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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2009
10. Jahrgang
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1. Wenn eine Verurteilung nur oder in entscheidendem Ausmaß auf einer Aussage beruht, die von einem Zeugen gemacht worden ist, hinsichtlich derer der Angeklagte unverschuldet weder während der Ermittlungen noch während des gerichtlichen Hauptverfahrens eine Gelegenheit hatte, sie zu prüfen oder prüfen zu lassen, sind die Verteidigungsrechte in einem Umfang beschränkt, der mit den von Art. 6 EMRK gewährten Garantien unvereinbar ist. Dies gilt auch in Verfahren, die durch eine Jury entschieden werden und in denen eine besonders vorsichtige Beweiswürdigung durch eine richterliche Belehrung praktiziert wird.
2. Die Rechte des Art. 6 Abs. 3 EMRK sind explizite Mindestrechte, und dürfen nicht nur als Beispiele für
Erwägungen missverstanden werden, die in die Gesamtbetrachtung darüber einzustellen sind, ob ein Strafverfahren insgesamt fair gewesen ist. Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK garantiert lediglich darüber hinausgehend, dass jedes Verfahren auch im Übrigen dem Gesamtrecht auf ein faires Verfahren genügen muss.
3. Die Beachtung des Rechts des Angeklagten, sich durch eigene Ausführungen und Aussagen verteidigen zu dürfen, stellt keinen Ausgleich für den Verlust der Gelegenheit dar, den einzigen Belastungszeugen zu sehen, inhaltlich zu konfrontieren und zu befragen (ins Kreuzverhör zu nehmen).
Die Weigerung, bereits in der Hauptverhandlung eine Zwischenentscheidung über die Verwertbarkeit der Aussagen des Beschwerdeführers aus dem Ermittlungsverfahren zu treffen, verstößt nicht gegen den Grundsatz der Verfahrensfairness aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG.
1. Der verfassungsrechtliche Schuldgrundsatz erfordert, dass Tatbestand und Rechtsfolge gemessen an der Idee der Gerechtigkeit sachgerecht aufeinander abgestimmt sein müssen. Die Androhung einer Strafe ist nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offen bleibt, bei der Subsumtion konkreter Fälle unter die abstrakte Norm zu einer schuldangemessenen Strafe zu kommen (BVerfGE 45, 187, 261).
2. Ernstliche Zweifel, die Verfassungsmäßigkeit des § 152b Abs. 2 StGB in Frage zu stellen, sind nicht ersichtlich. Ob die Entscheidung des Gesetzgebers für den in § 152b Abs. 2 StGB vorgesehenen Strafrahmen rechtspolitisch sinnvoll und wünschenswert ist, entzieht sich der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht.
1. Ein Durchsuchungsbefehl, der keinerlei tatsächliche Angaben über den Inhalt des Tatvorwurfs enthält und der zudem den Inhalt der konkret gesuchten Beweismittel nicht erkennen lässt, wird rechtsstaatlichen Anforderungen jedenfalls dann nicht gerecht, wenn solche Kennzeichnungen nach dem bisherigen Ergebnis der Ermittlungen ohne weiteres möglich und den Zwecken der Strafverfolgung nicht abträglich sind (vgl. BVerfGE 42, 212, 220; 71, 64, 65).
2. Allein die lediglich abstrakte Beschreibung eines angenommenen Modells der Steuerhinterziehung (Umsatzsteuerkarussell), ohne den – obwohl nach dem Ermittlungsstand möglich – konkreten Lebenssachverhalt (Geschäftsabschlüsse, Warenlieferungen, geleisteten Zahlungen oder sonstigen Geschäftsvorfälle) näher zu bezeichnen und zumindest beispielhaft einzelnen Straftatbeständen zuzuordnen, genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an den Inhalt eines Durchsuchungsbeschlusses.
3. Allein die Benennung der Position in einem Unternehmen kann u.U. bei einer umfangreichen Geschäftstätigkeit des Unternehmens nicht ausreichen, um einen mutmaßlichen Tatbeitrag hinreichend genau zu kennzeichnen.
4. Allein aus der Übernahme des Antrags der Staatsanwaltschaft durch den Ermittlungsrichter kann noch nicht auf das Fehlen einer eigenverantwortlichen Prüfung des Sachverhalts geschlossen werden. Auch müssen sich die Beschlussgründe grundsätzlich nicht zu jedem denkbaren Gesichtspunkt des Tatverdachts verhalten. Aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar ist es aber, wenn sich im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände die Notwendigkeit der Erörterung eines offensichtlichen Problems aufdrängen musste (vorliegend eine vorangegangene Durchsuchung) und gleichwohl eine Prüfung vollständig fehlt.
1. Das Gewicht des Eingriffs in das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 Abs. 1 GG verlangt als Durchsuchungsvoraussetzung Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine Durchsuchung
nicht finden lassen (vgl. BVerfGE 44, 353, 371 f.; 59, 95, 97).
2. Allein der auf einen Bildschirmausdruck gestützte Nachweis der Existenz eines Hyperlinks in einen öffentlich zugänglichen Internetdiskussionsforum, der darauf hindeutet, dass über den Hyperlink Zugang zu Material bei einem anderen Anbieter vermittelt wird, dass unter Verstoß gegen das UrhG verbreitet wird, kann eine Durchsuchungsahnsordnung gegen den Betreiber des Forums nicht stützen, wenn weder dargelegt wird, ob über den Hyperlink tatsächlich urheberrechtlich geschütztes Material erreicht werden konnte, noch ob der Betreiber die entsprechenden Links selbst gesetzt hat bzw. es vorsätzlich unterlassen hat, diese zu entfernen.
3. Verdachtsgründe, die sich im Grenzbereich zu vagen Anhaltspunkten oder bloßen Vermutungen bewegen und bei denen der konkrete Sachverhalt nicht eindeutig ein strafbares Verhalten erkennen lässt, können eine Wohnungsdurchsuchung nicht rechtfertigen, wenn nicht vorher andere grundrechtsschonendere Ermittlungsschritte vorgenommen wurden, um Tatverdacht zu erhärten oder zu zerstreuen.
1. Zur Verfassungswidrigkeit einer Durchsuchungsanordnung wegen eines Anfangsverdachts der unerlaubten Veranstaltung von Glücksspielen gemäß § 284 StGB i.V.m. dem Niedersächsischen Lotteriegesetz (Oddset-Sportwetten) in der Zeit vor Erlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 (BVerfGE 115, 276).
2. Das Bundesverfassungsgericht ist zur Entscheidung der Frage, ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts mit einer vorrangigen Bestimmung des europäischen Gemeinschaftsrechts unvereinbar und daher nicht anwendbar ist, nicht zuständig; eine Entscheidung über diese Normenkollision ist der umfassenden Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der zuständigen Gerichte überlassen (vgl. BVerfGE 31, 145, 174 f.; 82, 159, 191; 115, 276, 299 f.).
1. Die Erteilung von Auskünften aus Verfahrensakten oder die Gewährung von Akteneinsicht stellt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung solcher Personen dar, deren personenbezogene Daten auf diese Weise zugänglich gemacht werden. Die schutzwürdigen Interessen dieser Personen können der Gewährung von Akteneinsicht daher entgegenstehen oder es erforderlich machen, den Zugang zu den Daten angemessen zu beschränken. Wird durch die Gewährung der Akteneinsicht in Grundrechte Betroffener eingegriffen, sind diese in der Regel anzuhören.
2. Es ist unter keinem Aspekt vertretbar, die Akteneinsicht an Privatpersonen aus „ermittlungstaktischen Gründen“ auch dann zu gewähren, wenn die Voraussetzungen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlagen in §§ 475, 477 StPO nicht vorliegen. Insbesondere kann eine solche Gewährung auch nicht auf die Ermittlungsgeneralklausel des § 161 Abs. 1 StPO gestützt werden.
1. Hat der Beschwerdeführer aufgrund einer ihm erteilten unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung die erforderliche Form nicht gewahrt und die Frist für die Einlegung einer den Formerfordernissen entsprechenden Rechtsbeschwerde versäumt, so war die Versäumung der Frist unverschuldet (§ 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 44 Satz 2 StPO), so dass ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in die versäumte Rechtsbeschwerdefrist gewährt werden kann (§ 120 Abs. 1 StVollzG i.V.m. § 44 Satz 1 StPO).
2. Erfährt der Beschwerdeführer über die Möglichkeit, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erlangen, erst durch einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, so beginnt die Frist zur Wiedereinsetzung in die Wiedereinsetzungsfrist erst mit der Zustellung des Beschlusses zu laufen.
1. Die Auslegung von § 298 Abs. 1 StGB, nach der der Begriff „Angebot“ auch nicht annahmefähige Angebote erfasst, ist im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot nach Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dass auch eine einschränkende Auslegung eines
Tatbestandsmerkmals möglich ist, stellt die Bestimmtheit eines Straftatbestands nicht in Frage.
2. Was speziell die Aufklärung des Sachverhalts und die Beweiswürdigung angeht, rechtfertigt nicht jeder Verstoß gegen § 244 Abs. 2 oder § 261 StPO und die hierzu vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätze das Eingreifen des Bundesverfassungsgerichts. Voraussetzung ist vielmehr, dass sich das Tat- und gegebenenfalls das Revisionsgericht so weit von der Verpflichtung entfernt haben, in Wahrung der Unschuldsvermutung bei jeder als Täter in Betracht kommenden Person auch die Gründe, die gegen die mögliche Täterschaft sprechen, wahrzunehmen, aufzuklären und zu erwägen, dass der rationale Charakter der Entscheidung verloren gegangen scheint und sie keine tragfähige Grundlage mehr für die mit einem Schuldspruch einhergehende Freiheitsentziehung sein kann (vgl. BVerfGK 1, 145, 149 ff.).
3. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Protokollvermerk über die Einführung von Urkunden im Selbstleseverfahren – „der Vorsitzende und die Schöffen haben von den Urkunden Kenntnis genommen“ – dahingehend ausgelegt wird, dass die genannten Personen vom Wortlaut der Urkunden Kenntnis genommen haben.