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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2009
10. Jahrgang
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Von Professor Dr. Dr. h. c. mult. Claus Roxin, Universität. München (em.)
Das Urteil ist insofern zu begrüßen, als es im Falle einer unterlassenen Belehrung des Beschuldigten über sein Schweigerecht (§ 136 I, 2 StPO) bei einer erneuten Vernehmung nicht nur die Nachholung der Belehrung, sondern auch die zusätzliche Belehrung verlangt, dass die ohne Belehrung erfolgte erste Aussage unverwertbar sei (eine sog. qualifizierte Belehrung). Dadurch soll verhindert werden, "dass ein Beschuldigter auf sein Aussageverweigerungsrecht nur deshalb verzichtet, weil er möglicherweise glaubt, eine frühere, unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht zustande gekommene Selbstbelastung nicht mehr aus der Welt schaffen zu können".[1]
Begrüßenswert ist auch, dass das Urteil einen Rechtssatz bestätigt, der sich in der neueren Rechtsprechung immer mehr durchsetzt,[2] dass nämlich die Strafjustizbehörden aus bewussten Rechtsbrüchen (in unserem Fall mit den Worten des Senats: aus "bewusster Umgehung der Belehrungspflichten") keinen Nutzen ziehen dürfen, sondern dass in solchen Fällen stets ein Beweisverwertungsverbot eingreift. Die grundsätzliche Bedeutung dieser Erkenntnis für die Lehre von den Beweisverwertungsverboten wird nicht dadurch geschmälert, dass der Senat meint, im vorliegenden Fall spreche "nichts" für eine derart bewusste Umgehung. Es wird also, wenn auch ohne jede Begründung, vom Gericht unterstellt, dem Polizeibeamten sei die Pflicht zu einer qualifizierten Belehrung unbekannt gewesen.
Das Gericht folgt mit beiden Thesen einer Entscheidung des 1. Senats,[3] auf die es sich auch fast wörtlich beruft. Dankenswert ist ferner der Hinweis auf den Parallelfall des § 136a StPO. Obwohl das Gericht eine ausdrückliche Stellungnahme vermeidet, sollte nicht zweifelhaft sein, dass auch bei einem Verstoß gegen diese Vorschrift bei einer späteren Vernehmung eine qualifizierte Belehrung zu erfolgen hat (was der 4. Senat immerhin durchblicken lässt).
Weniger begrüßenswert ist aber – und hier setzt meine Kritik ein –, dass das vorliegende Urteil dem 1. Senat auch in der Annahme folgt, bei einer auf Vergesslichkeit oder Rechtsirrtum beruhenden Unterlassung der qualifizierten Belehrung sei ein Beweisverwertungsverbot nur "durch Abwägung im Einzelfall" zu ermitteln.
Das zentrale Argument für die Notwendigkeit einer derartigen Abwägung, die voraussichtlich im Gefolge der beiden vorliegenden Entscheidungen durchweg gegen ein Beweisverwertungsverbot ausfallen wird, liegt in der These, dass "der Verstoß gegen die Pflicht zur ‚qualifizierten’ Belehrung ... nicht dasselbe Gewicht wie der Verstoß gegen die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO" habe.[4] Gegen diese das Abwägungskonzept tragende These sprechen zwei durchschlagende Gesichtspunkte.[5]
Der erste Gegengrund liegt darin, dass die Belehrungspflicht eine durch Rechtsunkenntnis bewirkte Selbstüberführung oder Selbstbelastung des Beschuldigten verhindern soll. Eine derartige Rechtsunkenntnis liegt nicht nur dann vor, wenn der Beschuldigte über sein Schweigerecht nicht belehrt wird und daraufhin aussagen zu müssen glaubt, sondern ebenso dann, wenn er meint, durch Schweigen nichts mehr gewinnen zu können, weil schon eine frühere, ohne Belehrung gemachte Aussage gegen ihn verwertet werden kann.
Man wird sogar sagen können, dass die Unterlassung einer qualifizierten Belehrung schwerer wiegt als die schlichte Nichtbelehrung. Denn während diese dem Beschuldigten, der sich irrtümlich zur Aussage verpflichtet glaubt, immer noch die Möglichkeit zur Leugnung der Tat oder zu einer entlastenden Falschdarstellung offenlässt, glaubt der Beschuldigte bei Unterlassung einer qualifizierten Belehrung durch das früher Ausgesagte überführt werden zu können, so dass ein Schweigen oder eine andere Darstellung jetzt keinen Sinn mehr hat, weil ohnehin "nichts mehr zu machen" ist. Es wäre daher wünschenswert, dass der BGH einmal einen Grund dafür angäbe, warum ein Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung weniger schwer wiegen soll als die unterlassene Belehrung.
Mein zweites Gegenargument stützt sich darauf, dass eine Abwägung, wie sie der BGH für richtig hält, zwar bei geringeren Verfahrensverstößen angemessen ist, nicht aber dann, wenn das Schweigerecht des Beschuldigten tangiert wird, das nicht nur durch die "Achtung vor der Menschenwürde"[6], das Persönlichkeitsrecht des Beschuldigten und Art. 14 Abs. 3g des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte[7] garantiert wird, sondern auch ein "Kernstück des von Art. 6 Abs. 1 MRK garantierten fairen Verfahrens"[8] ist. Das Schweigerecht ist unbestreitbar nicht in vollem Umfang gesichert, wenn der Beschuldigte durch eine unvollständige Belehrung der Ermittlungsbehörden die Rechtsfolgen seines Schweigens unrichtig beurteilt. An der Beeinträchtigung des Rechts zur freien Entscheidung über eine Selbstbelastung, das aus den geschilderten gesetzlichen, verfassungsrechtlichen und internationalrechtlichen Grundlagen folgt, ändert sich nicht das Geringste, wenn die erforderliche qualifizierte Belehrung aus Vergesslichkeit oder wegen Rechtsunkenntnis der Vernehmungsperson unterlassen wurde. Elementare verfassungsrechtliche und internationale Rechtsgrundsätze müssen abwägungsfest sein und unabhängig von den Rechtsvorstellungen der Verfolgungsbehörden durch ein Verwertungsverbot gesichert sein. Denn es gibt keine Gründe, die bei einer Abwägung gegen ihr Überwiegen sprechen könnten.
Ein dritter, eher pragmatischer Gegengrund sei hinzugefügt. Man darf vermuten – und die beiden einschlägigen Entscheidungen nähren diese Vermutung –, dass der Polizei die Pflicht zur qualifizierten Belehrung vielfach unbekannt ist. Sie wird ihr auch weiterhin unbekannt bleiben oder auf die leichte Schulter genommen werden, wenn der Verstoß gegen diese Pflicht keine Rechtsfolgen nach sich zieht. Der Wille zur Überführung des Beschuldigten wird dann oft die Oberhand behalten. Das mag aus der Sicht der Polizei verständlich sein. Aber der Rechtsstaat duldet eben gerade nicht eine Überführung um jeden Preis. Nur ein Verwertungsverbot wird daher die Pflicht zur qualifizierten Belehrung in der Praxis effektiv durchsetzen können.
Auch die in der vorliegenden Entscheidung angeführten Abwägungsgesichtspunkte überzeugen nicht. Das gilt zunächst für das im Urteil im Anschluss an die dort zitierten Entscheidungen erwähnte "Interesse an der Sachaufklärung". Ein solches Interesse besteht immer. Wenn es das Interesse an der Wahrung der Selbstbelastungsfreiheit überwöge, würde die unterlassene Belehrung niemals zu einem Verwertungsverbot führen können. Man darf auch nicht davon sprechen, dass bei schweren Delikten das Interesse an der Sachaufklärung das Interesse des Beschuldigten an der Belehrung über sein Schweigerecht und die rechtlichen Auswirkungen seines Schweigens überwögen. Denn § 136 StPO enthält keinerlei Einschränkungen oder Abstufungen nach der Schwere des zu verfolgenden Delikts.
Etwas anders liegt es hinsichtlich der vom Gericht für wichtig erachteten Frage, "ob sich aus den Umständen des Falles ergibt, dass der Vernommene davon ausgegangen ist, von seinen vor der Beschuldigtenbelehrung gemachten Angaben ... bei seiner weiteren Vernehmung ... nicht mehr abrücken zu können". Denn wenn der Beschuldigte wusste, dass die bei der ersten Vernehmung gemachten Aussagen nicht verwertet werden dürfen, wäre seine Selbstbelastungsfreiheit durch die unterlassene qualifizierte Belehrung nicht eingeschränkt worden. BGHSt 38, 214 hat in der grundlegenden Entscheidung zum Verwertungsverbot bei unterlassener Belehrung denn auch ausgesprochen,[9] das Verwertungsverbot gelte nicht, "wenn feststeht, dass der Beschuldigte sein Recht zu schweigen ohne Belehrung gekannt hat".
Aber eine solche Feststellung hat das Gericht im vorliegenden Fall nicht getroffen, und es hat auch das von BGHSt 38, 225 empfohlene Freibeweisverfahren nicht angeordnet, sondern es bei Mutmaßungen belassen. Es beschränkt sich auf die Bemerkung, es liege "eher fern", dass sich der Angeklagte C. seiner Entscheidungsfreiheit nicht bewusst war und begründet das damit, dass er bei seiner zweiten Vernehmung "erstmals auch sich selbst massiv belastende Angaben gemacht" habe. Aber das kann doch gerade darauf beruhen, dass er glaubte, wegen der Verwertbarkeit seiner früheren Aussage nur noch durch ein umfassendes Geständnis seine Lage verbessern zu können! Für den Nachweis, dass der Angeklagte von der Unverwertbarkeit der früheren Aussage Kenntnis hatte, reicht das alles nicht aus. Wenn es aber nicht ausreicht, darf es auch nicht vermutungsweise als Abwägungsgesichtspunkt eingeführt werden. Denn dadurch werden die vom BGH selbst aufgestellten Beweisanforderungen unterlaufen.
Der Bundesgerichtshof sollte also doch noch einmal überlegen, ob es nicht richtiger ist, eine unterlassene qualifizierte Belehrung grundsätzlich mit einem Beweisverwertungsverbot auszustatten. Mehrere Instanzgerichte sind ihm auf diesem Weg schon vorausgegangen.[10]
[1] So der 4. Senat im vorliegenden Urteil unter fast wörtlicher Übernahme meiner Ausführungen in JR 2008, 18.
[2] Dazu Roxin NStZ 2007, 616 ff. (617) m.w.N.
[3] 1 StR 3/07, 450, 452. Dazu mein Aufsatz in JR 2008, 16 ff.
[4] Ganz ebenso schon BGH StV 2007, 452: "kein Gewicht, das dem Gewicht eines Verstoßes gegen § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO entspräche".
[5] Vgl. dazu schon Roxin JR 2008, 18. Der Senat weist darauf hin ("krit. Roxin"), versagt sich jedoch eine Auseinandersetzung mit diesen Argumenten.
[6] BGHSt 38, 220.
[7] BGHSt 38, 202.
[8] So auch das vorliegende Urteil im Anschluss an verschiedene Entscheidungen des EGMR.
[9] Schon im Leitsatz, a.a.O., 214.
[10] Im besprochenen Fall die Vorinstanz; früher schon LG Bad Kreuznach StV 1994, 293; LG Dortmund NStZ 1997, 356.