HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2008
9. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

196. BGH 4 StR 449/07 – Beschluss vom 29. Januar 2008 (LG Stralsund)

BGHR; keine unmittelbare Verwertung einer Aufzeichnung über die frühere Vernehmung bei Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts und Verzicht auf ein Verwertungsverbot durch den Zeugen (Gestattung der Verwertung einer früheren Aussage; Unmittelbarkeitsgrundsatz; BGHSt 45, 203; Konfrontationsrecht; Vorhalt; Beruhen; mittelbare Verwertung über den Sachverständigenbeweis).

Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK; § 52 StPO; § 250 StPO; § 252 StPO; § 255a Abs. 1 StPO; § 337 StPO

1. Die Geltendmachung des Zeugnisverweigerungsrechts verbunden mit der Erklärung, die Verwertung der bei einer früheren Vernehmung gemachten Aussage zu ge-

statten (BGHSt 45, 203), schränkt den Unmittelbarkeitsgrundsatz nicht ein und erlaubt deshalb grundsätzlich nicht die unmittelbare Verwertung einer Aufzeichnung über die frühere Vernehmung. (BGHR)

2. Die Vorführung von Video- und Tonbandaufzeichnungen als Strengbeweismittel ist nur insoweit zulässig, wie dies bei der Verlesung eines Vernehmungsprotokolls der Fall wäre. Auch eine mittelbare Verwertung über den Sachverständigenbeweis ist unzulässig. (Bearbeiter)

3. Ein Gericht darf Video- und Tonbandaufzeichnungen früherer Vernehmungen zum Zwecke des Vorhalts an die Verhörspersonen abspielen (vgl. BGHSt 1, 4, 8; 11, 338; 14, 310 f). (Bearbeiter)

4. § 251 Abs. 1 Nr. 2 StPO greift bei der Ausübung von Zeugnis- oder Auskunftsverweigerungsrechten nicht (vgl. BGH NJW 2007, 2195 für schriftliche Erklärungen eines Zeugen, der die Aussage nach § 55 StPO vollständig verweigert hatte). (Bearbeiter)


Entscheidung

180. BGH 3 StR 318/07 - Urteil vom 20. Dezember 2007 (LG Hamburg)

BGHSt; Belehrung über das Recht auf konsularischen Beistand (subjektives Recht des Beschuldigten; Verpflichtung jedes zuständigen Strafverfolgungsorgans; Recht auf ein faires Verfahren); Widerspruchslösung (Verwertungsverbot; anderweitige Einschränkung der Verteidigungsrechte); Kompensation eines Verstoßes gegen die Belehrungspflicht (Vollstreckungslösung); redaktioneller Hinweis.

Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 WÜK; Art. 13 EMRK; Art. 6 EMRK; § 136 StPO; § 337 StPO

1. Zu den Folgen einer verspätet erteilten Belehrung eines ausländischen Beschuldigten über sein Recht auf Unterrichtung der konsularischen Vertretung seines Heimatstaates (in Abgrenzung zu BGHSt [1 StR 273/07 und 5 StR 116/01 und 5 StR 475/02]). (BGHSt)

2. Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 1 WÜK verpflichtet die zuständigen Behörden der Bundesrepublik dazu, die konsularische Vertretung des Entsendestaates unverzüglich zu unterrichten, wenn im Konsularbezirk ein Angehöriger dieses Staates festgenommen, in Straf- oder Untersuchungshaft genommen oder ihm anderweitig die Freiheit entzogen ist und der Betroffene dies verlangt. Die Norm schafft damit ein subjektives Recht des einzelnen Staatsangehörigen, über das er nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 WÜK von den zuständigen Behörden zu unterrichten ist. (Bearbeiter)

3. Diese Belehrungspflicht entsteht in dem Augenblick, in welchem dem ausländischen Betroffenen die Freiheit entzogen worden ist, sofern die zuständige Behörde Kenntnis von dessen Staatsangehörigkeit hat oder sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass es sich bei dem Betroffenen wahrscheinlich um einen Ausländer handelt. Zur Belehrung ist daher nicht erst der Richter verpflichtet, sondern jedes zuständige Strafverfolgungsorgan des Empfangsstaates einschließlich eines festnehmenden Polizeibeamten. (Bearbeiter)

4. Sowohl die Pflicht zur Belehrung als auch ein etwaiger Verstoß hiergegen sind unabhängig davon gegeben, ob der Betroffene die Hilfe seines Staates in Anspruch nehmen will. Die Verletzung der Belehrungspflicht hat jedoch gleichwohl kein Beweisverwertungsverbot zur Folge. (Bearbeiter)

5. Der Senat lässt offen, ob der – nicht tragend geäußerten – Auffassung des 1. Strafsenats des BGH (1 StR 273/07, Beschluss vom 11. September 2007) zu folgen wäre, wonach in Fällen einer nachgeholten Belehrung die zulässige Geltendmachung eines Verstoßes gegen Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 WÜK im Revisionsverfahren von einem „spezifizierter Widerspruch“ gegen die Verwertung vor dem in § 257 StPO bestimmten Zeitpunkt abhängig sei. Für die Zulässigkeit der Rüge, das Urteil beruhe unabhängig von einem derartigen Verwertungsverbot auf dem Unterlassen der Belehrung, weil der Angeklagte hierdurch in sonstiger Weise in seinen Verteidigungsrechten eingeschränkt gewesen sei, ist ein derartiger Widerspruch jedenfalls nicht Voraussetzung. (Bearbeiter)

6. In Fällen, in denen die Belehrung nach Art. 36 Abs. 1 Buchst. b Satz 3 WÜK völlig unterblieben ist, ist diesem Verstoß nicht im Wege einer Kompensation dadurch Rechnung zu tragen, dass ein Teil der gegen den Angeklagten verhängten Strafe für vollstreckt erklärt wird. (nicht tragend) (Bearbeiter)


Entscheidung

166. BGH 2 StR 485/06 - Beschluss vom 21. Dezember 2007 (LG Aachen)

BGHSt; Einstellung des Verfahrens aufgrund täuschungsbedingten Tatsachenirrtums (Wiederaufnahme durch Beschluss; Zurechnung von vertrauensschutzentziehenden Handlungen Dritter zum Angeklagten); Durchbrechung der Rechtskraft (Vertrauensschutz; faires Verfahren).

Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; § 206a StPO; § 362 StPO

1. Ein Beschluss, durch den das Strafverfahren gemäß § 206a Abs. 1 StPO aufgrund irrtümlicher Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen eines Verfahrenshindernisses eingestellt wurde, ist jedenfalls dann, wenn der Irrtum durch ein täuschendes Verhalten des Beschuldigten selbst oder durch ein diesem zuzurechnendes Täuschungsverhalten eines Dritten verursacht worden ist, durch Beschluss des einstellenden Gerichts aufzuheben. Das Verfahren ist in diesem Fall in dem Verfahrensstand fortzusetzen, in welchem es sich vor der Einstellungsentscheidung befand (Fortführung von BGHSt 45, 108). (BGHSt)

2. Zur Verfahrensfortsetzung bedarf es in diesem Fall weder einer neuen Anklage noch eines erneuten Eröffnungsbeschlusses. (Bearbeiter)


Entscheidung

202. BGH 4 StR 502/07 – Urteil vom 7. Februar 2008 (LG Halle)

BGHR; keine Verlängerung der Rückgewinnungshilfe und kein Auffangrechtserwerb des Staates nach § 111 i Abs. 2, 3 und 5 StPO bei Altfällen (Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensab-

schöpfung bei Straftaten vom 24. Oktober 2006); Ladung und Vernehmung eines Zeugen trotz Sperrerklärung (Aufklärungspflicht); Aufklärungsrüge (weiteres Schriftsachverständigengutachten); Beweiswürdigung und Konfrontationsrecht (Zeuge vom Hörensagen); Wahrunterstellung.

§ 111 i Abs. 2, 3 und 5 StPO; § 2 Abs. 3 und 5 StGB; § 73 Abs. 1 Satz 2 StGB; Art. 103 Abs. 2 GG; § 244 Abs. 2, Abs. 3 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK

1. Die Vorschriften zur Verlängerung der Rückgewinnungshilfe und zum Auffangrechtserwerb des Staates nach § 111 i Abs. 2, 3 und 5 StPO in der Fassung des Gesetzes zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten vom 24. Oktober 2006 sind auf Altfälle nicht anwendbar. (BGHR)

2. Das Rückwirkungsverbot gilt auch für den Verfall. (Bearbeiter)

3. Der Ladung und Vernehmung eines Zeugen steht eine Sperrerklärung grundsätzlich nicht entgegen. Vielmehr kann in Fällen, in denen sich aus den Akten oder sonstigen Erkenntnisquellen Hinweise auf die Identität des Zeugen ergeben, es die Aufklärungspflicht erfordern, dass das Gericht von Amts wegen Bemühungen entfaltet, den Namen eines Zeugen festzustellen und die Vernehmung in der Hauptverhandlung zu ermöglichen (BGHSt 39, 141, 144; BGH NStZ 1993, 248). (Bearbeiter)


Entscheidung

230. BGH 5 StR 390/07 – Beschluss vom 7. Januar 2008 (LG Berlin)

Unzulässigkeit von Verfahrensrügen (Beweisantrag auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens); Abgrenzung von Beweisermittlungsantrag und Beweisantrag und Präzisierungspflicht des Verteidigers bei Beweisanträgen (Verwirkung; faires Verfahren; Stellung des Verteidigers; Recht auf effektive Verteidigung).

Art. 6 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 3 StPO

Einzelfall der „Heilung“ einer rechtsfehlerhaften Nichtbescheidung eines Beweisantrages durch das Gericht (hier: Einstufung als „Beweisantrag ins Blaue hinein“) über den Rekurs auf eine mangelnde Antragspräzisierung durch den Verteidiger.


Entscheidung

178. BGH 3 StR 404/07 - Beschluss vom 4. Dezember 2007 (LG Wuppertal)

Ablehnung wiederholter Anträge auf Zwischenentscheidungen (Begründung); Zuordnung der Stimmen abgehörter Telefongespräche (Sachverständigengutachten; eigene Sachkunde).

§ 34 StPO; § 244 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO

1. Hat der Tatrichter nach dem Anhören einer Vielzahl abgehörter Telefongespräche in der Hauptverhandlung selbst einen hinreichenden Eindruck von den Stimmen der Beteiligten, insbesondere des Angeklagten, gewonnen, so kann er die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Zuordnung der Stimmen wegen eigener Sachkunde gemäß § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO rechtsfehlerfrei ablehnen.

2. Hat das Gericht eine Zwischenentscheidung getroffen, etwa einen Beweisantrag abgelehnt oder einen Aussetzungsantrag zurückgewiesen, so ist es nicht gehalten, auf eine Wiederholung des Antrages oder eine Gegenvorstellung, die zur Abänderung der Entscheidung keinen Anlass geben, inhaltlich näher einzugehen. Werden keine neuen tatsächliche oder rechtliche Aspekte vorgebracht, so genügt vielmehr eine Bezugnahme auf den ersten Ablehnungsbeschluss verbunden mit dem Hinweis, dass sich an der dortigen Beurteilung nichts geändert habe. Wird dagegen ein neuer Gesichtspunkt angesprochen, so ist es ausreichend, wenn kurz dargelegt wird, warum auch dieser zu einer abweichenden Beurteilung keinen Anlass gibt (nicht tragend).