Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
April 2008
9. Jahrgang
PDF-Download
Ein Rechtssatz des Inhalts, dass der Tatrichter in Kapitalstrafsachen aus Gründen der Aufklärungspflicht stets gehalten ist, einen Sachverständigen mit der Erstattung eines Gutachtens zur Schuldfähigkeit zu betrauen, existiert nicht. Das Revisionsgericht kann vielmehr regelmäßig davon ausgehen, dass der Tatrichter über die notwendige Sachkunde verfügt, um zu beurteilen, ob mit Blick auf das Tatbild und die Person des Angeklagten die Hinzuziehung eines Schuldfähigkeitsgutachters geboten ist. (BGHR)
1. Bei einer Vielzahl gleichartiger Wirtschaftsstraftaten genügt der Anklagesatz regelmäßig dann sowohl der Umgrenzungs- als auch der Informationsfunktion, wenn über die Angabe der Zahl der Taten, des Gesamtschadens und des gesamten Tatzeitraums hinaus die gleichartigen Taten gruppiert bezeichnet werden und wenn die Einzelheiten im wesentlichen Ermittlungsergebnis detailliert (etwa tabellarisch) aufgelistet werden. (BGHR)
2. Von § 243 Abs. 3 StPO ist keine Doppelverlesung gefordert, wenn sich Details der Anklagesätze gegen zwei Angeklagte überschneiden (vgl. schon BGH NJW 2006, 3582 Rdn. 11, 45 ff. m.w.N.). (Bearbeiter)
3. § 111i Abs. 2 StPO ist gemäß § 2 Abs. 5 i.V.m. Abs. 3 StGB nicht auf bereits zuvor beendigte Taten anzuwenden. Der Auffangrechtserwerb nach § 111i Abs. 5 StPO n.F. hat trotz der systematischen Verortung in der Strafprozessordnung materiell-rechtlichen Charakter; die Feststellungsentscheidung nach § 111i Abs. 2 StPO n.F. stellt die Grundentscheidung für den Auffangrechtserwerb dar und kommt somit einer aufschiebend bedingten Verfallsanordnung gleich. (Bearbeiter)
1. Ein etwaiger Verstoß gegen § 216 Abs. 2 Satz 2 StPO berührt die Wirksamkeit der Ladung zur Hauptverhandlung nicht. Deshalb besteht auch kein Anspruch auf Aussetzung der Hauptverhandlung nach § 217 Abs. 2 StPO. (BGHR)
2. Die Befragung nach § 216 Abs. 2 Satz 2 StPO ist entbehrlich, wenn der Angeklagte seinen Verteidiger nach § 145a Abs. 2 StPO zur Empfangnahme von Ladungen besonders bevollmächtigt hat. (Bearbeiter)
Ist ein Strafausspruch aufzuheben, weil das Gericht noch nach der aufgegebenen Strafzumessungslösung kompensiert hat, ist der Tatrichter durch § 358 Abs. 2 StPO nicht
gehindert, höhere Strafen als die bisher erkannten zu verhängen, die jedoch die im angefochtenen Urteil als an sich verwirkt und ohne Kompensation als schuldangemessen festgesetzten Einzelstrafen nicht übersteigen dürften.
Die Auffassung des 3. Strafsenats (Beschluss vom 18. Januar 2008 - 3 StR 388/07), dass bei einer Aufhebung im Strafausspruch wegen der Anwendung der früheren Strafzumessungslösung der neue Tatrichter durch das Verschlechterungsverbot (§ 358 Abs. 2 StPO) nicht gehindert sei, höhere Strafen als die bisher erkannten zu verhängen, ist nach Ansicht des Senats nicht bedenkenfrei.
1. Das Tatgericht muss einen Beweisantrag erschöpfend würdigen und seine Beweisrichtung nicht sinnfremd reduzieren.
2. Der Ablehnungsgrund der völligen Ungeeignetheit setzt voraus, dass das Gericht ohne Rücksicht auf das bisher gewonnene Beweisergebnis feststellen kann, dass sich mit dem angebotenen Beweismittel das in dem Beweisantrag in Aussicht gestellte Ergebnis nach sicherer Lebenserfahrung nicht erzielen lässt (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 13 und 15).
3. Allein das Gebot der beschleunigten Bearbeitung von Haftsachen vermag es nicht zu rechtfertigen, dem Angeklagten bei Erkrankung der Pflichtverteidigerin ohne sein Einverständnis einen zweiten, nicht eingearbeiteten Pflichtverteidiger zu bestellen, um so mit einem besonders wichtigen Teil der Beweisaufnahme – der Vernehmung des psychiatrischen Sachverständigen – fortfahren zu können.
1. Auch bei der Rüge von Rechtsverletzungen im Zusammenhang mit informellen Absprachen gilt: Unschlüssiger oder widersprüchlicher Tatsachenvortrag kann nicht Grundlage einer erfolgreichen Verfahrensrüge sein. Ist der Tatsachenvortrag der Revision dagegen schlüssig und widerspruchsfrei, hat das Revisionsgericht zu prüfen, ob die behaupteten Tatsachen erwiesen sind. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Beweiskraft des Sitzungsprotokolls (§ 274 StPO) eingreift oder wenn in hiervon nicht umfassten Fällen das Vorbringen von sonstigem Akteninhalt bestätigt wird. In Fällen, in denen der Tatsachenvortrag vom Akteninhalt weder bestätigt noch widerlegt wird, wird häufig ins Gewicht fallen, ob dieser Vortrag unwidersprochen geblieben ist (vgl. BGH StV 2000, 652, 653).
2. Liegen Erklärungen der Verteidigung einerseits und jedenfalls nicht weniger schlüssige und widerspruchsfreie Erklärungen von Staatsanwaltschaft und Gericht andererseits vor, die inhaltlich miteinander unvereinbar sind, fehlt regelmäßig eine ausreichend sichere Grundlage für eine erfolgreiche Verfahrensrüge (BGH NStZ 1994, 196), soweit nicht Gründe des Einzelfalls ausnahmsweise eine andere Beurteilung nahe legen.
1. Liegen zu identischen Punkten untereinander unvereinbare Erklärungen der Verteidigung einerseits und von Gericht und Staatsanwaltschaft andererseits vor, so fehlt regelmäßig eine hinreichend sichere Grundlage für eine erfolgreiche Verfahrensrüge (vgl. BGH NStZ 1994, 196).
2. Die tatsächliche Richtigkeit von Behauptungen, aus denen sich ein verfahrensrechtlicher Verstoß ergeben soll, muss erwiesen sein und kann nicht lediglich nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“ unterstellt werden (BGH aaO m.w.N.).
An der gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlichen bestimmten Behauptung eines Verfahrensmangels fehlt es (auch) dann, wenn der Verteidiger die Verantwortung für die für einen Verfahrensmangel gegebene Begründung nicht übernimmt (vgl. BGHSt 25, 272, 274).
Durch § 22 Nr. 5 StPO ist ein Richter von der Ausübung des Richteramtes kraft Gesetzes ausgeschlossen, wenn er in der Sache als Zeuge oder Sachverständiger vernommen worden ist. Durch diese Regelung soll mit Rücksicht auf das Ansehen der Strafrechtspflege bereits der Anschein eines Verdachts der Parteilichkeit vermieden werden. Es ist daher ohne Bedeutung, wenn eine zeugenschaftliche Vernehmung des Richters in einem anderen Verfahren erfolgt ist: Auch in einem solchen Fall kann der Anschein einer Voreingenommenheit allgemein gegeben sein. Der Bundesgerichtshof hat daher bereits mehrfach entschieden, dass Sachgleichheit nicht Verfahrensidentität bedeutet und auch dann vorliegt, wenn ein Richter in einem anderen Verfahren als Zeuge zu demselben Geschehen vernommen worden ist, das er für die Beurteilung des ihm vorliegenden Falles in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht bewerten muss (vgl. BGHSt 31, 358, 359; BGH NStZ 2006, 113, 114; StraFo 2007, 415).
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Beruhen eines Urteils auf dem Fehlen einer ausdrücklichen Quantifizierung der Kompensation einer rechtsstaatswidrigen Verfahrensverzögerung nur in Ausnahmefällen ausgeschlossen werden (vgl. BGH StraFo 2007, 35).
Feststellungen zur Person des Angeklagten sind zwar in erster Linie bei verurteilenden Erkenntnissen notwendig. Aber auch bei freisprechenden Urteilen ist der Tatrichter aus sachlich-rechtlichen Gründen zumindest dann zu solchen Feststellungen verpflichtet, wenn diese zur Überprüfung des Freispruchs durch das Revisionsgericht auf Rechtsfehler hin notwendig sind (vgl. BGH NStZ 2000, 91).
Um eine bestimmte Anzahl von Straftaten einer in allem gleichförmig verlaufenden Serie sexueller Missbrauchshandlungen an Kindern festzustellen, bedarf es zwar nicht stets einer Konkretisierung nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensablauf, der Richter muss aber darlegen, aus welchen Gründen er die Überzeugung gerade von dieser Mindestzahl von Straftaten gewonnen hat (BGHSt 42, 107, 109 f.; BGH NStZ 1998, 208; StV 2002, 523).
1. Zwar ist es dem Tatrichter grundsätzlich nicht verwehrt, Indiztatsachen als für die Entscheidung bedeutungslos zu betrachten, wenn er aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will.
2. Jedoch muss der Beschluss, mit dem ein Beweisantrag wegen Bedeutungslosigkeit der behaupteten Tatsachen abgelehnt wird, die Erwägungen anführen, aus denen der Tatrichter ihnen keine Bedeutung beimisst. Wird die Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Umständen gefolgert, so müssen die Tatsachen angegeben werden, aus denen sich ergibt, warum die unter Beweis gestellte Tatsache, selbst wenn sie erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht beeinflussen könnte.
3. Die Begründung der Ablehnung des Beweisantrages muss grundsätzlich denselben Anforderungen genügen, die an die Würdigung von durch die Beweisaufnahme gewonnenen Indiztatsachen in den Urteilsgründen gestellt werden. Die Ablehnung des Beweisantrags darf nicht dazu führen, dass aufklärbare, zugunsten eines Angeklagten sprechende Umstände der gebotenen Gesamtabwägung im Rahmen der Beweiswürdigung entzogen werden.
Die Vorschriften der § 247a Satz 2 und § 336 Satz 2 StPO stehen der Zulässigkeit der Verfahrensrüge nicht entgegen, wenn geltend gemacht wird, dass kein Beschluss zur audiovisuellen Zeugenvernehmung gefasst worden ist (vgl. BGHSt 45, 188, 197; BGHR StGB § 46 Abs. 3 Sexualdelikte 4).
In einem solchen Fall, in dem Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass der Tatrichter alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat. Zudem ist in besonderem Maße eine Gesamtwürdigung aller Indizien geboten (vgl. BGH NStZ-RR 2002, 146; StV 2000, 599, jew. m.w.N.). Dies gilt umso mehr, wenn ein Mitangeklagter nach seiner Aussage zur Sache erklärt, keine weiteren Fragen beantworten zu wollen (vgl. BGH NStZ 2004, 691; Beschluss vom 7. Februar 2001 – 3 StR 570/00).