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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2008
9. Jahrgang
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Von RiBGH Ulrich Hebenstreit, Karlsruhe
Wenn ich die übersandten Materialien zum 32. Strafverteidigertag richtig gelesen habe geht es vor allem darum, dem Ärger über die Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 23. April 2007 [1] Luft zu machen. Es handelt sich um die Entscheidung zur Begrenzung der relativen Unwirksamkeit einer Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls.
Zugrunde lag ein Fall der hier in München auf dem Oktoberfest spielte. Der Angeklagte hatte dem Geschädigten zwei Mal mit einem Bierkrug auf den Kopf geschlagen. Das Landgericht München I hatte den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung (§ 223 Abs. 1, § 224 Abs. 1 Nrn. 2 und 5) zu Freiheitsstrafe verurteilt. Angeklagt gewesen war versuchter Totschlag. [2]
In der Sitzungsniederschrift fehlte zunächst der Vermerk über die Verlesung des Anklagesatzes. Tatsächlich war er - zweifelsfrei [3] - verlesen worden.
Der Fehler in der Sitzungsniederschrift wurde beim Landgericht erst nach Eingang der Revisionsbegründungschrift, in der dies gerügt wurde, entdeckt.
Die Urkundspersonen - der Strafkammervorsitzende und die Urkundsbeamtin - ergänzten daraufhin (nach Anhörung der Beteiligten) die Sitzungsniederschrift um den Satz: "Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlas den Anklagesatz".
Nach der alten Rechtsprechung zur relativen Unwirksamkeit der Protokollberichtigung wäre dies unbeachtlich gewesen, da dadurch der bereits erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen wurde (Stichwort: Rügeverkümmerung). Das Urteil des Landgerichts hätte im konkreten Fall aufgehoben werden müssen. Der Große Senat hat diese Rechtsprechung geändert.
Er hat wie folgt entschieden:
"1. Durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls kann auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden.
2. Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. Widerspricht er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen.
3. Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung."
Aus der umfangreichen Begründung des Beschlusses des Großen Senats wird nun im Materialheft 32 zum Strafverteidigertag 2008 folgender Satz in das Zentrum der Erörterung gestellt:
"Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet; wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein."
Aus diesem Satz wird dann die Forderung abgeleitet, die Revisionsgerichte müssten - wenn sie der Wahrheit verpflichtet sind - auch die Tatsachenfeststellung der Instanzgerichte bei entsprechender Beanstandung seitens des Beschwerdeführers umfassend überprüfen, also nicht nur dahingehend, ob die Feststellungen aus revisionsrechtlicher Sicht rechtsfehlerfrei getroffen sind. Das beträfe dann vor allem Indiztatsachen, beispielsweise ob ein Zeuge so ausgesagt hat, wie es in der Beweiswürdigung des Urteils nachzulesen ist. Die Fesseln des bisherigen Revisionsrechts sollen quasi gesprengt werden.
Ich meine nicht, dass der Beschluss des Großen Senats dies "hergibt", dass diese Schlussfolgerung gezogen werden kann oder gar muss. Im Ergebnis hat sich nämlich bei der Bewältigung von Protokollierungsfehlern wenig geändert, wie anschließend in einem Teil 1 aufzuzeigen sein wird. Die neue Rechtsprechung zur Protokollberichtigung bewältigt dies nur dogmatisch passender [4] .
Ich verkenne aber nicht, dass in dem Mangel der Überprüfbarkeit der inhaltlichen Richtigkeit von Feststellungen der Tatsacheninstanzen gerade von Verteidigern ein Problem gesehen wird. Dabei geht es im Wesentlichen um die Verfahren, die beim Landgericht [5] beginnen. Das Problem wird zwar meines Erachtens überschätzt. Dennoch: Die Frage, ob die schriftlichen Urteilsgründe wirklich immer das Ergebnis der Hauptverhandlung zutreffend widerspiegeln, kann nicht generell vom Tisch gewischt werden. Dazu, ob insoweit Abhilfe im Rahmen unseres gegenwärtigen Strafprozessrechts bei nur zwei Instanzen in den gewichtigen Verfahren möglich ist, werde ich dann in einem Teil 2 ein paar Bemerkungen machen.
Welche Bedeutung kommt der Entscheidung des Großen Senats zur Protokollberichtigung zu?
Im Vorspann zu den Materialien zur Arbeitsgruppe 5 des Strafverteidigertags 2008[6] im wird dazu ausgeführt:
"Prozessual erhebliche Tatsachen wurden bisher durch das Protokoll der Hauptverhandlung bewiesen. Diesen Grundsatz hat der BGH nunmehr unter Bezugnahme auf die Wahrheitspflicht als übergeordnetes Prinzip durchbrochen
und den Nachweis einer Unrichtigkeit des Protokolls zugelassen."
Dies ist so nicht richtig! Der Bundesgerichtshof hat keineswegs den Nachweis der Unrichtigkeit des Protokolls zum allgemeinen Grundsatz erhoben. Der Bundesgerichtshof hat vielmehr
a) der Bedeutung des Protokolls im Hinblick auf seine Beweiskraft (§ 274 StPO) mehr Geltung verschafft. Denn die alte Rechtsprechung hat dessen Beweiskraft mehr beschränkt als die neue. Und der Bundesgerichtshof hat vor allem
b) die Notwendigkeit freibeweislicher Überprüfung des Protokolls zurückgedrängt.
Bei der Bewertung der Folgen des Beschlusses des Großen Senats zur Protokollberichtigung darf der Blick nicht allein auf § 274 StPO gerichtet werden. Notwendig ist eine Gesamtschau des Umgangs der Revisionsrechtsprechung mit Protokollierungsfehlern, also auch unter Berücksichtigung der Rechtssprechung
- zum Wegfall der Beweiskraft der Sitzungsniederschrift[7]
- zum Beruhen des Urteils auf Verfahrensfehlern und
- zum Missbrauch bei der Erhebung unwahrer Verfahrensrügen [8] .
Wie gingen die Revisionsgerichte nun bisher bei Protokollierungsfehlern vor, wenn die Sitzungsniederschrift etwas Nichtgeschehens scheinbar belegte oder Geschehenes (Wesentliches gemäß § 273 StPO) verschwieg.
Der Grundsatz war und ist: Auch das Protokoll über eine strafrechtliche Hauptverhandlung kann bei erkanntem Fehler von den Urkundspersonen berichtigt werden, auch wenn es - anders als z.B. in der ZPO (§ 164 ZPO) - keine ausdrückliche gesetzliche Regelung dazu gibt. Das ist seit langem, seit Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend unbestritten[9]. Wirkt der Fehler zum Nachteil des Angeklagten liegt die Berichtigungspflicht auf der Hand. Aber auch sonst sollten - oder müssen sogar - Fehler korrigiert werden [10]. Ein fehlerhaftes Protokoll sollte nicht – wider besseres Wissen der Urkundspersonen - perpetuiert werden. Die Berichtigung ist geboten. [11]
Erkennen die Urkundspersonen den Fehler vor Eingang der Revisionsbegründungsschrift und berichtigen sie die Sitzungsniederschrift gab es auch früher keine Probleme, auch wenn der Fehler in der später eingehenden Revisionsbegründung noch gerügt wird. Dann ist das Gegenteil durch das - berichtigte - Protokoll bewiesen.
Werden die Urkundspersonen erst durch die Revisionsbegründung auf den - gerügten - Fehler aufmerksam, gilt zunächst nicht anderes. D.h. sie können und sie sollen das Protokoll - nach Anhörung[12] - berichtigen, sichere Erinnerung natürlich immer vorausgesetzt. Aber die Beweiskraft des § 274 Satz 1 StPO galt für das Revisionsverfahren nach der alten Rechtsprechung immer dann nicht, wenn dies der Rüge den Boden entzogen hätte. Fiktiv wurde also auch nach der Berichtigung in all diesen Fällen auf ein so nicht, nicht mehr existentes Protokoll zurückgegriffen.
Ich halte diese frühere Rechtsprechung schon dogmatisch für falsch. § 274 StPO lautet:
"Die Beachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten kann nur durch das Protokoll bewiesen werden. Gegen den diese Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig."
Es gibt aber nur ein Protokoll im Sinne von § 274 StPO. Es gibt nur einen gültigen Protokollinhalt auf den sich § 274 Satz 1 StPO bezieht. Das ist im Falle der Berichtigung die endgültige Fassung der Sitzungsniederschrift.[13] Im Grunde war die Rechtsprechung zur relativen Unwirksamkeit der Protokollberichtigung mit dem Gesetzeswortlaut kaum vereinbar. Allerdings muss ich zugeben, dass der Große Senat die Einschränkung der formellen Beweiskraft des berichtigten Protokolls mit der Eröffnung von deren freibeweislicher Überprüfbarkeit durch das Revisionsgericht insoweit perpetuiert hat. Ich komme darauf zurück.
Diese frühere Rechtsprechung zur relativen Unwirksamkeit einer Protokollberichtigung führte sicher auch zu Urteilsaufhebungen; aber - ohne dies nun empirisch untermauern zu können - in der Regel nur in kleineren, kurzen Verfahren. In großen langwierigen Verfahren waren die Revisionsgerichte, voran der BGH, durchaus kreativ, andere Wege zu finden, um Aufhebungen möglichst zu vermeiden. Stichworte sind: Der Wegfall der Beweiskraft des Protokolls, die Beruhensfrage und die Missbrauchsrechtsprechung.
Zum ersten der genannten Wege:
Enthält die Sitzungsniederschrift Unklarheiten, dann entfällt die Beweiskraft des Protokolls und der tatsächliche Ablauf kann im Freibeweisverfahren festgestellt werden. Das ist im Grundsatz sicher richtig. Aber diese Möglichkeit wurde sehr strapaziert.
Ich verweise auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 8. August 2001 [14] . Darin werden zunächst umfassend Beispiele aufgeführt in denen zuvor Widersprüchlichkeiten oder sonstige inhaltliche Mängel im Protokoll entdeckt wurden, die dessen Beweiskraft insoweit entfallen ließen. Der konkrete Fall stellt dann aber wohl den Höhepunkt dieser Rechtssprechung dar:
Es ging um Folgendes:
Der Angeklagte hatte einen Wahl- und einen Pflichtverteidiger. Das Verfahren erstreckte sich über 21 Sitzungstage. Der Angeklagte wurde an manchen Sitzungstagen nur von einem Verteidiger vertreten. Am 12. Verhandlungstag war – so trägt das der Beschwerdeführer in der Revisionsbegründung vor – der Wahlverteidiger nicht erschienen. Nur der Pflichtverteidiger war anwesend. Während der Vernehmung eines wichtigen Zeugen verließ der Pflichtverteidiger kurzfristig den Sitzungssaal. Während dieser Zeit war der Angeklagte nicht verteidigt. Da es sich um einen Fall notwendigen Verteidigung handelte, lag nach der Darstellung in der Revisionsbegründung ein klarer Fall eines absoluten Revisionsgrundes - § 338 Nr. 5 StPO - vor. Und dies wurde durch das Protokoll bestätigt.
Tatsächlich war der Wahlverteidiger an diesem Sitzungstag ebenfalls anwesend. Das hatte die Protokollführerin auch noch in ihren stenografischen Aufschrieben notiert. Sie hatte die entsprechende Zeile aber bei der Übertragung in die Reinschrift vergessen. Aber darauf kam es im Hinblick auf den Inhalt der dann gefertigten Sitzungsniederschrift (§ 274 Satz 1) nicht an. Diese war weder insgesamt noch zu diesem speziellen Punkt aus sich heraus offensichtlich widersprüchlich:
- Der Wahlverteidiger hatte auch an anderen Verhandlungstagen - tatsächlich - gefehlt.
- Es findet sich auch an diesem 12. Sitzungstag kein Widersprüche aufdeckender Vermerk, wie etwa: "der Wahlverteidiger verließ den Sitzungssaal". Dann wäre deutlich geworden, dass entweder etwas fehlt - der Wahlverteidiger hätte dann ja vorher mal erschienen sein müssen -oder dieser Vermerk unzutreffend war. Damit wäre der Weg zur Überprüfung dieser offensichtlichen Unklarheit im Freibeweisverfahren in der Tat eröffnet gewesen.
Nein, das Protokoll war eindeutig: Danach verließ eben der einzig anwesende Verteidiger den Sitzungssaal als ein wichtiger Zeuge, der KOK H., vernommen wurde.
Der Senat sah dennoch Anknüpfungspunkte, um dem Protokoll die Beweiskraft zu nehmen und den Weg ins Freibeweisverfahren zu eröffnen. Dies begründete er kurz gefasst wie folgt:
- Das Gericht habe an all den vorhergehenden Sitzungstagen das Gebot der notwendigen Verteidigung beachtet.
- Es sei auszuschließen, dass die drei Berufsrichter, der Staatsanwalt und der Nebenklägervertreter das Fehlen des Verteidigers nicht bemerkt haben, zumal es sich um einen wichtigen Verfahrensabschnitt handelte.
- Die Urkundsbeamtin habe ja den Weggang des Pflichtverteidigers notiert, also registriert. Sie hätte das Fehlen eines sonstigen Verteidigers sofort dem Gericht signalisiert.
- Es gehöre zu den vornehmsten Aufgaben eines Pflichtverteidigers, die notwendige Verteidigung sicherzustellen. Der Senat könne dem Pflichtverteidiger nicht unterstellen, dass er bei Abwesenheit des Wahlverteidigers sich während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung eigenmächtig entfernt habe.
Das ist sicher alles richtig, nimmt aber der Sitzungsniederschrift nicht seinen eindeutig entgegenstehenden Inhalt und belegt auch keine Fälschung der Sitzungsniederschrift (§ 274 Satz 2 StPO).
Der Senat gelangte dann zu dem Ergebnis, dass es nahe liege, dass der Wahlverteidiger Rechtsanwalt B. in der Verhandlung vom 11. April 2000 anwesend war, obwohl er für den Zeitraum, in dem Rechtsanwalt K. sich entfernt hatte, nicht in die Sitzungsniederschrift aufgenommen wurde. Der tatsächliche Verfahrensgang könne dem Protokoll nicht klar entnommen werden. Aus den oben angeführten Gründen enthalte das Protokoll insoweit einen offensichtlichen Mangel, der zum Wegfall der Beweiskraft der Sitzungsniederschrift nach § 274 Satz 1 StPO führe. [15]
Ich frage: Ist demgegenüber die Anerkennung der Beweiskraft eines berichtigten Protokolls nicht der dogmatisch klarere Weg?
Nun zum zweiten der oben genannten Wege, Urteilsaufhebungen trotz des Verbots der Rügeverkümmerung zu vermeiden:
Dies gelang - neben der Lösung mittels Wegfalls der Beweiskraft des Protokolls aufgrund von Widersprüchlichkeiten - bei relativen Revisionsgründen häufig mit der Feststellung, dass das Urteil auf dem Verfahrensverstoß nicht beruhe.
Hierzu eine Äußerung des Strafsenats des Bundesgerichtshofs, der sich in seiner Stellungnahme[16] zur Anfrage des 1. Senats am stringentesten gegen eine Änderung der Rechsprechung zur Rügeverkümmerung aus. Für den konkreten Fall meinte er aber:
"Der Senat hat bereits Bedenken, ob die aufgeworfene Rechtsfrage für die Entscheidung des anfragenden Senats erheblich …. ist …. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beruht das Urteil bei einem einfach gelagerten Sachverhalt nicht auf der unterbliebenen Verlesung des Anklagesatzes (vgl. nur BGH NStZ 1982, 431, 432; 518; 1984, 521; 1986, 39, 40; 374; 1991, 28; 1995, 200, 201; 2000, 214). Dass ein solcher Fall hier gegeben sein kann, liegt auf der Hand (zu einer fast identischen Fallgestaltung wie hier vgl. BGH NJW 1982, 1057). Danach wäre die Verfahrensrüge unbegründet, ohne dass es auf die zur Beantwortung gestellte Frage ankäme."
Der anfragende 1. Strafsenat sah die Beruhensfrage grundsätzlich und im konkreten Fall - bei einem eben nicht einfach gelagerten Fall - anders[17] und daran ist der Große Senat - bei der Beruhensfrage - grundsätzlich gebunden.
Ich frage auch hier: Ist gegenüber einer Strapazierung der Beruhensfrage die Anerkennung der Beweiskraft eines berichtigten Protokolls nicht der dogmatisch klarere Weg?
Der 1. Strafsenat bemerkte hierzu im Vorlagebeschluss an den großen Senat:
"Die oben genannte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Beruhensfrage in diesem Zusammenhang, aber auch zur Unvollständigkeit des Protokolls ….. zeigt im Übrigen einen nicht ganz unbedenklichen Umgang mit dem Grundsatz der relativen Unwirksamkeit einer Protokollberichtigung. Auch dies war Anlass für den Senat, nunmehr eine Änderung der Rechtsprechung zum Geltungsumfang einer Berichtigung der Sitzungsniederschrift vorzuschlagen." [18]
Zum dritten der oben genannten Wege, Urteilsaufhebungen trotz des Verbots der Rügeverkümmerung zu vermeiden:
In weitem Umfang bedeutungslos wurde die Rechtsprechung zur relativen Unwirksamkeit der Protokollberichtigung mit der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Rechtsmissbrauch bei Erhebung und Aufrechterhaltung einer erkannt unwahren Verfahrensrüge mit Beschluss vom 11. August 2006. [19] Die Entscheidung wurde getroffen, als das Anfrageverfahren zur Protokollberichtigung schon lief.
Der Leitsatz lautet:
"1. Ein Beschwerdeführer, der bewusst wahrheitswidrig einen Verfahrensverstoß behauptet und sich zum Beweis auf ein als unrichtig erkanntes Protokoll beruft, handelt rechtsmissbräuchlich; seine Rüge ist unzulässig.
2. Dies gilt auch, wenn er das sichere Wissen von der Unwahrheit erst nachträglich erlangt, die Rüge jedoch gleichwohl weiterverfolgt."
Auch hier frage ich: Ist demgegenüber die Anerkennung der Beweiskraft eines berichtigten Protokolls nicht der bessere Weg, zumal dann der Vorwurf des Rechtsmissbrauchs gegenüber dem Beschwerdeführer im Revisionsverfahren vermieden wird?[20]
Es stellt sich die Frage nach dem Hintergrund all dieser revisionsrechtlichen Bemühungen:
Auch der Große Senat hat in seiner Begründung - unter anderem - auf die ausufernde, konturenlose Rechtsprechung zum Wegfall der Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls verwiesen [21]. Dazu hat Kay Schumann in der JZ 2007 [22] angemerkt:
"Ist die Rechtsprechung des BGH (n.b. erkannt durch ihn selbst) aber ausufernd, konturlos und damit falsch, ist diese Rechtsprechung zu ändern, keine andere."
Das klingt natürlich zunächst absolut überzeugend. Das wäre auch überzeugend, wenn es allein um die Rechtsprechung zum Beweisverlust einer Sitzungsniederschrift ginge. Aber diese war in ihrer Strapazierung – wie auch die beiden anderen oben aufgezeigten Wege - ja auch nur der Versuch ein anderes, dahinter stehendes Ziel zu erreichen. Woraus also folgt das Bemühen, reinen Protokollierungsversehen die Bedeutung eines tatsächlich geschehenen Verfahrensfehlers zu nehmen?
Es geht eben - so meine ich jedenfalls und man sollte das auch klar bekennen - es geht schlicht und einfach darum, in aufwändigen Verfahren Aufhebungen und Neuverhandlungen wegen eines bloßen - zweifelsfreien - Fassungsversehens beim Protokoll möglichst zu vermeiden. Dies natürlich vor dem Hintergrund - ich zitiere den Großen Senat - der "veränderten Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu stützen" [23] .
Und es ist ja auch kaum zu vermitteln, dass ein langes Verfahren, das tausende, in Einzelfällen Millionen an Euro gekostes hat, wegen eines tatsächlich nicht geschehenen Verfahrensfehlers aufgehoben wird. Es ist schon schwer zu vermitteln, dass ein Urteil wegen eines einzigen, in der Sache unbedeutenden Verfahrensfehlers - aber mit der Folge eines absoluten Revisionsgrundes - aufgehoben werden muss; etwa wegen einer für die Beweisführung wenig bedeutsamen Augenscheinseinnahme während der Vernehmung eines Zeugen unter Ausschluss des Angeklagten gemäß § 274 StPO. Das kommt immer wieder vor[24] und ist dann als zwingende Folge des § 338 StPO auch hinzunehmen.[25] Aber wenn gar feststeht, dass es den - vermeintlichen - Verfahrensverstoß gar nicht gab, und die Sitzungsniederschrift dementsprechend berichtigt wurde?
Dem Ziel, in der Sache fehlerhafte - da auf einer realiter unzutreffenden Basis beruhende - Urteilsaufhebungen zu vermeiden, wird mit der neuen Rechtsprechung zur Beachtlichkeit einer Protokollberichtigung auch im Falle einer Rügeverkümmerung dogmatisch treffender Rechnung getragen als mit dem Institut des Rechtsmissbrauch oder einer überdehnten Rechsprechung zum Beweisverlust des Protokolls und zur Beruhensfrage. Demgegenüber ist die Abkehr von der Rechtsprechung zur relativen Unwirksamkeit einer Protokollberichtigung nach Eingang der Revisionsbegründung, die sich auf einen entsprechenden Passus beruft, geradezu der Königsweg.
Denn der Große Senat trägt damit dem Inhalt des § 274 StPO eher Rechnung als die frühere Rechtsprechung. Allerdings hat der Große Senat dies nicht konsequent durchgehalten. Die Eröffnung der revisionsrechtlichen Überprüfung einer Protokollberichtigung im Freibeweisverfahren passt insoweit nicht.
Ich bedaure diese - auch dogmatisch unstimmige - Verkomplizierung des Verfahrens. Der Anfragebeschluss[26] (an die anderen Strafsenate) und der Vorlagebeschluss (an den großen Senat)[27] sahen dies so nicht vor. Denn das Protokoll erstellen, auch bei einer berichtigten Sitzungsniederschrift, die Urkundspersonen. Sie tragen hierfür die alleinige Verantwortung. Nur die berichtigte, endgültige Fassung ist - wie bereits oben ausgeführt[28] - das Protokoll im Sinne von § 274 Satz 1 StPO. Gegen den die wesentlichen Förmlichkeiten betreffenden Inhalt des Protokolls ist nur der Nachweis der Fälschung zulässig (§ 274 Satz 2 StPO).
Das sah natürlich auch der Große Senat. Er stellte daher lapidar fest: "Allerdings kommt dem berichtigten Teil des Protokolls nicht die formelle Beweiskraft des § 274 StPO zu". Und der Große Senat begründet dies schlicht damit: "Nur so ist das Revisionsgericht in der Lage, zum Schutz der Beschwerdeführer die rügevernichtende Protokollberichtigung zu überprüfen"[29]. Nun ja, § 274 Satz 2 StPO sieht das eigentlich anders.
Aber auch damit wird das Freibeweisverfahren bei Protokollberichtigungen, die einer Rüge den Boden entziehen, nicht generell eröffnet. Nur wenn die - im Falle eines Widerspruchs gegen die beabsichtigte Berichtigung erforderliche - Begründung aus Sicht des Revisionsgerichts unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens, das in einer entsprechenden Verfahrensrüge den Inhalt des substanziierten Widerspruch gegen die Absicht der Protokollberichtigung vortragen muss, nicht überzeugt, kann das Revisionsgericht den Sachverhalt im Freibeweisverfahren weiter aufklären[30].
Abschließend zum Teil 1 nochmals zurück zu dem in den Materialien zu dieser Tagung so hervorgehobenen Satz aus der Begründung der Entscheidung des Großen Senats:
"Auch die Revisionsgerichte sind der Wahrheit verpflichtet; wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, muss grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein."
Das klingt zwar im ersten Teil ziemlich pathetisch. Diese Passage des Beschlusses des Gr0ßen Senats ist aber letztlich nur eine Entgegnung [31] auf einen Aspekt der Begründung der früheren Rechsprechung zur Rügeverkümmerung, wonach § 274 StPO nach dem Willen des Gesetz-
gebers der Zweckmäßigkeit Vorrang vor der Wahrheit einräume [32]. Bei Fehlern zum Nachteil des Angeklagten wurde dem ja schon damals nicht gefolgt. [33] Eine weitergehende Bedeutung kommt diesem Satz nicht zu.
Damit komme ich zu den Folgerungen aus der Entscheidung des Großen Senats zur Rügeverkümmerung im Hinblick auf den Umfang der Überprüfung der Tatsachenfeststellung durch das Revisionsgericht.
Wie Sie aus dem Vorgetragenen unschwer folgern können, kann meines Erachtens hierzu aus der Entscheidung des Großen Senats zur Protokollberichtigung kein Honig gesaugt werden. Es bleibt dabei: Die Tatsachenfestestellung und die dazu führende Beweiswürdigung ist Sache der Tatrichter. Die Überprüfung der Beweiswürdigung durch die Revisionsgerichte beschränkt sich auf Rechtsfehler, wie Lücken, Widersprüche, Verstoß gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze usw., soweit sich dies aus den Urteilsgründen ergibt oder durch entsprechende Verfahrensrügen dargetan wird.[34]
Beispielhaft die prägnante - gerade mal eine Seite umfassende - Entscheidung des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre 1982[35] zu § 267 Abs. 2 StPO. Dabei ging es um die Pflicht zur Abhandlung von Umständen, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, wenn entsprechendes in der Hauptverhandlung behauptet worden ist[36].
Der Bundesgerichtshof lehnte es ab, zu überprüfen, ob Entsprechendes in der Hauptverhandlung behauptet wurde:
"Das Revisionsgericht kann … darüber, was die in der Hauptverhandlung vernommenen Personen zur Schuld- oder Rechtsfolgenfrage ausgesagt haben, nicht nur bei der Prüfung der Sachbeschwerde, sondern auch zur Prüfung einer sich auf die Tatsachenfeststellung beziehenden Verfahrensrüge keine eigenen Beweise erheben (BGHSt 17, 351,352; 21, 149, 151; 29, 18, 20). Das würde auf eine (teilweise) Wiederholung der tatrichterlichen Verhandlung hinauslaufen und damit der Ordnung des Revisionsverfahrens widersprechen."
Oder eine der letzen Entscheidungen hierzu, der Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 22. November 2007[37]: Es ging um Feststellungen zum Schadensumfang. Gerügt wurde eine Verletzung des § 261 StPO, Feststellungen hierzu beruhten nicht aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung. Der Senat stellte fest, dass der Beschuldige oder verschiedene andere Zeugen als Quelle in Betracht kommen und kam deshalb zu dem Ergebnis:
"Der geltend gemachte Verfahrensverstoß ist somit nicht bewiesen (vgl. BGHSt 16, 164, 167; 21, 4,10). Eine Rekonstruktion der Beweisaufname ist – wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführt hat – dem Revisionsgericht insoweit verwehrt (vgl. BGHSt 17, 351, 352 f.; 31, 139, 140)."
Unzutreffende Feststellungen insbesondere zu Indiztatsachen mögen in Einzelfällen ein Problem sein oder sich einem Verfahrensbeteiligten so darstellen. Dass die Urteilsgründe nicht sämtliche Ergebnisse der Hauptverhandlung widerspiegeln liegt in der Natur der Sache (vgl. auch § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO). Urteilgründe sollen sich in der Beweiswürdigung in einer logischen Abfolge - nicht dem historischen des Ablauf der Hauptverhandlung folgend oder in Form eines Inhaltprotokolls - auf die Mitteilung der wesentlichen, der tragenden Aspekte beschränken. Dabei kann es zu unzutreffenden Feststellungen kommen, ohne dass dahinter böse Absicht stecken müsste. Ich meine allerdings, dass das Problem überschätzt wird. Die subjektive Interessenlage beeinflusst auch die Wahrnehmung. Abweichungen im späteren Prozessverlauf werden unbewusst ausgeblendet. Nebensächlichkeiten werden überbewertet.
Herdegen erklärte beim ersten Frühjahrsymposion der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht im Deutschen Anwaltsverein 1986:
"Die Rüge, dass das tatrichterliche Urteil nicht das gesamte wesentliche Ergebnis der Hauptverhandlung widerspiegele, muss dem Grundsatz nach anerkannt, aber so in den Formerfordernissen strukturiert werden, dass sie nicht zur unzumutbaren Plage für die Strafrechtspflege wird. Das ist eine schwierige Aufgabe. Es ist jedoch an der Zeit, sich ihr zu stellen."[38]
Das ist nun 22 Jahre her. Die Rüge, dass das tatrichterliche Urteil nicht das gesamte wesentliche Ergebnis der Hauptverhandlung widerspiegele, eröffnet auch heute nicht den Weg zur - partiellen - Rekonstruktion der Hauptverhandlung.
Es bleibt bei den bisherigen Rügemöglichkeiten, insbesondere der Verletzung der §§ 244, 261 usw. StPO. Diese sind, wenn sie gekonnt gehandhabt werden, durchaus scharfe Schwerter. Auch ein Widerspruch zwischen Akten-
inhalt und Tatsachenfeststellungen im Urteil ist in gewissem Umfang durchaus revisibel[39].
Eine generelle Überprüfung der Tatsachengrundlage, einzelner Vernehmungen etwa, ist demgegenüber nach wie vor revisionsrechtlich nicht akzeptiert und meines Erachtens auch nicht möglich. Der bloße Hinweis auf die Ordnung des Revisionsverfahrens trägt dabei allerdings weniger. Was die Ordnung des Revisionsverfahrens beinhaltet, ist eine Frage der Definition oder eine Frage der gesetzlichen Regelung. Beides wäre Änderungen zugänglich. Entscheidend ist vielmehr, dass die Revisionsgerichte - insbesondere der Bundesgerichtshof - mit einer Überprüfung der Tatsachengrundlage hinsichtlich ihrer Kapazität schlicht überfordert wären[40]. Dies würde zu der nach Herdegen eben gerade zu vermeidenden Plage der Strafrechtspflege in der Revisionsinstanz führen. So punktuell, wie manche sich eine Kontrolle vorstellen, geht es eben nicht. Das Revisionsgericht müsste auch bei einer auf eine bestimmte Angabe eines Zeugen abzielende Rüge zumindest diese Zeugenvernehmung insgesamt ansehen - das Aussageverhalten kann sich ja ändern -, es wäre u.U. gezwungen sich stunden- ja tagelang sich mit den Aufzeichnungen der Hauptverhandlung zu befassen. Das Revisionsgericht würde zur Berufungsinstanz.
Der einzige Ausweg scheint mir zu sein: Auch in den Verfahren, die beim Landgericht beginnen, müsste eine zweite Tatsacheninstanz, eine Berufungsinstanz eingerichtet werden, eine beschränkte Berufung, die sich nur mit gerügten Mängeln auch zu Feststellungen befasst.
Einer Illusion darf man sich dabei aber nicht hingeben: Wesentlich mehr Richterinnen und Richter wird es deshalb nicht geben. In der Konsequenz müsste die Einführung einer - beschränkten - Berufung auch bei Verfahren, die beim Landgericht beginnen, zur Straffung des Verfahrens in der 1. Instanz führen. Auch Konsequenzen für das Revisionsverfahren wären möglich. Beides müsste aber kein Schaden sein.
In einem Punkt sollte sich die Rechtsprechung in Richtung Erweiterung der Revisibilität allerdings bewegen: ich meine die Alternativrüge, die Rüge, Beweisstoff sei entweder nicht erhoben oder bei der Entscheidung nicht verwertet worden, es liege also entweder ein Verstoß gegen die Aufklärungspflicht - § 244 Abs. 2 StPO - oder ein Verstoß gegen die Pflicht der Urteilsfindung aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung - § 261 StPO - vor.
Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Alternativrüge stellt sich zwar als uneinheitlich dar. Grundsätzlich wird die Zulässigkeit der Alternativrüge jedoch abgelehnt mit dem Hinweis auf das Verbot der Rekonstruktion der Beweisaufnahme, der Unzulässigkeit der Rügen der Aktenwidrigkeit oder der Nichtausschöpfung eines Beweismittels. Auch könne sich der Widerspruch frühzeitig für alle Verfahrensbeteiligten einleuchtend aufgeklärt haben, er habe daher keine Urteilsrelevanz mehr gehabt und musste dann in den schriftlichen Urteilsgründen auch nicht erörtert werden.
Ich halte die generelle Ablehnung der Alternativrüge für falsch. Ich meine, sie ist dann zulässig, wenn damit eine Widerspruch, d.h. eine Lücke in der Beweiswürdigung, ein Darstellungsmangel ohne Notwendigkeit der Rekonstruktion der Hauptverhandlung dargetan wird. Dazu an anderer Stelle mehr.[41]
[1] GSSt 1/06 (BGHSt 51, 298; NJW 2007, 2419)
[2] Das Verfahren war kompliziert und langwierig, da zu den Auswirkungen von Schlägen mit einem Bierkrug auf einen menschlichen Kopf umfangreiche Gutachten eingeholt wurden.
[3] Die Urkundsbeamtin hatte die Verlesung in ihren vorläufigen stenographischen Aufzeichnungen noch vermerkt. Der Staatsanwalt erinnerte sich, dass die Verlesung der rechtlichen Bewertung des Tatgeschehens als versuchter Totschlag Unmutsäußerungen im Publikum ausgelöst hat. Der Verteidiger nahm wie folgt Stellung: "An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt aber nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses Rückschlusses erscheint es mir aber durchaus möglich, dass die Erinnerung der Urkundspersonen zutreffend ist."
[4] Übertrieben ist deshalb auch die Formulierung von Kay Schumann in der JZ von einem Erdbeben im Revisionsrecht mit seinem Epizentrum in Karlsruhe, Schumann, Protokollberichtigung, freie Beweiswürdigung und formelle Wahrheit im Strafverfahren, JZ 2007, 927, 928.
[5] Bzw. bei gewichtigen Staatsschutzsachen oder Außenwirtschaftsvergehen beim Oberlandesgericht.
[6] Materialienheft 32, Seite 117
[7] vgl. dazu G. Schäfer BGH-Festschrift 710 ff
[8] Die Distanzierung einer der Protokollpersonen - oder beider - vom Inhalt Sitzungsniederschrift, lässt zwar ebenfalls die Beweiskraft entfallen. Diese allein (ohne Berichtigung) kann aber einer bereits erhobenen Verfahrensrüge aber - weiterhin - nicht die Grundlage entziehen (vgl. BGH GSSt 1/06 Rn. 22; Gollwitzer in Löwe-Rosenberg StPO, 25. Aufl., § 274 m.w.N.)
[9] Vgl. BGH GSSt 1/06 Rn. 20 ff
[10] Zwar wirkt die Beweiskraft des § 274 StPO nur in diesem konkreten Strafverfahren für das Gericht höherer Instanz (BGHSt 26, 281,282). Die Sitzungsniederschrift ist keine öffentliche Urkunde mit Beweiskraft für und gegen jedermann (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. § 274 Rn. 7 m.w.N). Also kann etwa die Vereidigung im Strafverfahren wegen Meineids auch durch Zeugen bewiesen werden, auch wenn das Sitzungsprotokoll keine Vereidigung ausweist.
[11] Vgl BGH GSSt 1/06 Rn. 21 m.w.N..
[12] zum Verfahren vgl. BGH GSSt 1/06 Rn. 62,63
[13] So bezieht sich die Beweiskraft des zivilrechtlichen Protokolls gemäß § 165 ZPO (im Wortlaut identisch mit § 274 StPO) ebenso auf das gemäß § 164 ZPO berichtigte Protokoll (vgl. MünchkommZPO-Peters, 2. Aufl., § 165 Rn. 7; Wiecorek/Schütze/Smid ZPO, 3. Aufl., § 165 Rn. 7; Musielik/Stadler ZPO, 5. Aufl., § 165 Rn. 1; BAG NJW 1965, 931,932: "…. Ist das Protokoll nicht in seiner ursprünglichen maßgebend, sondern in seiner berichtigten Fassung, wie sich aus Sinn und Zweck der Berichtigung ohne weiteres ergibt.")
[14] 2 StR 504/00 = NJW 2001, 3794.
[15] Die Begründung hat folgenden Wortlaut: "Der Tatrichter hat ausweislich des Gesamtprotokolls an allen anderen Verhandlungstagen das Gebot der notwendigen Verteidigung beachtet. Dafür, dass dies auch während der gesamten Vernehmung des KOK H. geschehen ist, sprechen folgende Umstände: Es gehört zu den vornehmsten Aufgaben eines Pflichtverteidigers, die notwendige Verteidigung sicherzustellen. Der Senat kann dem Pflichtverteidiger nicht unterstellen, dass er bei Abwesenheit des Wahlverteidigers sich während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung eigenmächtig entfernt hätte. Ferner konnte es bei dem überschaubaren Verfahren der mit drei Berufsrichtern besetzten Kammer nicht entgehen, wenn einer von zwei Angeklagten zeitweise nicht verteidigt war. Außerdem hatte die Urkundsbeamtin das Verlassen des Sitzungssaals durch den Pflichtverteidiger in die Sitzungsniederschrift aufgenommen, so dass ihr die Abwesenheit dieses Verteidigers bewusst war. Es lag daher nahe, dass sie die Jugendkammer davon informiert hätte, sollte kein weiterer Verteidiger zugegen gewesen sein. Es handelte sich ferner um zwei augenfällige Vorgänge, einmal um den Vorgang des Entfernens durch den Pflichtverteidiger und sodann um den Vorgang des erneuten Erscheinens. Diese Vorgänge standen auch unter der Beobachtung der beiden Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft und der Nebenklägervertreterin. Das Interesse sämtlicher vorbenannter Verfahrensbeteiligter an der prozessordnungsgemäßen Abwicklung des Verfahrens, das sich schon im Stadium des zwölften Verhandlungstages befand, gab Anlass zu besonderer Wachsamkeit und Sorgfalt. Es ist auszuschließen, dass allen diesen Verfahrensbeteiligten entgangen sein könnte, dass der Beschwerdeführer nicht verteidigt war, wie das Protokoll es aussagt. Außerdem handelte es sich bei der Vernehmung des KOK H. um ein Kernstück der Beweisaufnahme. ....
Da die Anwesenheit eines zweiten Verteidigers nicht zu den wesentlichen in das Protokoll aufzunehmenden Förmlichkeiten im Sinne von §§ 273 Abs. 1, 274 Satz 1 StPO gehört (vgl. BGHSt 24, 280, 281), liegt es nahe, dass der Wahlverteidiger Rechtsanwalt B. in der Verhandlung vom 11. April 2000 anwesend war, obwohl er für den Zeitraum, in dem Rechtsanwalt K. sich entfernt hatte, nicht in die Sitzungsniederschrift aufgenommen wurde. Der tatsächliche Verfahrensgang kann dem Protokoll nicht klar entnommen werden. Aus den oben angeführten Gründen enthält das Protokoll insoweit einen offensichtlichen Mangel, der zum Wegfall der Beweiskraft der Sitzungsniederschrift nach § 274 Satz 1 StPO führt."
[16] 4 ARs 3/06 = BGH NStZ-RR 2006, 273.
[17] Vgl. Vorlagebeschluss vom 23. August 2006 - 1 StR 466/05 - (NJW 2006, 3581), Rn. 45 bis 49.
[18] Vgl. Vorlagebeschluss vom 23. August 2006 - 1 StR 466/05 - (NJW 2006, 3581), Rn. 50.
[20] Die Rechtsprechung zum Rechtsmissbrauch kann auch weiterhin dann zum Tragen kommen, wenn eine Berichtigung wegen fehlender Erinnerung einer der Urkundspersonen nicht möglich ist, der Fehler im Protokoll aber aus anderen Gründen erwiesen ist.
[22] JZ 2007, 927, 934.
[23] Vgl BGH GSSt 1/06 Rn. 49 bis 54.
[24] Vgl. z.B. BGH NStZ 2003, 218 (Fall Timoschenko)
[25] Das Absehen von einer Urteilsaufhebung bei Vorliegen eines absoluten Revisionsgrundes, wenn ausnahmsweise das Beruhen des Urteils auf dem Verfahrensverstoß "denkgesetzlich ausgeschlossen" ist (vgl. Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., § 338 Rn. 2 m.w.N.) halte ich für bedenklich.
[26] 1 StR 466/06 vom 13. Januar 2006 = NStZ-RR 2006, 112.
[27] 1 StR 466/06 vom 23. August 2006 = NJW 2006, 3582.
[28] Bei Fn. 10
[32] BGHSt 2, 125,128; 26, 281, 283.
[33] Vgl. etwa BGH NStZ 1988, 85 (Laut Protokoll Belehrung des Angeklagten vor der ersten Sacheinlassung. Tatsächlich erfolgte sie erst später, wie der Vorsitzende nach entsprechender Verfahrensrüge bestätigte.); oder BGHSt 4, 364 (Die Abwesenheit des Angeklagten war nicht protokolliert).
[34] Auch die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) oder die Inbegriffsrüge (§ 261 StPO) zeigen entsprechende Mängel auf.
[36] § 267 Abs. 2 StPO lautet: "Waren in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände behauptet worden, welche die Strafbarkeit ausschließen, vermindern oder erhöhen, so müssen die Urteilsgründe sich darüber aussprechen, ob diese Umstände für festgestellt oder für nicht festgestellt erachtet wurden."
[37] BGH 4 StR 397/07 = HRRS 2008 Nr. 114.
[38] Zitiert nach: G. Schäfer, Freie Beweiswürdigung und revisionsrechtliche Kontrolle, StV 1995, 147.
[39] Ein Zeuge hat laut polizeilicher Vernehmungsniederschrift während des Ermittlungsverfahrens in einem entscheidenden Punkt anders aussagte, als er dies in der Hauptverhandlung nach den Urteilsfeststellungen tat. Wird dies in der Revisionsbegründung vorgetragen, dann sind zunächst folgende Antworten erwarten:
- unzulässige Rüge der Aktenwidrigkeit. Damit ist gemeint, was in den Akten steht ist unerheblich. Entscheidend ist das Ergebnis der Hauptverhandlung.
- Der Widerspruch kann sich während der Hauptverhandlung für alle eindeutig erklärt haben - etwa ein Schreibversehen bei einer Datumsangabe im polizeilichen Protokoll -. Dann bedarf das in den Urteilsgründen keiner Erwähnung mehr.
- Ob sich der Widerspruch für alle aufgeklärt hat könnte nur mit der Rekonstruktion der Hauptverhandlung geklärt werden. Dies ist dem Revisionsgericht untersagt.
Das sind alles revisionsrechtlich für bestimmte Konstellationen mögliche, dann auch richtige Reaktionen. Aber: Wenn es sich um einen entscheidenden Zeugen in einem gewichtigen Punkt handelt – etwa mit Relevanz zur behaupteten Konstanz in der Aussage der Geschädigten eines Sexualdelikts -, dann möchte das Revisionsgericht schon lesen, ob und ggf. wie sich der Widerspruch aufgelöst hat, oder wenn nicht, warum dies den Wert der Aussage nicht beeinträchtigt. Fehlt entsprechendes in der Beweiswürdigung, dann ist das bei tragenden Indizien ein Darstellungsmangel, eine Lücke. Die Grundlagen dazu müssen mit einer Verfahrenrüge vorgetragen werden. Das hat dann auch Erfolg. Allerdings geht es bei den meisten Revisionen, die solches rügen, eher um Nebenkriegschauplätze. Und dann muss eben nicht alles in den Urteilsgründen abgehandelt werden.
[40] Und zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung darf die Richter- bzw. Senatszahl in der obersten Revisionsinstanz auch nicht zu groß sein.
[41] In Festschrift für Gunter Widmaier, die im Oktober 2008 erscheinen wird.