 nicht überlebt haben.[Art. 116 Abs. 2 GG lässt sich]nur in den Fällen anwenden, in denen die Betroffenen die Möglichkeit haben oder hatten, ihren Willen zu bekunden und damit den einen oder den anderen der in dieser Vorschrift genannten Tatbestände zu erfüllen. Eine solche Möglichkeit bestand für die Verfolgten, die vor dem 8. Mai 1945 verstorben sind, nicht. Die Staatsangehörigkeit dieser Verfolgten fällt somit nicht unter Art. 116 Abs. 2 GG. Vielmehr haben sie ihre deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren, weil die 11. Verordnung von Anfang an nichtig war."[82]
Damit wird der Sinn und Zweck des Art. 116 Abs. 2 GG, zwangsausgebürgerten Mitbürgern ein Wahlrecht für den Wieder-Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit anheim zu geben, konsequent zu Ende und gegen den eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift in Stellung gebracht. Die in Sobibór ermordeten "deutschen Juden" dürfen folglich als deutsche Staatsbürger qualifiziert werden; für ihre Ermordung erhebt die bundesdeutsche Rechtsordnung mithin – auch nach und mit Einführung von § 7 Abs. 1 StGB – den Anspruch der Unrechtsbewertung und ‑sanktionierung.
Von hohem strafanwendungsdogmatischen Interesse ist schließlich die Geltungsbegründung reichs- und bundesdeutschen Strafrechts vermittels des Status des Angeklagten als "fremdvölkischer Wachmann", der laut dem LG München II – und wohl vorbehaltlich weiterer tatrichterlicher Feststellungen – eine Qualifizierung entweder als Amtsträger oder als Soldat bzw. Militär zu tragen scheint. Ohne diesen tatrichterlichen Feststellungen vorgreifen zu wollen oder zu können, könnte sich an dieser Stelle ein praktischer Anwendungsbereich für die oben aufgeworfene Lehre vom "Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte" (s. oben II.1.d) auftun: In rückwirkungsrechtlich gebotener, behutsamer Achtung der historischen Rechtswirklichkeit kann das RStGB nicht kraft der Amtsträgereigenschaft des Angeklagten, sondern kraft anderer "bellizistischer" Zustände zur Anwendung gebracht werden; mangels Übertragbarkeit dieser "bellizistischen" Zustände ins heutige Strafanwendungs- und Wehrrecht, ist hingegen aus heutiger Perspektive eine Qualifikation des Angeklagten als Amtsträger möglich und tunlich.
Anders als das LG München II in seinem Beschluss schreibt, tun sich bei näherer Betrachtung teils erhebliche – auch und gerade in der Literatur, auf die sich das LG München II ausdrücklich beruft – dogmatische Unterschiede zwischen der Erstreckung der Anwendbarkeit des StGB auf Träger eines deutschen staatlichen Amts nach § 4 Abs. 3 Nr. 1 RStGB und nach § 5 Nr. 13 StGB auf:
So ist zunächst zu bemerken, dass das historische Schrifttum als Beispiel für deutsche Amtsträger, für deren Amtshandlungen reichsdeutsches Strafrecht gelten sollte, fast nur den Wahlkonsul nannte.[83] Das spricht zu-
mindest als Indiz dagegen, dass in der historischen Rechtswirklichkeit, die um die Existenz "fremdvölkischer" Hilfswilliger wusste, eben dieser Personenkreis als Amtsträger verstanden wurde, zumal zwischen dem Wahlkonsul als "Ehrenbeamten"[84] und dem im Vernichtungslager eingesetzten "fremdvölkischen" Hilfswilligen beträchtliche statusrechtliche Divergenzen bestehen.
Durchgreifendere Bedenken ergeben sich allemal daraus, dass – was zu § 5 Nr. 13 StGB heute weiterhin umstritten ist – die historisch herrschende Meinung die Geltung des RStGB nur für – hier weder angeklagte noch in Frage kommende – "echte und unechte Amtsdelikte" vorsah.[85] Als hätte er bereits 2005 ein entsprechendes Rechtsgutachten für das Demjanjuk-Verfahren verfasst, liest man denn auch bei Lemkes Kommentierung zu § 5 Nr. 13 StGB:
"Für die Verfolgung von Straftaten ausländischer Amtsträger während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ergibt sich aus der Notwendigkeit, ggf. gemäß § 2 Abs. 3 milderes Recht anzuwenden, das Problem, ob die Frage nach dem Handeln als Amtsträger unterschiedlich beurteilt wird, so dass die Verfolgbarkeit des Täters davon abhängen kann, ob er ein echtes oder unechtes Amtsdelikt begangen hat. Das zeitgenössische Schrifttum hat, soweit es sich damit befasst hat[...], die Frage im Sinne einer restriktiven Auslegung des § 4 Abs. 3 Nr. 1 der Geltungsbereichsverordnung behandelt. Diese Auffassung erscheint nach heutiger Sicht vertretbar. Die echten und unechten Amtsdelikte hatten die Aufgabe, den Bereich von Taten abzudecken, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität des Amtes in besonderer Weise gefährden konnten. Dieser ratio legis entsprach eine gegenüber dem heutigen Rechtszustand wesentlich größere Anzahl echter und unechter Amtsdelikte. Die im Verhältnis zur derzeitigen Rechtslage demnach ungleich erweiterte Möglichkeit, speziell als Amtsträger straffällig zu werden, konnte insbes. im Zusammenhang mit Auslandstaten von Ausländern Veranlassung bieten, insoweit restriktiv zu wirken und den Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts auf die Amtsdelikte im eigentlichen Sinne zu beschränken. Diese Gedanken sind jedoch auf den geltenden Rechtszustand nicht mehr übertragbar."[86]
Dem ist in der Sache nichts hinzuzufügen. Es sollte allerdings betont werden, dass ein heutiger Eingriff in diese zeitgenössisch-restriktive Lesart des § 4 Abs. 3 Nr. 1 RStGB in der Form einer "bloßen" Uminterpretation des damaligen Rechts an dieser Stelle rückwirkungsdogmatisch nicht unheikel wäre; das gilt umso mehr, je weniger die Tatzeitrechtswirklichkeit wie hier unrechtsstaatlich durchformt war und je mehr sie einer Expansion (reichs‑)deutschen Strafrecht entgegenwirkte.
Schlagendes Argument gegen eine Qualifikation des Angeklagten als Amtsträger nach dem RStGB dürfte jedoch sein, dass historisch (!) eine Vielzahl anderer – jeweils natürlich entsprechender tatrichterlicher Feststellungen bedürfender – Anknüpfungspunkte für die Geltungsbegründung reichsdeutschen Strafrechts in Frage kommen. Diese Anknüpfungspunkte sind allesamt der damaligen, mit dem heutigen Recht kaum abbildbaren Kriegswirklichkeit geschuldet, auf die das reichsdeutsche Strafrecht wie folgt reagierte:
Nach § 158 MStGB in Verbindung mit § 1 Kriegssonderstrafrechtsverordnung v. 17. August 1939[87] erstreckte sich das gemeine reichsdeutsche Strafrecht auf Auslandstaten von sich in Kriegsgefangenschaft befindlichen Ausländern. Insofern bedarf es der tatrichterlichen Feststellung, ob die ursprünglich begründete Kriegsgefangenschaft des Angeklagten durch seine Rekrutierung als "fremdvölkische Wachmannschaft" endgültig beendigt, deren Vollzug nur ausgesetzt oder gar nie beendigt, da nur in eine Art des "offeneren Vollzugs" überführt wurde. Nach der einschlägigen zeitgenössischen Kommentarliteratur tritt die Beendigung der Kriegsgefangenschaft (nur) mit "Tod, Freilassung, Heimschaffung und gelungene[r]Flucht" ein,[88] so dass die Frage dahingehend zu präzisieren ist, ob der Angeklagte freigelassen oder ob die Kriegsgefangenschaft in anderem Gewande fortgesetzt wurde. Dafür gilt es zu klären, ob nach dem objektiven Geschehensverlauf und den subjektiven Intentionen der damaligen Machthaber das besondere Gewaltverhältnis[89] der Kriegsgefangenschaft beendet werden sollte.
Gegen eine Fortführung der Kriegsgefangenschaft im sachgegenständlichen Verfahren kann allemal nicht ins Felde geführt werden, dass sich die in den Vernichtungslagern tätigen "fremdvölkischen Wachmannschaften" in gewissen Grenzen frei bewegen durften und sie für ihre Tätigkeiten im Zusammenhang mit den staatlich angeordneten Vernichtungspolitiken entsoldet wurden. Denn nach Art. 5 IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges v. 1907 durften Kriegsgefangene sehr wohl an Orten mit "der Verpflichtung[untergebracht werden], sich nicht über eine bestimmte Grenze hinaus zu entfernen.[90] Und Art. 6 Abs. 1 und 2 des Abkommens lauten:
"Der Staat ist befugt, die Kriegsgefangenen mit Ausnahme der Offiziere nach ihrem Dienstgrad und nach ihren Fähigkeiten als Arbeiter zu verwenden. Diese Arbeiten dürfen nicht übermäßig sein und in keiner Beziehung zu den Kriegsunternehmungen stehen. Den Kriegsgefangenen kann gestattet werden, Arbeiten für öffentliche Verwaltungen oder für Privatpersonen oder für ihre eigene Rechnung auszuführen.
Arbeiten für den Staat werden nach den Sätzen bezahlt, die für Militärpersonen des eigenen Heeres bei Ausführung der gleichen Arbeiten gelten, oder, falls solche Sätze nicht bestehen, nach einem Satze, wie er den geleisteten Arbeiten entspricht."[91]
Der Nachweis, dass die rassisch motivierte NS-Vernichtungspolitik, insbesondere der Genozid der europäischen Juden, eine staatlich angeordnete Politik war, die im grausamsten Sinne des Wortes "verwaltet" wurde und noch dazu in keiner Beziehung zu den Kriegsunternehmungen im Sinne der Haager Landkriegsordnung stand,[92] mag bei zeitgenössisch-völkerrechtskonformer Auslegung des Tatzeitrechts zwar – im Sinne des damaligen Rechtszustands – nicht die Amtsträgereigenschaft des Angeklagten, wohl aber dessen fortwährenden Status als Kriegsgefangener begründen.
Sollte der Angeklagte hingegen aus diesem besonderen Gewaltverhältnis freigelassen und als Mitglied "fremdvölkischer Wachmannschaften" in die Kommandoketten der Wehrmacht (genauer: des Heeres)[93] (zu SS und Waffen-SS s. sogleich unter cc) eingebunden worden sein, er also im untechnischen (!) Sinne (wehrmachts‑)soldatisch gehandelt haben, ergibt sich die Anwendung deutschen Strafrechts aus folgenden Vorschriften:
Nach § 18 Abs. 4 Wehrgesetz[94] war Ausländern unter besonderen Voraussetzungen der Eintritt in die Wehrmacht gestattet, und nach § 3 MStGB waren sämtliche strafbare Handlungen der Wehrmachtsangehörigen, die – wie hier – keine militärischen Verbrechen oder Vergehen sind, nach den allgemeinen Strafgesetzen zu beurteilen.
Wenn der Angeklagte jedoch nicht, was bei kursorischer Einschätzung der rassisch-diskriminierenden Kriegswirklichkeit näher liegt, den vollen Status eines Wehrmachtsangehörigen erworben haben, er jedoch ein Dienst- oder Vertragsverhältnis mit der Wehrmacht eingegangen sein sollte, so folgt die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts mittelbar aus § 155 MStGB. Nach dieser Vorschrift sind "alle Personen, die sich in irgendeinem Dienst- oder Vertragsverhältnis bei der Wehrmacht befinden oder sonst sich bei ihr aufhalten oder ihr folgen, den Strafvorschriften dieses Gesetzes, insbesondere den Kriegsgesetzen unterworfen, soweit die Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile [...]es[...]bestimmen." Eine entsprechende Bestimmung erging durch den Erlass des Oberbefehlshabers des Heeres v. 12. März 1940 (HGBl. C, S. 117).[95] Die nach § 155 MStGB für das Gefolge lediglich angeordnete Geltung des Militärstrafrechts wurde durch § 1 Kriegssonderstrafrechtsverordnung[96] auf das gemeine reichsdeutsche Strafrecht erstreckt.[97] "Nicht gehört[e]zum Gefolge, wer neben der Wehrmacht zur Erfüllung andersartiger Hoheitsaufgaben bestellt ist, wie z.B. Amtsträger der Partei, Reichsbahnbeamte, Beamte des Zollgrenzschutzes usw."[98]
Eine Einbindung des Angeklagten in die – kaum voneinander zu trennenden – Kommandostrukturen von SS, Waffen-SS oder Polizei führte ebenfalls zu einer Anwendbarkeit deutschen Strafrechts, und zwar auf der Grundlage der "Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz" v. 17. Oktober 1939 (SS- und PolGVO).[99]
Der sachliche Anwendungsbereich der SS- und PolGVO umfasste – im relevanten Tatzeitraum – gemäß §§ 2 Abs. 1,[100] 3 Abs. 1 SS- und PolGVO das gesamte deutsche Reichsstrafrecht.[101] Die ursprünglich noch enthaltene
räumliche Anwendungsbegrenzung auf Gebiete des besonderen, d.h. des Kriegs-Einsatzes wurde mit Erlass des Reichsführers-SS v. 9. April 1940 beseitigt. Sämtliche der SS- und PolGVO in persönlicher Hinsicht unterworfene Personen unterlagen mithin "wegen aller von ihnen begangenen Straftaten, und zwar unabhängig davon, ob die Straftat im In- oder Ausland begangen"[102] wurde, der Geltung reichsdeutschen Strafrechts.
Wie Vieregge nach Durchsicht der entsprechenden Bundesarchive zu Tage fördert, kam es im Verlauf des Zweiten Weltkrieges zu einer ständigen Ausdehnung des persönlichen Geltungsbereichs der SS- und PolGVO,[103] die nicht nur auf SS und Waffen-SS, sondern ihrem Namen entsprechend auch auf Mitglieder (im weitesten Sinne) der Sicherheits- und der Ordnungspolizei Anwendung fand. Für das sachgegenständliche Verfahren wird insofern relevant, dass bereits 1941 alle in "den Reihen der SS kämpfenden[d.h. wohl der Waffen-SS zugehörigen]Ausländer der Gerichtsbarkeit von SS und Polizei unterstellt" wurden.[104] Auch das Gefolge der SS wurde entsprechend § 155 MStGB der SS- und PolGVO unterworfen.[105] Schließlich waren auch die Angehörigen der polnischen und ukrainischen Polizei im Generalgouvernement dem persönlichen Geltungsbereich der SS- und PolGVO unterworfen.[106]
Erst im Lichte dessen erschließt sich die ganze Trageweite der Anklageschrift, wo sinngemäß nachzulesen ist, dass der Angeklagte sich für die Dauer des Krieges verpflichtete, in den Wachmannschaften des SS- und Polizeiführers des Distrikts Lublin Dienst zu tun und er sich insoweit der SS- und Polizeigerichtsbarkeit unterwarf, die – worauf er zwischenzeitlich hingewiesen wurde – bei allen Vergehen und Verbrechen zuständig sei.
Die vorstehenden Erwägungen ergeben zusammengefasst ein engmaschiges strafanwendungsrechtliches Netz, aus dem sich – um im Bild zu bleiben – die in Sobibór tätigen Mitglieder "fremdvölkischer Wachmannschaften" kaum entwinden konnten. Folglich führen die unterschiedlichsten faktischen Tatbeschreibungen zur Anwendbarkeit reichsdeutschen Strafrechts: Sei es, dass die Wachmannschaften weiterhin in – ggf. privilegierter – Kriegsgefangenschaft gehalten wurden; sei es, dass sie sich in die Kommandoketten der Wehrmacht, der SS, der Waffen-SS oder auch der Polizei im Generalgouvernement einfanden; oder sei es schließlich, dass sie vollwertige Mitglieder dieser Organisationen oder ihnen nur als Gefolge dienstvertraglich verbunden waren.
Ließe sich demnach der exakte Status des Angeklagten als mögliches Mitglied solcher "fremdvölkischer Wachmannschaften" am Ende der Beweisaufnahme nicht mit letzter Sicherheit feststellen, so muss es dem LG München II gestattet sein, eine strafanwendungsrechtliche Wahlfeststellung [107] vorzunehmen.
Dazu gilt es erstens – quasi als Vorbemerkung – zu bedenken, dass sich eine exakte strafwendungsrechtliche Qualifizierung schon deshalb verbieten mag, weil sie bereits nach zeitgenössischem Recht nicht möglich war; eine Wahlfeststellung könnte demnach die historische Wahrheit zum Ausdruck bringen, dass das Dritte Reich binnenstrukturell in die verschiedensten, sich mitunter in ihren Kompetenzen eifersüchtig beobachtenden Organisationen fragmentierte. Das macht es heute unmöglich, bestimmten Personen und bestimmten Handlungen einen eindeutigen und jeweils als Alternative begriffenen amtlichen, soldatischen, militärischen etc. Status zuzuweisen.
Dogmatisch sollte zum Zweiten eine strafanwendungsrechtliche Wahlfeststellung allemal dann erlaubt werden, wenn und weil nach Überzeugung des Tatgerichts jede der in Frage kommenden tatsächlichen Konstellationen unter Ausschluss jeder weiteren Möglichkeit zur Anwendbarkeit des RStGB führte.[108] Da jede Eröffnung des Geltungsbereichs des deutschen Strafrechts in materieller – wohlgemerkt nicht in prozessualer – Hinsicht gleichsteht, weil jeweils ein Bewertungsanspruch deutschen Strafrechts zum Ausdruck gebracht wird, kann in der bekannten obergerichtlichen Terminologie auch die rechtsethische und psychologische Vergleichbarkeit der verschiedenen strafanwendungsrechtlichen Anknüpfungspunkte nicht substantiell in Zweifel gezogen werden.[109] Auch die von Teilen des Schrifttums zusätzlich erhobene Forderung, die (echte) Wahlfeststellung setze ein Identität des Unrechtskerns voraus,[110] muss in Übertragung auf das Strafanwendungsrecht hier als erfüllt angesehen werden. Denn die oben beschriebenen strafwendungsrechtlichen Alternativen lassen sich samt und sonders, wie es abschließend im Folgenden darzulegen gilt, auf die gleichen strafanwendungsrechtlichen Prinzipien – nämlich auf ein expansives Verständnis des aktiven Personalitätsprinzips und des Realprinzips – zurück-
führen; in der Folge besteht zwischen den in Frage kommenden strafanwendungsrechtlichen Alternativen eine Identität im Anknüpfungskern.
Die damit vorzunehmende Rückführung der NS-Strafanwendungsgesetze auf allgemeine strafanwendungsrechtliche Prinzipien wird auch deshalb erforderlich, um Zweifel an der rechtsstaatlichen Berücksichtigungsfähigkeit dieser Gesetze zu zerstreuen. Die besagten Zweifel nähren sich dabei nicht nur an der unleugbaren, völkerrechtlich immer kritisch zu bewertenden Expansion strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte, sondern überdies und noch vielmehr an den menschenrechtlich untragbaren Motiven für eine Einführung einer eigenen SS- und Polizei-Gerichtsbarkeit. Denn die Errichtung dieses Justizzweiges war, wie das Schrifttum herausgearbeitet hat, zumindest auch von dem Bestreben getragen, "fortan eine weitere Zuständigkeit der Wehrmachtsgerichte für die Bestrafung solcher Gr[äue]ltaten, wie sie von den SS- und Polizeieinheiten an der polnischen Zivilbevölkerung begangen w[u]rden, auszuschließen."[111] Blendet man diese Motive, wie dies rechtsstaatlich und menschenrechtlich geboten ist, aus, so wirkt eine Rückführung auf die folgenden anerkannten strafanwendungsrechtlichen Prinzipien für das zeitgenössische Strafanwendungsrecht geltungserhaltend:
Zu nennen ist insofern erstens das Real- oder Staatsschutzprinzip. Dieses gestattet als Unterfall des Schutzprinzips die Erstreckung der nationalen Strafgewalt auf Auslandstaten von Ausländern, wenn diese inländische Rechtsgüter verletzen oder gefährden. "Dem liegt die zutreffende Überlegung zugrunde, dass es keinem Staat verwehrt sein kann, Angriffen auf seine politische oder militärische Integrität tatenlos zuzusehen [...]."[112] Welche anderen staatlichen Belange über diese Integritätsinteressen hinaus die Ausdehnung der nationalen Strafgewalt rechtfertigen, ist freilich wenig geklärt.[113]
Soweit die zeitgenössischen Strafanwendungsgesetze verhindern wollten, dass es durch Straftaten – mit den markigen Worten der zeitgenössischen Kommentatoren – zu einer "Störung der Zucht und Ordnung" kommt und dadurch "Gefahren für Land und Bevölkerung entstehen"[114], spricht daraus ein durch das Realprinzip anerkanntes politisches Integritätsinteresse. Gleiches gilt für den zeitgenössischen Hinweis, dass in Kriegszeiten der Herrschaftsbereich des deutschen Strafrechts "aus Gründen der Ordnung und Sicherheit der Wehrmacht"[115] oder anderer staatlicher Organisationen (wie der SS oder Waffen-SS) auf die Mitglieder dieser Organisationen samt des jeweiligen Gefolges auszudehnen war. In bewusster – jedoch rechtsstaatlich motivierter – Durchbrechung der damaligen Rechtswirklichkeit lässt sich die Erstreckung der deutschen Strafgewalt auch dadurch erklären, dass durch Straftaten, die aus Institutionen der militärischen oder politischen Herrschaftsgewalt begangen werden, das internationale Ansehen des Staates geschmälert wird; darauf muss der Staat reagieren dürfen, indem er aus seinen Reihen begangene Straftaten im eigenen Namen strafrechtlich sanktioniert, um internationalem Ansehensverlust proaktiv zu begegnen. In diesem Sinne lag es im – objektivierten – Interesse des Dritten Reiches, dass die in seinen Reihen tätigen – in weitesten Sinne – Soldaten, Militärs und Verwaltungsaufgaben übernehmenden Personen im Ausland die Normen des deutschen Strafrechts beachten.
Zweitens kommt auch dem aktiven Personalitätsprinzip geltungserhaltende Bedeutung zu. Danach rechtfertigt eine besondere personale Bindung zwischen einem Staat und einer Person deren Unterwerfung unter das staatliche – auf diese Person fürderhin auch im Ausland geltende – Strafrecht. Herkömmliches Beispiel ist die aus der staatlichen Personalhoheit abgeleitete Kompetenz des Staates, eigene Staatsangehörige nach Maßgabe des eigenen Strafrechts zu verfolgen. Darauf beschränkt sich das aktive Personalitätsprinzip freilich nicht, und es kann auch bei anderen spezifischen Nähebeziehungen zwischen Staat und Rechtsunterworfenem auf den Plan gerufen werden.[116] Kraft des besonderen Gewaltverhältnisses, dem Kriegsgefangene unterworfen waren, wie auch kraft des mehr oder weniger freiwilligen Eintritts in militärische und politische Organisationen des NS-Regimes, der hier die Anwendbarkeit reichsdeutschen Strafrechts begründen könnte, finden sich demnach im sachgegenständlichen Verfahren entsprechende, vom aktiven Personalitätsprinzip geforderte personale Bindungen.[117]
Bei der gemäß § 2 Abs. 3 StGB notwendig werdenden Prüfung der intertemporalen Anwendbarkeit deutschen Strafrechts (auch) nach dem Recht der Aburteilung, muss eine Begründung der bundesdeutschen Strafgewalt via der in Frage kommenden und soeben ausgeführten zeitgenössischen Anknüpfungspunkte (Kriegsgefangenschaft; Mitglied von Wehrmacht, SS, Waffen-SS oder Polizei; Gefolge dieser Organisationen) zwingend scheitern:
Erstens kennt das bundesdeutsche Strafrecht keine entsprechende Regelungen für Kriegsgefangene (§ 158 RGStB). Hinsichtlich des "Gefolges" (§ 155 RStGB) ist zweitens zunächst zu bemerken, dass allein durch (dienst‑)vertragliche Verbindungen zur Bundeswehr die für sie tätigen Ausländer nicht zu Soldaten im wehrrechtlichen Sinne werden, so dass für sie auch nicht das deutsche Strafrecht zur Anwendung kommt (§§ 1, 1a WStG).[118] Ein funktionelles Äquivalent für die Erfassung von "Nicht-Soldaten" hält zwar § 1 Abs. 4 WStG parat, wonach wegen "Anstiftung und Beihilfe zu militärischen Straftaten[...] nach diesem Gesetz auch strafbar[ist], wer nicht Soldat ist"; allerdings handelt es sich bei militärischen Straftaten nur um die im WStG speziell geregelten und nicht um die hier angeklagten gemeinen Vergehen und Verbrechen (§ 2 Nr. 1 WStG). Schließlich können drittens Ausländer zwar bei der Bundeswehr als Soldaten tätig werden (§ 37 Abs. 2 WStG: nur mit Ausnahmegenehmigung des Bundesministeriums der Verteidigung); allerdings scheint es mehr als fraglich, ob der historische Status des Angeklagten als "Trawniki" in heutiges Recht dergestalt transponiert werden darf, dass man ihn als Bundeswehrsoldaten führen kann. An dieser Stelle tun sich die Grenzen einer sinngemäßen Umstellung der historischen Regelungseffekte (Mitglied oder Gefolge der Wehrmacht und mehr noch der SS und der Waffen-SS) und ihrer Gleichsetzung mit heutigen Rechtsinstituten auf.
Entscheidend gegen die Anwendbarkeit des WStG – und vermittels dessen die Anwendbarkeit des StGB – spricht jedoch viertens dessen Historie: Das WStG folgte nämlich dem MStGB nicht unmittelbar nach. Das MStGB wurde durch das Kontrollratsgesetz Nr. 34 mit Wirkung v. 20. August 1946 ebenso aufgehoben wie die Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz v. 17. August 1938;[119] das WStG trat erst elf Jahre später am 1. Mai 1957 im Zuge der "Wiederbewaffnung" der Bundesrepublik Deutschland in Kraft.[120] In Ermangelung einer stehenden Truppe in den Anfangsjahren der Bundesrepublik wurde zudem durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz v. 4. August 1953[121] § 4 Abs. 3 Nr. 1 StGB in der Fassung der bis dato weiterhin gültigen GeltungsbereichsVO v. 6. Mai 1940 dahingehend geändert, dass Bezugnahmen auf Straftaten, die ein Täter als deutscher Soldat begangen hat, gestrichen und damit vom Anwendungsbereich des deutschen Strafrechts ausgenommen wurden.[122]
Solche zwischengesetzlichen Lagen, die weder zur Tatzeit galten und auch bei der Entscheidung nicht mehr gelten, stellen nach dem BGH[123] ein milderes, hier also letztlich ein wehrrechtlich-entkriminalisierendes Gesetz im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB dar. Der zwischenzeitliche Verzicht auf einen Bewertungsanspruch über vormals erfasste militärisch-soldatische Taten, die – unterstellt und hypothetisch – nunmehr auch wieder dem Wehrstrafrecht unterfallen, lassen demnach die bundesdeutsche Strafgewalt unter militär- oder wehrstrafrechtlichen Gesichtspunkten endgültig entfallen. Selbst wenn man das – entgegen der historischen Tragweite der Wiederbewaffnungsdebatte – als "Panne der Gesetzgebung" auffassen wollte,[124] ändert dies nichts daran, dass die zwischenzeitliche Nichtgeltung eines Wehrstrafrechts eine zu berücksichtigende lex mitior darstellt.
Die Abschaffung des NS-Militärstrafrechts sowie der gesetzlichen Regelungswerke der – vom Nürnberger Tribunal zur kriminellen Organisation erklärten – SS[125] samt ihrer Sondergerichtsbarkeit stellt auch im strafanwendungsrechtlichen Sinne ein einschneidendes Ereignis dar. Dieses allein rechtfertigt es, die "bellizistischen" Zustände der überkommenen Rechtslage unter neuen und eigenen Vorzeichen zu bewerten, d.h. nachzufragen, ob der bundesrepublikanische Gesetzgeber eine vergangene Straftat als fortwirkende Gemeinschaftsgüterwidrigkeit oder aber als unrechtsneutrale Handlung bewerten wollte.
Eine entsprechende Entkriminalisierung wird man, wie oben dargestellt (s. oben II.1.d), nur annehmen dürfen, wenn sich die Anwendbarkeit deutschen Nachkriegsstrafrechts unter keinem strafanwendungsrechtlichen Gesichtspunkt ergibt. An einer Fortwirkung der Gemeinschaftsgüterwidrigkeit ist jedoch beim reinen Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte nicht zu zweifeln; um letzte rückwirkungsrechtliche Bedenken auszu-
räumen, gilt eine solche Fortwirkung zumindest dann, wenn eine Kontinuität im Anknüpfungstypus sichergestellt ist.
Bei der Prüfung der fortwährenden Anwendbarkeit geltenden Rechts kommt demnach die historische Rechtswirklichkeit nicht zum Tragen. Im Gegenteil, um dem Angeklagten größtmöglichen Schutz vor missbräuchlicher staatlicher Strafverfolgung zu gewähren,[126] ist an dieser Stelle des Prüfungsaufbaus – nachdem die historische Rechtswirklichkeit zuvor en detail behandelt wurde – allein und ausschließlich das geltende Recht anzuwenden und nach Maßgabe des aktuellen rechtsstaatlichen Methodenkanons (samt seiner verfassungsrechtlichen Wortlautbindung für strafbarkeitskonstitutive Merkmale) auszulegen; eine Berücksichtigung historischer Rechts-"Rückstände" würde gerade der Maxime des § 2 Abs. 3 StGB zuwiderlaufen, dass die Strafverfolgung einer vergangenen Straftat nur im Falle eines aktuellen Bewertungsanspruchs deutschen Strafrechts als aktuell-gerechtfertigter Eingriff in die Handlungsfreiheit des Betroffenen anzusehen ist.
Im Lichte dessen liegt hier – einmal mehr vorbehaltlich der korrespondierenden tatrichterlichen Feststellungen – eine Eröffnung der bundesdeutschen Strafgewalt nach § 5 Nr. 13 StGB[127] nahe. Um es nochmals klarzustellen: Das ist kein Widerspruch zu der oben (s. oben V.1.) gemachten Aussage, dass die historische Rechtswirklichkeit den Angeklagten weniger wegen seiner Amtsträger-, denn vielmehr wegen seiner – ggf. nur wahlfeststellend anzugebenden – "bellizistischen" Stellung dem Anwendungsbereich reichsdeutschen Strafrechts unterworfen hätte. Diese Feststellung ist etwas anderes als die nunmehr akut werdende aktuelle Bewertung der Tätigkeiten des Angeklagten, die nach heutigem Verständnis anders, nämlich als Taten gewertet werden könnten, die der Angeklagte als deutscher Amtsträger begangen hat. Eine solche Bewertung wahrte auch die Alternativität zwischen der Amtsträger- und der Soldatenstellung des Angeklagten, weil nach geltendem (!) Recht eine entsprechende Qualifizierung als Soldat strafanwendungsrechtlich nicht in Betracht kommt (s. oben V.2.a).
Für die Eröffnung der deutschen Strafgewalt gemäß § 5 Nr. 13 StGB ist demnach erforderlich, dass der Angeklagte als Amtsträger gehandelt hat. Die Amtsträgereigenschaft bemisst sich wiederum nach § 11 Abs. 1 Nr. 2 c) StGB:[128] Amtsträger ist, "wer nach deutschem Recht dazu bestellt ist, bei einer Behörde oder einer sonstigen Stelle oder in deren Auftrag Aufgaben der öffentlichen Verwaltung[...] vorzunehmen." In sinngemäßer Umstellung des historischen Sachverhaltes ist demnach zu fragen, ob eine staatlich angeordnete und rassisch motivierte Politik der Vernichtung von Mitbürgern und Ausländern nach heutiger Sicht der Dinge eine entsprechende Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben darstellt. Daran ist im Ergebnis, wie es nun kurz ausführen gilt, nicht zu zweifeln:
Zunächst dürfte kaum vertretbar sein, dass die in Sobibór vollstreckten Vernichtungspolitiken einen reinen Exzess der politischen, militärischen und administrativen Führung des deutschen Reiches darstellen; schon aufgrund der breiten Einbindung deutscher staatlicher Stellen wie der Reichsbahn verbietet es sich insbesondere, die "Aktion Reinhard" als quasi-privaten "Akt der Führergewalt" zu klassifizieren, die dem Staat nicht zurechenbar ist.
Allerdings bedarf es der Begründung, warum eine entsprechende Politik, die in jeder Hinsicht ultra vires der staatlichen Kompetenzen und der rechtsstaatlichen Bindungen an Art. 1, 20 GG ist, heute als öffentliche Aufgabe qualifiziert werden darf. Dies gilt umso mehr, als eine gängige obergerichtliche Definition wie folgt lautet: "Die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben umfasst jegliche Art von Aufgabenbewältigung, die ein Hoheitsträger zulässigerweise für sich in Anspruch nimmt, wobei die Grenze erst dort anzunehmen ist, wo der fraglichen Betätigung jegliche öffentliche Zielsetzung fehlt."[129] Eine normative Rückführung dieser Zulässigkeiten und öffentlichen Ziele auf die rechtsstaatliche und menschenrechtliche Werteordnung des Grundgesetzes würde mithin dem Vollzug unrechtsstaatlicher und menschenrechtwidriger Politiken ihre Qualität als öffentliche Aufgaben nehmen.
Eine solche dogmatische Verbriefung eines Palmström-Normativismus[130] (getreu dem Motto: es kann nicht sein, was nicht sein darf) wäre jedoch teleologisch sinnwidrig. Es würde ein strafrechtliches Einschreiten gegen solche Politiken erschweren und so die strafrechtlichen Rechtsschutzpositionen der Betroffenen schmälern. Eine normative Beschränkung auf "legitime" Aufgaben der öffentlichen Verwaltung würde somit dem – in der Begründung des E 1962 eigens herausgehobenen[131] – Interesse des
Staates zuwiderlaufen, internationalen Ansehensverlusten durch die strafrechtliche Verfolgung illegitimer Politiken entgegenzuwirken. Ebenso würde das "Interesse der einzelnen Staatsbürger an einem ordnungsgemäßen Funktionieren der staatlichen Verwaltung" in Abrede gestellt.[132]
In diesem Sinne sind unter den "Aufgaben der öffentlichen Verwaltung" all jene zu verstehen, "in denen sich die spezifische Machtstellung des Staates und die hieraus folgenden besonderen Einflussmöglichkeiten der mit der Wahrnehmung dieser Aufgaben betrauten Personen den einzelnen Bürgern gegenüber widerspiegeln."[133] Wie auch der Gesetzgeber – in der Begründung zu § 11 StGB – eindeutig festhält, geht es also u.a. um die "Wahrnehmung von Aufgaben der staatlichen Anordnungs- und Zwangsgewalt."[134] Hieraus spricht ein strikt funktionaler Zugang zum Begriff der öffentlichen Verwaltung und den damit verfolgten öffentlichen Zielen, die nicht normativ auf ihre Einhaltung der Werteordnung des Grundgesetzes zu überprüfen sind; die illegitime und verfassungswidrige Ausnutzung des staatlichen Gewaltmonopols und der Machtstellung staatlicher Hoheitsbefugnisse verpflichtet nachgerade die staatlichen Strafverfolgungsorgane dazu, gegen die entsprechenden Amtsträger vorzugehen. In sinngemäßer Umstellung der Vernichtungspolitiken des Dritten Reichs, würde ein Vollzug einer entsprechenden und in jedem Sinne völker-, rechtsstaats- und menschenrechtswidrigen Politik eine Verwaltung staatlich geplanter, geförderter und verwalteter Morde darstellen. Obwohl dann hier die juristische Begriffswelt an ihre Grenzen stößt, und die Wirklichkeit in jeder Hinsicht nur unzureichend abbilden kann,[135] stellte ein solcher Vollzug einer solchen Politik demnach eine (im perfidesten Sinne) Maßnahme der staatlichen Hoheitsgewaltsausübung und damit im wahrsten Sinne des Wortes: eine Art mörderische Verwaltung dar: Träger hoheitlicher Gewalt treffen Entscheidungen mit belastender Wirkung für den Bürger und setzen sie durch. Diese Qualifizierung ist auch insofern entscheidend, als die damit benannte Eingriffsverwaltung nach unbestrittener[136] Auffassung seit je her Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt bzw. die entsprechenden Tätigkeiten – in den Worten des Reichsgerichts zu § 359 StGB a.F. – Dienstverrichtungen darstellen, die "aus der Staatsgewalt abgeleitet sind und staatlichen Zwecken dienen."[137]
Ob der Angeklagte als Amtsträger gehandelt und Maßnahmen der Eingriffsverwaltung vollstreckt hat, ist einmal mehr der tatrichterlichen Beurteilung zu überlassen. Maßgeblich wird sein, ob und inwieweit er in die "Organisation und den Betrieb" des Vernichtungslagers Sobibór eingegliedert war.[138] Wie bereits vom RG anerkannt, ist es nicht erforderlich, dass er selbständige Entscheidungen zu treffen hatte; auch eine vorbereitende und unterstützende Tätigkeit genügt, außer die Diensthandlungen bestanden in rein mechanischen Hilfsdiensten bzw. wurden in ganz untergeordneter[139] Weise erfüllt.[140]
Schließlich ist noch erforderlich, dass der Angeklagte nicht nur gelegentlich seiner Amtsträgerstellung, sondern als Amtsträger handelte, d.h. sich in seinen Handlungen nicht nur ein privates Ausnutzen einer vorgefundenen staatlichen Machtposition widerspiegelt.
Nach herrschender Meinung[141] ist schließlich auch nicht erforderlich, dass es sich bei den als Amtsträger verwirklichten Straftaten um echte oder unechte Amtsdelikte handelt. Dem ist zuzustimmen. Rechtfertigt sich die Erstreckung der deutschen Strafgewalt auf Ausländer, die als deutsche Amtsträger handeln, u.a. daraus, dass deren amtlich bzw. staatlich veranlasstes Handeln einen Missbrauch der staatlichen Hoheitsgewalt darstellt, so kann und wird das staatliche Integritätsinteresse bei jedweder amtlichen Straftatbegehung angegriffen. Die Amts-Straftatbegehung eines Ausländers gefährdet demnach ein überformendes inländisches Rechtsgut, nämlich das staatliche Interesse am verfassungs- und völkerrechtskonformen Wirken seines Verwaltungsapparats; das begründet die Geltung deutschen Strafrechts für Auslandstaten von Ausländern nach § 5 Nr. 13 StGB, selbst wenn diese Taten sich unmittelbar gegen andere Individualrechtsgüter richten. Eines direkten Angriffs gegen gesonderte staatliche Interessen, wie der eigens in § 5 Nr. 1 StGB geregelte Hochverrat, bedarf es hingegen nicht (unbedingt), so dass eine Reduzierung auf echte oder unechte Amtsdelikte nicht mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift vereinbar ist. Wortlaut und Systematik des § 5 Nr. 13 StGB sprechen dieselbe Sprache, denn in Verbindung mit der amtlichen Überschrift lautet diese Vorschrift, dass "Taten, die ein Ausländer als Amtsträger begeht", "Auslandstaten gegen inländische Rechtsgüter" darstellen.
Wenn und soweit somit eine Qualifizierung der dem Angeklagten vorgeworfenen Taten als die eines Amtsträger vorzunehmen ist, beansprucht die Bundesrepublik Deutschland weiterhin Strafgewalt gemäß § 5 Nr. 13 StGB, so dass ein kontinuierliches, in die Nachkriegszeit fortwirkendes Überdauern der Gemeinschaftsgüterwidrigkeit dieser Taten zu bejahen ist.
Der damit im Vergleich zum Tatzeitrecht zu verzeichnende Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte rechtfertigt sich schließlich aus der Kontinuität im Anknüpfungstypus. Wie oben ausgeführt, war die historische Eröffnung der Anwendbarkeit des gemeinen RStGB strafanwendungsrechtlichen Vorschriften geschuldet, die ihrerseits auf das Real- sowie auf das passive Personalitätsprinzip zurückgeführt werden konnten (s. oben V.1.e). Die gleichen Prinzipien kommen bei der Begründung des § 5 Nr. 13 StGB zum Tragen, obwohl umstritten ist, ob nun allein das Real-[142] oder alternativ das passive Personalitätsprinzip[143] oder kumulativ beide Prinzipien zusammen[144] die Geltung deutschen Strafrechts für Taten, die ein Ausländer als deutscher Amtsträger verwirklicht hat, begründen sollen. Obwohl hier – teleologisch und systematisch bedingte – Sympathien für die erstgenannte Ansicht nicht zu verleugnen sind, bedeutet dieser typologische Gleichlauf der die Anwendbarkeit nach überkommenem und geltendem Strafwendungsrecht leitenden Prinzipien, dass die heutige Strafverfolgung für den Angeklagten weder überraschend kommt noch dass sie heute als Missbrauch der staatlichen Strafverfolgung gewertet werden kann. Vielmehr waren die nunmehr im Entscheidungszeitpunkt maßgeblichen strafbarkeitskonstitutiven Merkmale bereits zur Tatzeit in genereller Form benannt. Trotz der strafwendungsrechtlichen Änderungen und dem Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte bleibt also das Gesetz, aus dem bestraft wird, im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB identisch. Mit dem BGH kann also allemal von einer Kontinuität im Unrechtstyp zwischen der damaligen und der heutigen Rechtslage ausgegangen werden.
Mit dem Demjanjuk-Verfahren betritt die deutsche Strafrechtspflege in vielerlei Hinsicht juristisches Neuland.[145] Für die fundamentale Vorfrage nach dem Geltungsbereich deutschen Strafrechts bedarf es einer Theorie des intertemporalen Strafanwendungsrechts.
Dieser zufolge ist nach §§ 2 Abs. 1, Abs. 3 StGB sowohl die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts nach dem Recht des Tatzeitpunktes wie auch nach dem Recht des Aburteilungszeitpunktes zu prüfen. Für die Prüfung der Strafbarkeit nach der aktuellen Rechtslage ist eine sinngemäße Umstellung des Sachverhaltes vorzunehmen. Insofern ist von einer Anerkennung von außer- oder vorstraf(anwendungs)rechtlichen Regelungseffekten des überkommenen Rechts abzusehen und vielmehr der Sachverhalt auch diesbezüglich nach Maßgabe des aktuellen Rechtszustands zu bewerten. Nur so kann sichergestellt werden, dass ein ehedem strafbares Verhalten weiterhin eine fortwirkend-aktuelle Gemeinschaftsgüterwidrigkeit darstellt.
Ein Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte stellt allemal dann keine rückwirkende Anwendung geltenden Rechts zulasten des Angeklagten dar, wenn eine Kontinuität im Anknüpfungstypus gewahrt ist. Das ist der Fall, wenn sich die Anwendung deutschen Strafrechts jeweils, d.h. nach dem überkommenen und nach dem geänderten Gesetz, auf die gleichen strafrechtsanwendungsrechtlichen (Grund‑)Prinzipien stützt.
Im vorliegenden Fall bestehen strafanwendungs-, beteiligungs- und tatbestandsdogmatische Zweifel an der Begründung der deutschen Strafgewalt qua der Auslands-Beihilfe an einer Inlands-Haupttat (§§ 4 Abs. 1 RStGB, 9 Abs. 2, Abs. 1 StGB). Nach der für den Tatzeitpunkt das Reichsstrafrecht konkretisierenden Rechtsprechung des RG ist ein Inlandstatort der Auslands-Beihilfe nur gegeben, wenn sich letztere im Inland ausgewirkt hat. Normgenetisch und akzessorietätsdogmatisch kann diese For-
derung auch für § 9 StGB erhoben werden. Zudem ist – die dem RG überdies unbekannte – Figur des Täters hinter dem Täter, und damit die Begründung eines Inlandstatortes der Auslands-Beihilfe vermittels der mittelbaren Täterschaft der von deutschem Boden aus agierenden Organisatoren und Administratoren des Holocausts, strafanwendungsrechtlich nicht mit der Figur der Auslands-Beihilfe abgestimmt. Es erscheint somit fraglich, ob der Inlandstatort des Inlands-Haupttäters automatisch einen Inlandstatort der Auslands-Beihilfe begründet.
Soweit dem Angeklagten Beihilfe zur Ermordung "deutscher Juden" nachgewiesen kann, folgt die Anwendbarkeit reichsdeutschen Strafrechts aus § 4 Abs. 2 Nr. 2 RStGB und die Anwendbarkeit bundesdeutschen Strafrechts aus § 7 Abs. 1 StGB. Die rassisch motivierten NS-Zwangsausbürgerungen deutscher, insbesondere jüdischer Mitbürger ist nach der Radbruch’schen Formel und mit Billigung des BVerfG ungeschehen zu machen. Da diesen ermordeten Mitbürgern die Möglichkeit genommen wurde, einen nach Art. 116 Abs. 2 GG eigentlich notwendigen Antrag auf Wiedereinbürgerung zu stellen bzw. einen Wohnsitz in Deutschland zu nehmen, bleibt diese Verfassungsvorschrift bei der Bestimmung der Bundes-Deutschen-Eigenschaft der Tatopfer mit Billigung des BVerfG außer Betracht.
Bei der Begründung der deutschen Strafgewalt vermittels des (Amtsträger-, Soldaten- etc.) Status des Angeklagten, ist wie folgt zu differenzieren: Nach zum Tatzeitpunkt geltenden Recht scheidet eine Qualifikation seiner Taten als die eines Trägers eines deutschen staatlichen Amtes aus. Vielmehr folgt die Anwendbarkeit reichsdeutschen Strafrechts entweder aus seiner im Tatzeitraum fortwährenden Kriegsgefangenenschaft oder aber der unmittelbaren oder mittelbaren (als so genanntes Gefolge) Zugehörigkeit des Angeklagten zur Wehrmacht, zur SS, zur Waffen-SS oder zur Polizei im Generalgouvernement. Das Scheitern einer eindeutigen Status-Einordnung erlaubt eine strafanwendungsrechtliche Wahlfeststellung, wenn nach allen in Betracht kommenden Sachverhaltsmöglichkeiten die Anwendbarkeit reichsdeutschen Strafrechts außer Frage steht.
Die zum Tatzeitpunkt geltenden strafanwendungsrechtlichen Anknüpfungspunkte haben für das aktuelle Recht an Geltung verloren. Insbesondere verbietet sich eine wehrstrafrechtliche Eröffnung der deutschen Strafgewalt, weil in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland – mangels einer stehenden Truppe – kein entsprechendes Wehrstrafrecht galt. Diese strafanwendungsrechtliche Entkriminalisierung stellt ein für § 2 Abs. 3 StGB maßgebliches milderes Gesetz (so genanntes Zwischengesetz) dar. Allerdings ist es dem Tatgericht unbenommen, die Taten des Angeklagten nach heutiger (wohlgemerkt: nicht damaliger) Bewertung als die eines Amtsträgers zu bewerten (§ 5 Nr. 13 StGB). Aus Schutzgesichtspunkten müssen insofern selbst verfassungswidrige, gegen Art. 1, 20 GG verstoßende Politiken als "Aufgaben der öffentlichen Verwaltung" qualifiziert werden, wenn und sofern in diesen Politiken ein Missbrauch staatlicher Hoheitsgewalt liegt. Das ist für die Vernichtungspolitiken des Dritten Reichs unzweifelhaft zu bejahen.
Der Austausch strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkte (damals: Kriegsgefangenschaft; Mitglied von Wehrmacht, SS, Waffen-SS oder Polizei; Gefolge dieser Organisationen; heute: Amtsträger) verletzt weder § 2 Abs. 3 StGB noch das Rückwirkungsverbot, weil eine Kontinuität im Anknüpfungstypus sichergestellt ist. Die strafanwendungsrechtlichen Anknüpfungspunkte nach überkommenem und geltendem Recht rechtfertigen sich nämlich jeweils aus dem passiven Personalitäts- und dem Real- bzw. Staatsschutzprinzip.
Somit ist sowohl nach Tatzeit- wie auch nach Aburteilungsrecht eine Eröffnung der deutschen Strafgewalt möglich. Ob der faktische Nachweis der in Frage kommenden strafanwendungsrechtlichen Anknüpfungspunkte gelingt, ist natürlich der endgültigen tatrichterlichen Beweiswürdigung vorzubehalten.
§ 3 Abs. 1 RStGB in der Fassung der Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts v. 6. Mai 1940 (RGBl. I, S. 754)
Das deutsche Strafrecht gilt für die Tat eines deutschen Staatsangehörigen, einerlei ob er sie im Inland oder im Ausland begeht.
§ 4 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 1 RStGB
Das deutsche Strafrecht gilt auch für Taten, die ein Ausländer im Inland begeht.
Für eine von einem Ausländer im Ausland begangene Straftat gilt das deutsche Strafrecht, wenn sie durch das Recht des Tatorts mit Strafe bedroht oder der Tatort keiner Strafgewalt unterworfen ist und wenn[...]2. die Straftat gegen das deutsche Volk oder gegen einen deutschen Staatsangehörigen gerichtet ist[...].
Unabhängig vom Recht des Tatorts gilt das deutsche Strafrecht für folgende Straftaten, die ein Ausländer im Ausland begeht: 1. Straftaten, die er als Träger eines deutschen staatlichen Amts, als deutscher Soldat oder als Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes oder die er gegen des Träger eines deutschen staatlichen Amts des Staates oder der Partei, gegen einen deutschen Soldaten oder gegen einen Angehörigen des Reichsarbeitsdienstes während der Ausübung ihres Dienstes oder in Beziehung auf ihren Dienst begeht[...].
§ 3 Militärstrafgesetzbuch (MStGB) in der Fassung v. 10. Oktober 1940 (RGBl. I, S. 1347)
Strafbare Handlungen der Wehrmachtsangehörigen, die keine militärischen Verbrechen oder Vergehen sind, werden nach den allgemeinen Strafgesetzen beurteilt, soweit nicht dieses Gesetz anderes bestimmt.
§ 155 MStGB
Während eines gegen das Deutsche Reich ausgebrochenen Krieges sind alle Personen, die sich in irgendeinem
Dienst- oder Vertragsverhältnis bei der Wehrmacht befinden oder sonst sich bei ihr aufhalten oder ihr folgen, den Strafvorschriften dieses Gesetzes, insbesondere den Kriegsgesetzen unterworfen, soweit die Oberbefehlshaber der Wehrmachtteile oder der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht es für ihren Befehlsbereich bestimmen.
§ 158 MStGB
Auf strafbare Handlungen eines Kriegsgefangenen finden nach Maßgabe seines Militärranges die Vorschriften dieses Gesetzes entsprechende Anwendung. Militärische Ehrenstrafen dürfen nicht verhängt werden.
§ 1 Erste Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz v. 17. August 1938 (RGBl. I 1939, S. 1455).
Für alle Personen, die dem Militärstrafgesetzbuch unterworfen sind, gilt auch das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich.
Auf diese Personen ist das für sie geltende Strafrecht auch dann anzuwenden, wenn sie die Tat im Ausland begehen.
§§ 2 Abs. 1 S. 1, 3 Abs. 1 Verordnung über eine Sondergerichtsbarkeit in Strafsachen für Angehörige der SS und für die Angehörigen der Polizeiverbände bei besonderem Einsatz v. 17. Oktober 1939
Der Sondergerichtsbarkeit unterstehen die in § 1 Nr. 1 bis 5 bezeichneten Personen bei allen Straftaten, auf die sich die Wehrmachtsgerichtsbarkeit erstreckt.
Für die Sondergerichtsbarkeit finden die Vorschriften des Militärstrafgesetzbuchs und der Militärstrafgerichtsordnung sowie ihre Einführungsgesetze sinngemäße Anwendung, soweit nicht anderes bestimmt wird; im übrigen gelten bei nichtmilitärischen Straftaten die allgemeinen Strafgesetze, welche auf Wehrmachtsangehörige Anwendung finden.
[1] Diese Bezeichnung geht auf das SS-Ausbildungslager Trawniki zurück. Vgl. dazu bereits Rückerl (Hrsg.), NS-Vernichtungslager im Spiegel deutscher Strafprozesse (1977), S. 182.
[2] Vgl. §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 2 Nr. 1 RStGB (in der Fassung der "Verordnung über den Geltungsbereich des Strafrechts" v. 6. Mai 1940 – RGBl. I, S. 754; fürderhin wird auf diesen Stand des RStGB verwiesen; im Anhang finden sich die entsprechenden Normen des RStGB etc. im Wortlaut wiedergegeben) und § 7 Abs. 2 StGB. – Insoweit unterscheidet sich das Demjanjuk- vom Boere-Verfahren. Dem vor dem LG Aachen angeklagten Heinrich Boere werden ebenfalls Taten vorgeworfen, die im Zusammenhang mit der NS-Diktatur stehen (vgl. zum Sachverhalt Burchard/Brodowski, Art. 50 Charta der Grundrechte der Europäischen Union und das "europäische ne bis in idem" nach dem Vertrag von Lissabon, zur Veröffentlichung vorgesehen in StraFo 5/2010). Allerdings trat Boere wohl freiwillig der Waffen-SS bei, so dass nicht ausgeschlossen ist, dass er nach dem "Erlass des Führers über den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Einstellung in die deutsche Wehrmacht, die Waffen-SS, die deutsche Polizei oder die Organisation Todt vom 19.5.1943" (RGBl. I, S. 315) oder auf Grund dieses Erlasses die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat. Dieser Erlass gilt nach dem eindeutigen Wortlaut nur für "deutschstämmige Ausländer"; nach den entsprechenden Ausführungsverordnungen waren die Angehörigen des Wehrmachtsgefolges und die Hilfswilligen vom Erwerb der Staatsangehörigkeit ausgeschlossen, vgl. von Münch, Die deutsche Staatsangehörigkeit: Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft (2007), S. 75.
[3] So auch ausdrücklich Freisler/Grau/Krug/Rietzsch, Deutsches Strafrecht, Band 1, 1. Aufl. (1941), S. 472 (zu § 3 RStGB) und Grau/Krug/Rietzsch, Deutsches Strafrecht, Band 1, 2. Aufl. (1943), S. 259 f. A.A. Schönke, StGB, 2. Aufl. (1944), Vorbem § 3 Anm. III – Die Besetzung durch deutsche Truppen führte nicht zu einer automatischen Erstreckung des Inlandsbegriffs auf die okkupierten Gebiete. Vgl. dazu bereits Art. 42 ff. IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges v. 1907[so genannte Haager Landkriegsordnung], dessen Art. 43 ausdrücklich bestimmt, dass die Landesgesetze des besetzten Gebietes aufrechtzuerhalten sind, wenn dem kein zwingendes Hindernis entgegensteht. Die Haager Landkriegsordnung trat für das Deutsche Reich am 26. Januar 1910 in Kraft (RGBl. 1910, S. 107, 375). Das Internationale Militärtribunal von Nürnberg stellte in seinem Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher fest:
"The rules of land warfare expressed in the Convention undoubtedly represented an advance over existing international law at the time of their adoption. But the Convention expressly stated that it was an attempt ‚to revise the general laws and customs of war, ’ which it thus recognised to be then existing, but by 1939 these rules laid down in the Convention were recognised by all civilised nations, and were regarded as being declaratory of the laws and customs of war […]."
Trial of the Major War Criminals before the International Military Tribunal, Band 22, Blue Series (1948), S. 497. Online verfügbar unter: http://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/pdf/NT_Vol-XXII.pdf (Stand 30. März 2010). Die faktische Nichtbeachtung der Haager Landkriegsordnung, speziell bei Soldaten der Roten Armee, darf somit bei völkerrechtskonformer Auslegung der NS-Rechtswirklichkeit außer Acht bleiben, will man das damalige Unrecht nicht heute fortsetzen.
[4] Die Anführungszeichen verweisen hier und im Folgenden allein auf die Formulierung in der Anklageschrift.
[5] Wohl durch § 2 lit. a. der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz v. 25. November 1941 (RGBl. I, S. 722): "Ein Jude verliert die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn er beim Inkrafttreten dieser Verordnung seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland hat, mit Inkrafttreten der Verordnung." – Vgl. zur Berechnung der Opferzahlen auch noch in Fn. 145.
[6] Gemeint war hier das "Wehrgesetz", RGBl. I, S. 609.
[7] RGBl. I, S. 1161.
[8] Darin führte die Kammer aus:
"In den bereits in die Hauptverhandlung eingeführten Kopien der Listen der vom Lager Westerbork nach Sobib[ó]r transportierten Personen sind unter allen 15 verfahrensgegenständlichen Transporten 62 bis 311 (zusammen 1939) Personen aufgeführt, die in Deutschland geboren sind. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 14.02.1968 (2 BvR 557/62 – BVerfGE 23, 98 ff.) die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.2941 (RGBl. I S. 722) für nichtig erklärt hat. Danach sind alle Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft, die das Deutsche Reich nach dem 30.01.1933 zwangsweise verlassen haben, und die die deutsche Staatsangehörigkeit auch nicht auf Grund des Erwerbs einer anderen, namentlich der niederländischen Staatsangehörigkeit verloren haben, weiterhin deutsche Staatsangehörige geblieben. Wie viele dies waren, unterliegt tatrichterlicher Würdigung nach Abschluss der Beweisaufnahme. Das BVerfG hat hierzu ausgeführt, dass alleine die Tatsache der Emigration kein Indiz für die Absicht sein könne, die deutsche Staatsangehörigkeit aufzugeben."
[9] Der Beschluss führt zwar damit ein, bei den angeklagten Taten handele es sich um "eine Inlandstat, keine Auslandstat." In der Begründung wird jedoch deutlich, dass das Gericht als "Tatort der Beihilfe auch den Tatort der Haupttat" ansieht.
[10] Kopie beim Verf.
[11] Bericht des Bayerischen Rundfunks zur Zeugenvernehmung des vormals bei der Zentralstelle tätigen Richters Thomas Walter, http://www.br-online.de/aktuell/demjanjuk-kriegsverbrecher-prozess-ID1266915228496.xml (Stand 30. März 2010).
[12] Exzerpt aus dem Interview mit dem Verteidiger Demjanjuks, Rechtsanwalt Dr. Ulrich Busch. Online abrufbar unter http://www.welt.de/videos/politik/inland/article5393538/Demjanjuks-Verteidiger-spielt-auf-Zeit.html (Stand 30. März 2010).
[13] Dau, MK-StGB, 1. Auflage (2009), § 1 WStG Fn. 8.
[14] Dies gilt unabhängig von der rechtstheoretisch interessanten und umstritten Frage, ob § 2 Abs. 1 StGB eine Rechtsfortgeltung überkommenen Rechts anordnet oder nur der dessen beschränkten zeitlichen Geltungsbereich feststellt. – Die Rechtsfortgeltungsthese ist (wohl noch) herrschende Meinung, vgl. Schmitz, MK-StGB, 1. Aufl. (2003), § 2 R n. 5. In diesem Fall müsste konsequenterweise die Verletzung von Reichsnormen zur Anklage gebracht und verhandelt werden, weil diese (straf‑)begründend wirken. – Die Gegenansicht wird u.a. mit schlagenden Argumenten vertreten von Dannecker, LK-StGB, 12. Aufl. (2007), § 2 Rn. 16 f. m.w.N. In diesem Fall ergibt sich die Strafbarkeit aus geltendem Recht; das überkommene Recht hat dann lediglich eine (straf‑)limitierende Funktion.
[15] Dannecker, a.a.O. (Fn. 14), § 2 Rn. 24 m.w.N.
[16] S. dazu noch unten V.2.a) (zwischenzeitliche Nichtgeltung eines Wehrstrafrechts in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland).
[17] Aus völkerrechtlicher und rechtsvergleichender Sicht leise Kritik übend etwa Ambos, MK-StGB, 1. Aufl. (2003), Vor §§ 3‑7 Rn. 4 m.w.N.
[18] BGHSt 20, 22, 25 (s. dazu sogleich).
[19] Diese Aussage gilt zumindest für die hier interessierenden strafanwendungsrechtlichen Prinzipien, wie dem Real- bzw. Staatsschutzprinzip und dem passiven Personalitätsprinzip. Ausnahmen mögen angezeigt sein, wenn die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts aus dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (vgl. § 7 Abs. 2 Nr. StGB) oder dem – völkerrechtskonform in Stellung gebrachten – Weltrechtsprinzip (§§ 6 StGB, 1 VStGB) folgt.
[20] BGHSt 20, 22, 25 (Herf. des Verf.).
[21] Vgl. Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform (1977), S. 37 ff; vgl. ferner Schroeder GA 1968, 353 ff. m.w.N.
[22] Vgl. dazu grundsätzlich Jakobs, AT, 2. Aufl. (1993), 5. Abschnitt Rn. 11 ff.
[23] Böse, NK-StGB, 3. Aufl. (2010), Vor § 3 Rn. 51.
[24] Vgl. grundlegend Hart, The Concept of Law, 2. Aufl. (1994), S. 94.
[25] BGHSt 27, 30, 34: Die allgemeine Aussage, "[e]in Irrtum über die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts", erging dort freilich zu einer Eröffnung der deutschen Strafgerichtsbarkeit durch das Weltrechtsprinzip. Ob das auf andere strafanwendungsrechtliche Prinzipien übertragbar ist, scheint nicht unzweifelhaft. Kritisch deshalb zu Recht auch Jakobs, a.a.O. (Fn. 22), 5. Abschnitt Rn. 13.
[26] Werle/Jeßberger, LK-StGB, 12. Aufl. (2007), Vor § 3 Rn. 452; Ambos, a.a.O. (Fn. 17), Vor § 3 Rn. 3; jeweils m.w.N. – Dezidiert nun die Gegenauffassung vertretend Böse, a.a.O. (Fn. 23), Vor § 3 Rn. 51 ff. m.w.N.
[27] Vgl. die in Fn. 26 genannten Autoren. – Ob dieser Qualifizierung beizutreten ist, muss hier nicht entschieden werden. Dagegen spricht bei kursorischer Betrachtung, dass objektive Bedingungen der Strafbarkeit nach herrschender Auffassung unrechts- und schuld-indifferent sind (vgl. nur Lenckner/Eisele, Schönke-Schröder-StGB, 27. Aufl.[2005], Vor § 13 Rn. 124 ff.), das Strafwendungsrecht jedoch gerade unrechtskonstitutiv ist.
[28] Zu dieser verfassungsrechtlichen Gemeinschaftsgüterbindung des Strafrechts vgl. Vogel StV 1996, 110.
[29] Jakobs, a.a.O. (Fn. 22), 4. Abschnitt Rn. 73.
[30] BGHSt 26, 167, 172.
[31] Jakobs, a.a.O. (Fn. 22), 4. Abschnitt Rn. 75 m.w.N.
[32] Satzger, SSW-StGB, 1. Aufl. (2009), § 2 Rn. 21.
[33] Zu den terminologischen – nicht jedoch sachlichen – Parallelen zum Auslieferungsrecht und der bei der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit erforderlichen "sinngemäßen Umstellung des Sachverhaltes", vgl. Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl. (2009), § 3 IRG Rn. 33 ff.
[34] Dannecker, a.a.O. (Fn. 14), § 2 Rn. 106.
[35] Vgl. die so genannten Nürnberg-Klauseln – benannt nach der teilweise rückwirkenden Anwendung von Völkerstrafrecht im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess; vgl. dazu nur Burchard Journal of International Criminal Justice 5 (2006), 800, 806 – in Art. 7 Abs. 2 EMRK, 15 Abs. 2 IPbpR, 49 Abs. 2 GRCh. Letzterer lautet beispielhaft: "Dieser Artikel [scil. über die Geltung des Grundsatzes nulla poene sine lege]schließt nicht aus, dass eine Person wegen einer Handlung oder Unterlassung bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war."
[36] Kenntner NJW 1997, 2298. – Dass Deutschland seinen 1952 gegen Art. 7 Abs. 2 EMRK eingelegten Vorbehalt nunmehr zurückgenommen hat, ändert an diesem Sonderweg nichts. Die Zurücknahme des Vorbehaltes erfolgte nämlich mit der Begründung, dass es Deutschland weiterhin freistehe, keine rückwirkende Bestrafung echter völkerrechtlich anerkannter Straftaten vorzunehmen. Vgl. Mayer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. (2006), Art. 7 EMRK Rn. 13 m.w.N.
[37] Strafanwendungsrechtlich stünde demnach eine nachträgliche Einführung des Weltrechtsprinzips für NS-Straftaten nicht im Widerspruch zur entsprechenden völkerrechtlichen Verbürgung des Rückwirkungsverbotes.
[38] Vgl. zum Folgenden auch Werle NJW 2001, 3001 ff. m.w.N.
[39] BGHSt 39, 1 ff.; 168 ff.; 41, 101 ff. (jeweils zu DDR-Mauerschützen).
[40] Dannecker, a.a.O. (Fn. 14), § 1 Rn. 446.
[41] Zurückhaltung bei der rechtsstaatlichen und menschenrechtskonformen "Re-"Konstruktion von NS-Gesetzen ist auch im Lichte von BGHSt 41, 101, 110 geboten. Dort rechtfertigt der BGH sein entsprechendes Vorgehen zum DDR-Recht damit, dass der "Schutz der Menschenrechte[...]– anders als im nationalsozialistischen Regime – offizielle Programmatik des Staates" war, so dass er "nicht etwa ein Rechtssystem konstruier[e], das mit dem Recht der DDR schlechthin nichts zu tun habe."
[42] Vgl. nur BGHSt 41, 101, 110.
[43] Vgl. nur BVerfGE 20, 98.
[44] So treffend und in der gebotenen Kürze Werle NJW 2001, 3001, 3002 f. Die a.a.O. weiter geäußerte Kritik ist meines Erachtens rechtsprinzipiell schlagend, wird jedoch für die Entscheidung des LG München II kaum relevant werden:
"Durch ihre rechtsstaatsfreundliche Auslegung des positiven NS-Rechts und den ‚Naturrechtsvorbehalt’ hat die Rechtsprechung zu den NS-Verbrechen eine offene Auseinandersetzung mit dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot vermieden. Aber der Preis der Strafbarkeitsbegründungen war eine Umdeutung der rechtshistorischen Tatsachen, ja ein Leugnen der Essenz des nationalsozialistischen Rechtssystems. An die Stelle einer offen ausgewiesenen Entscheidung für die Bestrafung ‚legalen NS-Unrechts’ hat man eine verdeckte und offiziell verneinte Rückwirkung gesetzt. Was als zentraler Mangel bleibt, ist die Scheu und wohl auch der Unwille der damaligen Gerichte, klar auszusprechen, dass es sich beim Dritten Reich um einen Verbrecherstaat handelte, der auch seine innerstaatlichen Gesetze zur Begehung schwerster Verbrechen einsetzte. Ein offenes Bekenntnis des bundesdeutschen Gesetzgebers und der bundesdeutschen Justiz zum Völkerstrafrecht und die Anwendung völkerstrafrechtlicher Normen auf die nationalsozialistischen Gewalttaten wäre sicher die bessere Lösung gewesen."
[45] Herv. des Verf. – In der Sache wird damit RGSt 11, 20, 23 und RGSt 20, 169, 170 f. fortgesetzt, wo jeweils eine Auslandsbeihilfe zu einer Tat geleistet wurde, deren Erfolg im Inland eintrat.
[46] Vgl. auch Schönke, a.a.O. (Fn. 3), § 3 Anm. III 1 a): "Entsprechend ist die Beihilfe sowohl da begangen, wo die Handlung vorgenommen wurde, wie auch da, wo sie zur Wirksamkeit gelangte."
[47] Vgl. nur Eser, Schönke-Schröder-StGB, 27. Aufl. (2005), § 9 Rn. 6b m.w.N. Kritisch zur Reichweite der Transitdelikte Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. (2003), § 7 Rn. 45. – Unstreitig sollte ein Inlandstatort kraft des "Transits einer Straftat" durch deutsches Hoheitsgebiet nur dann gegeben sein, wenn der Transit an sich strafrechtlich erfasst ist.
[48] Insofern trägt die Nebenklage vor, es sei bereits mit der Abfahrt der Eisenbahntransporte zu der Ermordung der transportierten Menschen unmittelbar angesetzt worden.
[49] Vielmehr nimmt die Anklage einen statistischen Abschlag von den insgesamt transportierten Menschen vor, weil viele Menschen auf den Transporten gestorben sind. Vgl. zu der dann erforderlichen statistischen "Opfer-Wahlfeststellung" noch unten Fn. 145.
[50] Diese Koordinierung von Abs. 2 und Abs. 1 findet sich auch in der einschlägigen Kommentarliteratur wieder, etwa bei Satzger, a.a.O. (Fn. 32), § 9 Rn. 10; Fischer, StGB, 57. Aufl. (2010), § 9 Rn. 10. Vgl. auch Rotsch ZIS 2010, 168, 170.
[51] Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, 4. Band, Allgemeiner Teil, 38. bis 52. Sitzung, Bonn 1958, S. 18 (Herv. des Verf.) (vgl. auch S. 418).
[52] Gribbohm, LK-StGB, 11. Aufl. (2003), § 9 Rn. 26; Lemke, NK-StGB, 2. Aufl. (2005), § 9 Rn. 30.
[53] Ambos, a.a.O. (Fn. 17) § 9 Rndr. 36.
[54] Kreß GA 2006, 304, 305. Dort auch mit beachtenswerten (völker‑)kriminalpolitischen Einwänden gegen diese Lösung.
[55] Selbstverständlich würde für die Anstifter gem. § 9 Abs. 2 S. 1 StGB ein Inlandstatort begründet, nämlich kraft ihrer im Inland begangenen Bestimmungs-, d.h. Anstiftungshandlungen.
[56] BGH, Urt. v. 12. November 2009 – 4 StR 275/09 = HRRS 2010 Nr. 43.
[57] Insbesondere RGSt 57, 144, 145.
[58] Insbesondere BGHSt 39, 88, 89 ff.
[59] Solche Inlands-Vorbereitungshandlungen sollten sich – immer gesetzt den Fall, es ließe sich ein gemeinsamer Tatplan nachweisen – im sachgegenständlichen Verfahren zu Genüge aufzeigen lassen (z.B. der Transport der ermordeten Menschen durch das deutsche Reichsgebiet).
[60] BGHSt 39, 88, 89.
[61] Bei der historischen Prüfung der Anwendbarkeit reichsdeutschen Strafrechts ist zu beachten, dass die § 30 StGB äquivalente Vorschrift zur Verbrechensverabredung im angeklagten Zeitraum verschärft wurde, so dass eine immanente Prüfung intertemporalen Straf(anwendungs)recht erforderlich würde: Vgl. § 49a RStGB und dessen Änderung durch die Strafrechtsangleichungsverordnung v. 29. Mai 1943 (RGBl. I, S. 339; nach der "Schlussvorschrift" Inkraftgetreten am 15. Juni 1943).
[62] BGHSt 39, 88, 89.
[63] Ob diese Nachträglichkeit im sachgegenständlichen Verfahren zum Tragen kommt, muss abermals der tatrichtlichen Beurteilung überlassen werden.
[64] BGHSt 39, 88, 90. Damit wird RGSt 57, 144, 145 fortgesetzt.
[65] Küppers JR 292, 294.
[66] Vgl. Böse, a.a.O. (Fn. 23), § 9 Rn. 5 ("Allerdings können nur Tatbeiträge des im Inland handelnden Mittäters zugerechnet werden, die bereits eine Strafbarkeit wegen (versuchter) Mittäterschaft (oder nach Maßgabe des § 30) begründen, weil nur diese als tatbestandsmäßige Handlung angesehen werden können."); Miller/Rackow ZStW 117 (2005), 379, 408 ff.
[67] Grundlegend Roxin, Täterschaft und Teilnahme, 8. Aufl. (2006), S. 242 ff.
[68] Schönke, StGB, 1. Aufl. (1942), S. 122. – Schönke wurde hier zitiert, weil er als weitgehend "unbelasteter" Kommentator gelten darf. – Allerdings sei darauf hingewiesen, dass auch die bundesdeutsche Rechtsprechung in den 1960iger Jahren die NS-Führung als "Haupttäter" klassifizierte, ohne dazu eine elaborierte Lehre von der mittelbaren Täterschaft in organisatorischen Machtapparaten verwenden zu müssen. Vgl. zum "Auschwitz-Prozeß" etwa Werle/Wandres, Auschwitz vor Gericht. Online verfügbar unter: http://www.edjewnet.com/auschwitzvorgericht/ (Stand 30. März 2010).
[69] Vgl. nur die Darstellung bei Schünemann, LK-StGB, 12. Aufl. (2007), Rn. 126 ff.
[70] Vgl. BVerfGE 18, 224, 240. – Vgl. weiterführend Dannecker, a.a.O. (Fn. 14), § 1 Rn. 432 ff. mit umfassenden Nachweisen auch zu den kritischen Stimmen im Schrifttum.
[71] Dies dezidiert bejahend und sogar darauf beschränkend Hoyer, SK-StGB, Stand Juni 1997, § 9 Rn. 5.
[72] Vgl. nur Eser, a.a.O. (Fn. 47), § 22 Rn. 54 f. m.w.N.
[73] BGH und RG neigen insofern zu der Auffassung, dass ein Inlandstatort sowohl durch das Inlandshandeln des vom Ausland kontrollierten Tatmittlers wie auch durch die Inlandsherrschaft von mittelbaren Tätern über Auslands-Tatmittler begründet wird. Vgl. BGH wistra 1991, 135 ("Bedient sich der Täter zur Ausführung der Tat einer anderen Person als Werkzeug, so bestimmt auch deren Handeln des Tatort." Herv. des Verf.); RGSt 67, 130, 138 ("‚Begangen’ ist die strafbare Handlung nicht bloß in London, von wo aus die Firmeninhaber ihre Weisungen erteilt haben, sondern auch im Inlande, insbesondere in Berlin, dem Orte, an dem, der Weisung der Firmeninhaber gemäß, die Angeklagten und sonstigen Mittelspersonen tätig geworden sind." Herv. des Verf.).
[74] Insofern ist auch darauf hinzuweisen, dass die allgemeine Aussage des LG München II, es reiche für die Begründung eines Inlandstatortes aus, dass "einer der Haupttäter auch nur eine Vorbereitungshandlung im Inland begangen hat", in dieser Abstraktion nicht akkurat ist.
[75] Nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 RStGB gilt deutsches Strafrecht für "Straftaten", die sich gegen deutsche Staatsangehörigen richten; vergleichbar ordnet § 7 Abs. 1 StGB die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts für "Taten" an, die im Ausland gegen einen Deutschen begangen werden. Dieser (Straf‑)Tatbegriff ist hier im materiellrechtlichen und nicht im prozessualen Sinne zu verstehen. Selbst wenn folglich durch ein und denselben natürlichen Lebenssachverhalt gleichzeitig Rechtsgüter deutscher und ausländischer Staatsangehöriger geschädigt werden, umgreift die deutsche Strafgewalt nicht den Sachverhalt im Ganzen, sondern besteht nur selektiv für die Verletzung deutscher Rechtsgüter. – Vgl. demgegenüber zum prozessualen Tatbegriff bei § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB BGH NJW 1997, 334; diese Rechtsprechung ist auf § 7 Abs. 1 StGB nicht übertragbar. – Wie hier Böse, a.a.O. (Fn. 23), § 7 Rn. 10. Böse versteht diese Ansicht freilich nur als Mindermeinung; meines Erachtens kann bei den von Böse genannten Autoren der vermeintlichen Gegenauffassung jedoch nicht zweifelsfrei festgestellt werden, dass dort der für § 7 Abs. 2 StGB vertretene prozessuale Tatbegriff auch bei § 7 Abs. 1 fruchtbar gemacht werden soll; vgl. namentlich die von Böse genannten Ambos, a.a.O. (Fn. 17), § 7 Rn. 6 (mit Fn. 16, wo lediglich auf Rechtsprechung und Literatur zum Tatbegriff des § 7 Abs. 2 StGB verwiesen wird); Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), § 7 Rn. 29 (wo lediglich der Prüfung des Tatortrechts ein prozessualer Tatbegriff zugrunde gelegt wird).
[76] Auf die intrikaten Folgeprobleme für den Vorsatz- bzw. Schuldnachweis – nämlich wenn der Angeklagte nicht erkannte, nicht erkennen konnte oder nicht erkennen wollte, dass die ermordeten Personen weiterhin Reichsdeutsche waren – muss hier nicht eingegangen werden, da sie nicht die grundsätzliche Geltung des deutschen Strafrechts betreffen.
[77] Diese Vorschrift lautet: "Frühere deutsche Staatsangehörige, denen zwischen dem 30. Januar 1933 und dem 8. Mai 1945 die Staatsangehörigkeit aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen entzogen worden ist, und ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern. Sie gelten als nicht ausgebürgert, sofern sie nach dem 8. Mai 1945 ihren Wohnsitz in Deutschland genommen haben und nicht einen entgegen gesetzten Willen zum Ausdruck gebracht haben."
[78] Zwar spricht § 7 Abs. 1 StGB nur von Deutschen. Es ist jedoch allgemeine Meinung, dass damit auf den verfassungsrechtlichen Staatsangehörigkeitsbegriff nach Art. 116 GG Bezug genommen wird; vgl. statt aller Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), § 7 Rn. 55.
[79] In diesem Sinne, und noch deutlicher, auch BVerfGE 54, 53, 69, 71: "Die Staatsorgane der Bundesrepublik Deutschland können die Tatsachen nicht ungeschehen machen, die durch die Unrechtsmaßnahmen der Nationalsozialisten geschaffen worden sind. Die Ausbürgerung von Juden im Sinne der nationalsozialistischen Gesetzgebung bleibt ein historisches Geschehen, das als solches nicht nachträglich beseitigt werden kann. Art 116 Abs. 2 GG will das Unrecht, das den ausgebürgerten Verfolgten angetan worden ist, im Rahmen des Möglichen ausgleichen. Die Diskriminierung, die in der willkürlichen Ausbürgerung jüdischer Mitbürger lag, sollte indes nicht dadurch wiedergutgemacht werden, dass sich der deutsche Staat neuerlich über den Willen der Betroffenen hinwegsetzte, sondern allein dadurch, dass er ihren Willen nunmehr respektierte [...].Dass sich die durch Art 116 Abs. 2 GG getroffene Regelung zur Wiedergutmachung des durch nationalsozialistische Ausbürgerungen zugefügten Unrechts im Einzelfall für den Verfolgten nachteilig auswirken kann, ist nicht zu verkennen. Es ist die Folge der grundsätzlichen Entscheidung des Verfassungsgebers, die deutsche Staatsangehörigkeit nicht automatisch wiederaufleben zu lassen, dass dem Verfolgten die Last zufällt, sich entscheiden und seinen Willen bekunden zu müssen."
[80] So Ambos, a.a.O. (Fn. 17), § 7 Rn. 21. – Aufgrund der strafbarkeitskonstitutiven Bedeutung des Strafanwendungsrecht scheint eine solche Ausdehnung des Wortlauts zulasten potentieller Täter nicht unproblematisch.
[81] So Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), § 7 Rn. 60.
[82] BVerfGE 20, 98, 99, 111.
[83] Vgl. etwa Freisler/Grau/Krug/Rietzsch, a.a.O. (Fn. 3), S. 482 (zu § 4 Abs. 3 Nr. 1 RStGB); Schinnerer, LK-StGB, 6. Aufl. (1944), S. 126 (zu § 4 Abs. 3 Nr. 1 RStGB; dort sogar mit der Aussage: "Inwieweit ein Ausländer Träger eines deutschen staatlichen Amtes sein kann, wird durch den § 150 DBG vom 26.1.1937, RGBl. I 39, bestimmt"; § 150 DBG enthielt die Regelung des Wahlkonsuls); Schönke, a.a.O. (Fn. 3), § 4 Anm. IV.1.b).
[84] So § 150 DBG v. 26. Januar 1937 (RGBl. I, S. 65).
[85] So wörtlich Freisler/Grau/Krug/Rietzsch, a.a.O. (Fn. 3), S. 482. Ganz entsprechend Schinnerer, a.a.O. (Fn. 83), S. 126: "Unter die in diesem Abschnitt[scil. § 4 Abs. 3 RStGB]genannten Delikte fallen nicht nur die eigentlichen Amtsdelikte, sondern auch die, bei denen die Eigenschaft Träger des Amtes[...]zu sein, einen Strafschärfungsgrund bildet (uneigentliche Amtsdelikte)."
[86] Lemke, a.a.O. (Fn. 52), § 5 Rn. 28.
[87] RGBl. 1939 I, S. 1455.
[88] Schwinge, Militärstrafgesetzbuch einschließlich Kriegsstrafrecht, 5. Aufl. (1943), § 158 MStGB Anm. III.
[89] Diese mittlerweile überkommene Terminologie dürfte die historische Rechtswirklichkeit besser abbilden als das nunmehr für die Haft verwendete Konzept des "Sonderrechtsverhältnisses" zwischen Bürger und Staat. Vgl. auch Art. 4 Abs. 1 IV. Haager Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges v. 1907 (Fn.3): "Die Kriegsgefangenen unterstehen der Gewalt der feindlichen Regierung, aber nicht der Gewalt der Personen oder der Abteilungen, die sie gefangen genommen haben."
[90] Insofern sei noch auf § 159 Abs. 1 MStGB hingewiesen: "Ein Kriegsgefangner, der sein Ehrenwort, nicht zu entweichen, bricht, wird mit dem Tode bestraft."
[91] Herv. des Verf.
[92] Der Kriegsbegriff der Haager Landkriegsordnung ist völkerrechtskonform als klassischer "Krieg zwischen Staaten bzw. ihren regulären Streitkräften" zu verstehen und demnach nicht mit dem am 18. Februar 1943 ausgerufenen "totalen Krieg" des NS-Regimes zu verwechseln.
[93] Vgl. § 2 Wehrgesetz (Fn.6). – Eine Einbindung in die Kriegsmarine oder die Luftwaffe liegt eher fern.
[94] Vgl. Fn.6.
[95] Abgedruckt bei und übernommen von Schwinge, a.a.O. (Fn. 88), § 155 MStGB Anm. II.1.
[96] Vgl. Fn. 87.
[97] Vgl. Schwinge, a.a.O. (Fn. 88), § 1 Kriegsssonderstrafrechtsverordnung (S. 376).
[98] Schwinge, a.a.O. (Fn. 88), § 155 MStGB Anm. I.
[99] RGBl. I, S. 2107. – Vgl. dazu auch die Darstellung von Vieregge, Die Gerichtsbarkeit einer "Elite": Nationalsozialistische Rechtsprechung am Beispiel der SS- und Polizei-Gerichtsbarkeit (2002), S. 6 ff.
[100] In Verbindung mit § 2 Verordnung über das militärische Strafverfahren im Kriege und bei besonderem Einsatz; dort wurde die Wehrmachtsgerichtsbarkeit in sachlicher Hinsicht auf "alle[]Straftaten" ausgedehnt.
[101] Soweit Vieregge, a.a.O. (Fn. 99), S. 10 unter Verweis auf Bundesarchiv NSD 41/41 darauf hinweist, dass nach dem Leitfaden für die SS- und PolGVO bei der Anwendung gemeinen Strafrechts immer zu prüfen sei, ob diese Normen mit den besonderen Verhältnissen bei SS und Polizei vereinbar sind, kann diese historische Rechtswirklichkeit nicht gegen die Anwendbarkeit reichsdeutschen Strafrechts auf die angeklagten Taten sprechen. Selbst wenn damals – wie zu vermuten ist – deutsches Strafrecht mit Blick auf den Holocaust nicht für anwendbar erklärt worden wäre, ist solcherlei flagrant unrechtsstaatliches Denken heute nicht mehr berücksichtigungsfähig.
[102] Vieregge, a.a.O. (Fn. 99), S. 35.
[103] Vieregge, a.a.O. (Fn. 99), S. 20 ff.
[104] Vieregge, a.a.O. (Fn. 99), S. 24 unter Verweis auf Bundesarchiv NSD 41/41 und Aktenvermerk des SS-Obersturmbannführers Bender v. 4. März 1941 (Bundesarchiv NS 7/87, Bl. 2 f.).
[105] Vieregge, a.a.O. (Fn.9 9), S. 25 unter Verweis auf Erlass des RFSSuCdDtPol v. 17. Juli 1941 (Bundesarchiv NS 7/3, Bl. 75 ff.).
[106] Vieregge, a.a.O. (Fn. 99), S. 25 unter Verweis auf Bundesarchiv NSD 41/41.
[107] Ob es sich dabei um eine echte oder um eine unechte Wahlfeststellung handelt, und ob sich die strafanwendungsrechtliche Wahlfeststellung überhaupt in diese Kategorien einfindet, muss und soll hier nicht geklärt werden.
[108] Vgl. allgemein BGHSt 12, 386, 388.
[109] Vgl. allgemein BGHSt 30, 78.
[110] Vgl. Hruschka MDR 1967, 265, 267; Jakobs GA 1971, 257, 270.
[111] Vieregge, a.a.O. (Fn. 99), S. 14 m.w.N.
[112] Ambos, a.a.O. (Fn. 17), Vor § 3 Rn. 40.
[113] Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), Vor § 3 Rn. 227.
[114] Schwinge, a.a.O. (Fn. 88), § 158 MStGB Anm. I. (zur Erstreckung auf Kriegsgefangene).
[115] Schwinge, a.a.O. (Fn. 88), § 155 MStGB Anm. I. (zur Erstreckung auf das Wehrmachts-Gefolge).
[116] Vgl. Ambos, a.a.O. (Fn. 17), Vor § 3 Rn. 38 (zum Domizilprinzip); Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), Vor § 3 Rn. 236 (zum ausländischen Amtsträger).
[117] Aus heutiger Sicht mögen völkerrechtliche Bedenken zwar gegen die absolute – d.h. vom Tatortrecht unabhängige – Erstreckung der deutschen Strafgewalt auf Kriegsgefangene, ausländische Soldaten bzw. Militärs oder auf deren Gefolge gehegt werden (vgl. Ambos, a.a.O. (Fn. 17), Vor § 3 Rn. 36 m.w.N.); diese Bedenken greifen hier jedoch nicht durch, da – so darf unterstellt werden – im sachgegenständlichen Verfahren am Tatort identische tötungsdeliktische Normen vorhanden waren. – Einzugestehen ist, dass die SS- und Polizei-Gerichtsbarkeit damit aus heutiger Sicht (um‑)funktionalisiert werden kann, um strafrechtlich gegen die Vernichtungspolitiken des Dritten Reiches einzuschreiten. Dies mag der historischen Zielsetzung der SS- und PolGVO zuwiderlaufen (s. oben bei Fn. 111), liegt aber in der Natur der Sache einer rechtsstaatlichen Aufarbeitung unrechtsstaatlichen Unrechts, die auf der damaligen Gesetzes- und (Un‑)Rechtswirklichkeit basiert und diese wenn nötig rechtsstaats- und menschenrechtskonform rekonstruiert (s. oben II.2.b). Nicht hinnehmbar wäre es, die historisch gewünschte Straflosstellung der NS-Vernichtungspolitiken heute anzuerkennen.
[118] Vgl. nur Dau, a.a.O. (Fn. 13), § 1 WStG Rn. 5 ff.
[119] Vgl. Dau, a.a.O. (Fn. 13), Vor § 1 ff. WStG Rn. 13 f.
[120] WStG v. 30. März 1957 (BGBl. I, S. 298) und das Einführungsgesetz zum WStG v. 30. März 1957.
[121] BGBl I, S. 735.
[122] § 4 Abs. 3 Nr. 1 StGB in der Fassung des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes lautete: "Straftaten, die er als Träger eines deutschen staatlichen Amtes oder gegen Träger eines deutschen staatlichen Amtes während ihres Dienstes oder in Beziehung auf ihren Dienst begeht."
[123] BGHSt 39, 353, 370. Vgl. ferner Fischer, a.a.O. (Fn. 50), § 2 Rn. 4. Besonders deutlich Satzger, a.a.O. (Fn. 32), § 2 Rn. 15 ("insbesondere wird auch der (vorübergehende) Zustand der Straflosigkeit als ‚milderes Gesetz’ angesehen."). – Zwar hat der BGH das MStGB trotz seiner förmlichen Aufhebung durch KRG Nr. 34 in den frühen 1950igern weiter angewandt, wenn es das zur Zeit der Tat anwendbare Gesetz war (so zu lesen in ZaöRV 1961, 511, 518 m.w.N.); das erklärt sich wohl aber aus § 2a Abs. 2 StGB der damals geltenden Fassung, wonach das Meistbegünstigungsprinzip nur fakultativ galt.
[124] Dazu auch Satzger, a.a.O. (Fn. 32), § 2 Rn. 15.
[125] Internationales Militärtribunal, a.a.O. (Fn. 3), S. 516 f.
[126] Vgl. Satzger, a.a.O. (Fn. 32), § 2 Rn. 13, der darin den Hauptzweck des § 2 Abs. 3 StGB erkennt.
[127] Die Erstreckung der deutschen bzw. bundesdeutschen Strafgewalt auf Straftaten, die der Täter als Träger eines deutschen staatlichen Amtes bzw. als Amtsträger begangen hat, ist seit den angeklagten Tatzeiträumen ununterbrochen Bestandteil des StGB. Zur Entstehungsgeschichte von § 5 Nr. 13 StGB, samt der verschiedensten Änderungsgesetze, vgl. Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), § 5 Entstehungsgeschichte. – Wenn und sofern zu den Zwischengesetzen in der Rechtslehre die Ansicht vertreten wurde, die Erstreckung auf Amtsträger (etwa nach § 4 Abs. 3 Nr. 1 StGB in der Fassung des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes, s. oben Fn. 122) beziehe sich nur auf echte und unechte Amtsdelikte, ist – da es sich nunmehr um die Auslegung von Nachkriegsrecht handelt – das Tatgericht rückwirkungsrechtlich nicht an solche Auffassungen gebunden.
[128] Die in § 11 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 StGB enthaltenen Definitionen stellen kein Novum zum überkommenen Recht dar, sondern greifen im Gegenteil die Rechtsprechung insbesondere des RG zum (strafrechtlichen) Beamtenbegriff (§ 359 StGB a.F.) auf. Vgl. Hilgendorf, LK-StGB, 12. Aufl. (2007), § 11 Rn. 19.
[129] KG NStZ 1994, 242 (2. Leitsatz) (Herv. des Verf.).
[130] Vgl. dazu nur Bung HRRS 2006, 317 m.w.N.
[131] BT-Drs. 4/650, S. 112. Dort heißt es mit Blick auf den heutigen § 5 Nr. 12 StGB, der Auslands-Amtsstraftaten deutscher Staatsangehöriger der deutschen Strafegewalt unabhängig vom Tatortrecht unterwirft: "Das ist schon zur Wahrung des Ansehens des eigenen Staates im Ausland geboten."
[132] Heinrich, Der Amtsträgerbegriff im Strafrecht (2001), S. 422.
[133] Heinrich, a.a.O. (Fn. 132), S. 420.
[135] Dazu schon Arendt, Eichmann in Jerusalem (1994).
[136] Hilgendorf, a.a.O. (Fn. 128), § 11 Rn. 43.
[137] RGSt 73, 29, 30.
[138] Daran sind freilich keine hohen Anforderungen zu stellen, da heute bereits "Praktikanten" als Amtsträger gelten, vgl. KG NStZ-RR 2008, 198 (freilich zum spiegelbildlichen Fall eines gegen eine Praktikantin als Amtsträgerin gerichteten Delikts).
[139] Die entsprechende Literatur berichtet davon, dass viele der untergeordneten Tätigkeiten, z.B. beim Ausladen der eintreffenden Transporte, von jüdischen Arbeitshäftlingen ausgeführt wurden. Rückerl, a.a.O. (Fn. 1), S. 167. – Zu den Aufgaben der ukrainischen Wachmannschaften auch a.a.O., S. 183.
[140] Vgl. zu der entsprechenden RG-Rechtsprechung ausführlichst Heinrich, a.a.O. (Fn. 132), S. 109.
[141] Ambos, a.a.O. (Fn. 17), § 5 Rn. 36; Böse, a.a.O. (Fn. 23), § 5 Rn. 16; Eser, a.a.O. (Fn. 47), § 5 Rn. 20; Hoyer, a.a.O. (Fn. 71), § 5 Rn. 29; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl, (2007), § 5 Rn. 3; Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), § 5 Rn. 196 ff. A.A. Fischer, a.a.O. (Fn. 50), § 5 Rn. 13.
[142] Ambos, a.a.O. (Fn. 17), § 5 Rn. 36.
[143] Werle/Jeßberger, a.a.O. (Fn. 26), § 5 Rn. 196 ff
[144] Wohl Eser, a.a.O. (Fn. 141), § 5 Rn. 20.
[145] Nur kursorisch sei angemerkt, dass die Rechtsvergleichung und das Völkerstrafrecht einen beschränkten Lösungsvorrat für andere sich im Demjanjuk-Verfahren einstellende Probleme parat halten:
(1) So erhebt die Verteidigung den Einwand selektiver Strafverfolgung, namentlich im Vergleich zur Praxis der (Nicht‑)Verfolgung von deutschen Beteiligten am NS-Unrecht in früheren Jahren. Wenn das LG München II mit Beschluss v. 21. Dezember 2009 – 1 Ks 115 Js 12496/08 – diesen Einwand "rechtlich nicht einzuordnen" vermag, so spricht daraus die der deutschen Strafprozessdogmatik bis dato unbekannte Überprüfung von Strafverfolgungsentscheidungen nach Art. 3 GG. Das US-amerikanische Strafrecht kennt hingegen ein entsprechendes, von der Verteidigung implizit aufgeworfenes Prozesshindernis der diskriminierend-willkürlichen Strafverfolgung, das allerdings mit hohen (Beweis‑)Hürden verbunden ist; vgl. US Supreme Court, Oyler v. Boles, 368 U.S. 448 (1962) ("[T]he conscious exercise of some selectivity in enforcement is not in itself a federal constitutional violation. Even though the statistics in this case might imply a policy of selective enforcement, it was not stated that the selection was deliberately based upon an unjustifiable standard such as race, religion, or other arbitrary classification.”).
(2) Auch die notwendig werdende "Mathematik des Todes" (so SZ v. 13. Februar 2010) wirft heikle Grenzfragen zwischen materiellem Straf- und prozessualem Beweisrecht auf, wenn und weil dem Angeklagten nicht alle zur Last gelegten 27.900 Einzelschicksale konkretisiert vorgeworfen werden können; vielmehr muss die Anklageschrift von den in den Transportlisten der 15 Eisenbahntransporte genannten 29.759 Personen einen statistischen Abschlag vornehmen, und gelangt so erst zu der Zahl 27.900, weil viele der transportierten Menschen auf der Fahrt starben und andere als Arbeitshäftlinge, die möglicherweise überlebten, ausgewählt wurden. Eine solche statistische "Opfer-Wahlfestellung" – vgl. dazu grundlegend K. Tiedemann, I. Tiedemann, in: Festschrift für Rudolf Schmitt (1992), S. 139 ff. – ist dem Völkerstrafrecht nicht zur Gänze unbekannt, vgl. Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda, Urt. der Verfahrenskammer I v. 27. Februar 2009, The Prosecutor v. Emmanuel Rukundo, Rs. ICTR-2001-70-T, Rn. 589.