HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

März 2008
9. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

in der März-Ausgabe der HRRS wird insbesondere die wichtige Entscheidung der Großen Kammer des EGMR Ramanauskas v. Litauen zur Konventionswidrigkeit rechtswidriger Tatprovokationen publiziert. Ebenso enthält die Ausgabe bereits die grundlegende Entscheidung des BVerfG zur Verfassungswidrigkeit der Ländergesetze zur automatisierten Erfassung von KFZ-Kennzeichen und die Entscheidung des BVerfG zur Verfassungsgemäßheit des Verbots des Beischlafs zwischen Geschwistern.

Im Publikationsteil veröffentlichen wir einen grundlegenden Aufsatz von Graumann, der den verfassungsmäßigen Grundsatz des Vertrauensschutzes gegenüber den derzeitigen defizitären Gesetzgebungsvorschlägen zur Absprache im Strafverfahren überzeugend in Erinnerung ruft. Sowada widmet sich in einem Besprechungsaufsatz der jüngsten Grundsatzentscheidung des 4. Strafsenats zu § 316a StGB, die den Angriff auf einen "Noch-Nicht-Kraftfahrer" betrifft. Zwei Rezensionen sind in der Rubrik Schrifttum aufgenommen.

Unter den insgesamt 100 publizierten Entscheidungen befinden sich zahlreiche für BGHR und BGHSt vorgesehene Entscheidungen des BGH.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede, Schriftleiter


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

259. BVerfG 1 BvR 2074/05 (Erster Senat) – Urteil vom 11. März 2008

Automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen; informationelle Selbstbestimmung (Schutzbereichseröffnung bei einem „Trefferfall“; Eingriff; Vorbehalt des Gesetzes; Bestimmtheit; Erfordernis ausdrücklicher Zweckbestimmung; Normenklarheit); verfassungskonforme Auslegung (Grenzen); Verhältnismäßigkeit; gemischte Dateien (präventive Zwecke; repressive Zwecke).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 8 EMRK; § 14 Abs. 5 HSOG; § 184 Abs. 5 LVwG SH; § 483 Abs. 3 StPO

1. Eine automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen zwecks Abgleichs mit dem Fahndungsbestand greift dann, wenn der Abgleich nicht unverzüglich erfolgt und das Kennzeichen nicht ohne weitere Auswertung sofort und spurenlos gelöscht wird, in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) ein. (BVerfG)

2. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ermächtigungsgrundlage richten sich nach dem Gewicht der Beeinträchtigung, das insbesondere von der Art der erfassten Informationen, dem Anlass und den Umständen ihrer Erhebung, dem betroffenen Personenkreis und der Art der Verwertung der Daten beeinflusst wird. (BVerfG)

3. Die bloße Benennung des Zwecks, das Kraftfahrzeugkennzeichen mit einem gesetzlich nicht näher definierten Fahndungsbestand abzugleichen, genügt den Anforder-

ungen an die Normenbestimmtheit nicht. (BVerfG)

4. Die automatisierte Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen darf nicht anlasslos erfolgen oder flächendeckend durchgeführt werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist im Übrigen nicht gewahrt, wenn die gesetzliche Ermächtigung die automatisierte Erfassung und Auswertung von Kraftfahrzeugkennzeichen ermöglicht, ohne dass konkrete Gefahrenlagen oder allgemein gesteigerte Risiken von Rechtsgutgefährdungen oder -verletzungen einen Anlass zur Einrichtung der Kennzeichenerfassung geben. Die stichprobenhafte Durchführung einer solchen Maßnahme kann gegebenenfalls zu Eingriffen von lediglich geringerer Intensität zulässig sein. (BVerfG)

5. Auch dann, wenn die Erfassung eines größeren Datenbestandes letztlich nur Mittel zum Zweck für eine weitere Verkleinerung der Treffermenge ist, kann bereits in der Informationserhebung ein Eingriff liegen, soweit sie die Informationen für die Behörden verfügbar macht und die Basis für einen nachfolgenden Abgleich mit Suchkriterien bildet (vgl. BVerfGE 100, 313, 366 mit 337, 380; 115, 320, 343). Maßgeblich ist, ob sich bei einer Gesamtbetrachtung mit Blick auf den durch den Überwachungs- und Verwendungszweck bestimmten Zusammenhang das behördliche Interesse an den betroffenen Daten bereits derart verdichtet hat, dass ein Betroffensein in einer einen Grundrechtseingriff auslösenden Qualität zu bejahen ist (vgl. BVerfGE 115, 320, 343). (Bearbeiter)

6. Der Schutzumfang des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung beschränkt sich nicht auf Informationen, die bereits ihrer Art nach sensibel sind und schon deshalb grundrechtlich geschützt werden. Er kann auch Informationen umfassen, die öffentlich zugänglich sind. (Bearbeiter)

7. Informationserhebungen gegenüber Personen, die den Eingriff durch ihr Verhalten nicht veranlasst haben, sind grundsätzlich von höherer Eingriffsintensität als anlassbezogene (vgl. BVerfGE 100, 313, 376, 392; 115, 320, 354). Werden Personen, die keinen Erhebungsanlass gegeben haben, in großer Zahl in den Wirkungsbereich einer Maßnahme einbezogen, können von ihr auch allgemeine Einschüchterungseffekte ausgehen, die zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung von Grundrechten führen können (vgl. BVerfGE 65, 1, 42; 113, 29, 46). Die Unbefangenheit des Verhaltens wird insbesondere gefährdet, wenn die Streubreite von Ermittlungsmaßnahmen dazu beiträgt, dass Risiken des Missbrauchs und ein Gefühl des Überwachtwerdens entstehen (vgl. BVerfGE 107, 299, 328; 115, 320, 354 f.). Dies ist gerade bei der seriellen Erfassung von Informationen in großer Zahl der Fall. (Bearbeiter)

8. Werden im Gesetz zum Verwendungszweck keine Aussagen getroffen, schließt die Ermächtigung alle denkbaren Verwendungszwecke ein. (Bearbeiter)

9. Eine Ermächtigung zum Zugriff auf sogenannte Mischdateien, die sowohl strafprozessualen als auch präventiven Zwecken dienen, widerspricht dem Gebot der Normenbestimmtheit und Normenklarheit nicht, sofern jedenfalls die Zugriffszwecke bestimmt sind. (Bearbeiter)

10. Soll eine verfassungskonforme Einengung eines an sich verfassungswidrig weit gefassten Verwendungszwecks möglich sein, muss eine methodengerechte Auslegung zumindest Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der enger gefasste Zweck der maßgebliche sein sollte. Fehlt es daran, kann es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sein, die vom Gesetzgeber weit gefasste Eingriffsnorm auf das verfassungsgemäße Maß zurückzuschneiden. Das gilt erst recht, wenn der Gesetzgeber die Vorschrift bewusst unbestimmt gehalten und deshalb von einer entsprechenden Konkretisierung abgesehen hat. (Bearbeiter)

11. Die Verfassung hindert den Gesetzgeber nicht daran, die traditionellen rechtsstaatlichen Bindungen im Bereich des Polizeirechts auf der Grundlage einer seiner Prärogative unterliegenden Feststellung neuartiger oder veränderter Gefährdungs- und Bedrohungssituationen und neuer Ermittlungsmöglichkeiten fortzuentwickeln (vgl. BVerfGE 115, 320, 360). (Bearbeiter)


Entscheidung

260. BVerfG 2 BvR 392/07 (Zweiter Senat) - Beschluss vom 26. Februar 2008 (OLG Dresden/AG Leipzig)

Verfassungsgemäßheit des Verbots des Beischlafs zwischen Geschwistern (Inzest; Rechtsgutstheorie); sexuelle Selbstbestimmung (Grenzen); legitime Strafzwecke des Inzestverbots (Schutz der sexuellen Selbstbestimmung; Schutz von Ehe und Familie; Eugenik); Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers (eingeschränkte Überprüfung durch das Verfassungsgericht); Schuldgrundsatz: abweichende Meinung Hassemer.

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 6 Abs. 1 GG; Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB; § 153 StPO

1. Die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB, die den Beischlaf zwischen Geschwistern mit Strafe bedroht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar. (BVerfG)

2. Das Grundgesetz hat den Intim- und Sexualbereich des Menschen als Teil seiner Privatsphäre unter den verfassungsrechtlichen Schutz des Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gestellt. (Bearbeiter)

3. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist nicht vorbehaltlos gewährleistet. Der Einzelne muss, soweit nicht in den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung eingegriffen wird, staatliche Maßnahmen hinnehmen, die im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit oder im Hinblick auf grundrechtlich geschützte Interessen Dritter unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots ergriffen werden (vgl. BVerfGE 27, 344, 351; 96, 56, 61; stRspr). (Bearbeiter)

4. Das Strafrecht wird als "ultima ratio" des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher be-

sonders dringlich ist. Es ist aber grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 27, 18, 30; 96, 10, 25 f.). (Bearbeiter)

5. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet - bei Androhung von Freiheitsstrafe auch im Hinblick auf die Gewährleistung der Freiheit der Person durch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 90, 145, 172) -, dass eine Strafnorm dem Schutz anderer oder der Allgemeinheit dient und die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne gewahrt ist. Darüber hinaus unterliegen Strafnormen von Verfassungs wegen keinen strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten. (Bearbeiter)

6. Das Verbot des Beischlafs zwischen Geschwistern rechtfertigt sich in der Zusammenfassung nachvollziehbarer Strafzwecke vor dem Hintergrund einer kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräftigen gesellschaftlichen Überzeugung von der Strafwürdigkeit des Inzestes. Als Instrument zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, der Gesundheit der Bevölkerung und insbesondere der Familie erfüllt die Strafnorm - auch durch ihre Ausstrahlungswirkungen über den tatbestandlich eng umgrenzten strafbewehrten Bereich hinaus - eine appellative, normstabilisierende und damit generalpräventive Funktion, die die Wertsetzungen des Gesetzgebers verdeutlicht und damit zu ihrem Erhalt beiträgt. (Bearbeiter)

7. Der vorgesehene Strafrahmen des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB erlaubt es, besonderen Fallkonstellationen, in denen die geringe Schuld der Beschuldigten eine Bestrafung als unangemessen erscheinen lässt, durch Einstellung des Verfahrens nach Opportunitätsgesichtspunkten, Absehen von Strafe oder besondere Strafzumessungserwägungen Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund ist das Übermaßverbot nicht verletzt. (Bearbeiter)

8. Es kann offen bleiben, ob die Unterscheidung zwischen Strafnormen, die allein in Moralvorstellungen gründen, und solchen, die dem Rechtsgüterschutz dienen, tragfähig ist und ob bejahendenfalls Strafnormen der ersteren Art verfassungsrechtlich zu beanstanden wären. (Bearbeiter)

9. So, wie es Sache des Gesetzgebers ist, den Bereich strafbaren Handelns festzulegen, ist er in weitem Umfang zu Differenzierungen berechtigt. Das Bundesverfassungsgericht kann nur die Überschreitung äußerster Grenzen beanstanden und dem Gesetzgeber entgegentreten, wenn für eine von ihm getroffene Differenzierung sachlich einleuchtende Gründe schlechterdings nicht mehr erkennbar sind (vgl. BVerfGE 50, 142, 162 m.w.N., 166). So kann eine strafrechtliche Norm grundsätzlich nicht deshalb als verfassungswidrig angesehen werden, weil bestimmte besonders gelagerte Sachverhalte, die einen entsprechenden Unrechtsgehalt aufweisen, von ihr nicht erfasst werden (vgl. bereits BVerfGE 50, 142, 166). (Bearbeiter)


Entscheidung

200. EGMR Nr. 74420/01 (Große Kammer) – Urteil vom 5. Februar 2008 (Ramanauskas v. Litauen)

Recht auf ein faires Strafverfahren (Tatprovokation; agent provocateur; V-Mann; V-Leute; Umgehungsverbot; Offenlegungsanspruch; Akteneinsicht; Gesamtrecht und Gesamtbetrachtung: Konfrontationsrecht, Beweisrecht); Einsatz verdeckter Ermittler zur „Korruptionsbekämpfung“ (Bestechung; Bestechlichkeit; Anstiftung); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1, Abs. 3 lit. d EMRK; § 331 StGB; § 332 StGB; § 333 StGB; § 334 StGB; § 26 StGB; § 110a StPO; § 147 StPO; § 244 Abs. 2 StPO; Antikorruptionsabkommen des Europarats

1. Jede Verwertung eines durch eine rechtswidrige Tatprovokation erlangten Beweismittels ist in einem fairen Strafverfahren ausgeschlossen. Auch die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege kann ihre Verwertung in einem fairen Strafverfahren nicht rechtfertigen. Wenn ein Angeklagter behauptet, durch die Polizei zur Tat provoziert worden zu sein, müssen die Gerichte diesen Vorwurf mit Blick auf das bestehende Verwertungsverbot sorgfältig aufklären. Sind die Behauptungen des Angeklagten nicht völlig unwahrscheinlich, trägt der Staat die „Beweislast“ dafür, dass keine rechtswidrige Tatprovokation erfolgt ist.

2. Kann das Gericht nach dem von den Strafverfolgungsbehörden offen gelegten Material eine Tatprovokation nicht bejahen, müssen die Verteidigungsrechte (insbesondere: Waffengleichheit und rechtliches Gehör) in dem Verfahren, in dem die Tatprovokation verneint wird, adäquat geschützt werden (vgl. Edwards and Lewis v. the United Kingdom [GC], nos. 39647/98 and 40461/98, §§ 46-48, ECHR 2004-X [= HRRS 2005 Nr. 1 vgl. dazu Gaede StV 2006, 599 ff.]).

3. Eine Tatprovokation liegt vor, wenn sich eine verdeckt ermittelnde Person, die der Polizei zuzurechnen ist, nicht auf eine in erster Linie passive Aufklärung von strafbaren Aktivitäten beschränkt, sondern – um eine spätere Verfolgung zu ermöglichen – einen solchen Einfluss auf den Betroffenen ausübt, dass sie diesen zur Begehung einer Straftat anstiftet, die anderenfalls nicht begangen worden wäre. Diese Grenze gilt auch dann, wenn die Tatprovokation von der Polizei organisiert wurde und durch eine von der Polizei geführte Privatperson begangen wird.

4. Ein späteres Geständnis des Angeklagten bezüglich der Begehung der provozierten Tat führt zu keinerlei Einschränkung der bestehenden Maßstäbe.

5. Das Recht auf ein faires Verfahren gilt für alle Arten von Straftaten einschließlich Straftaten, die der organisierten Kriminalität zuzurechnen sind. Der dem Recht auf ein faires Strafverfahren zukommende herausragende Rang schließt es aus, dieses Recht der Zweckmäßigkeit zu opfern.

6. Der Gebrauch geheimer Ermittlungsmethoden stellt nicht per se eine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren dar. Auch zur Vermeidung von Tatprovokationen muss ihr Gebrauch jedoch klaren Grenzen unterliegen.

7. Die Zurechnung eines tatprovozierenden Verhaltens von Polizeiangehörigen zum Staat kann nicht mit der bloßen Behauptung ausgeschlossen werden, die – im Dienst handelnden – Polizisten hätten „auf ihre eigene private Initiative hin“ gehandelt. Dies gilt besonders dann, wenn diese „private Initiative“ selbst strafrechtlich nicht verfolgt wird.


Entscheidung

255. BVerfG 1 BvR 1807/07 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 19. Februar 2008 (OLG Frankfurt am Main)

Gebot der Rechtschutzgleichheit; Auslegung und Anwendung der Vorschriften über die Prozesskostenhilfe (summarische Prüfung; keine vorweggenommene Beweiswürdigung / Beweisantizipation; keine abschließende Entscheidung schwieriger Rechts- und Tatfragen); Schadenersatz aus Amtspflichtverletzung (Androhung von Folter; „Fall Gäfgen“).

Art. 3 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 3 EMRK; Art. 13 EMRK; § 114 ZPO; § 839 Abs. 1 BGB

1. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gebietet Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 9, 124, 130 f.).

2. Zwar ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen.

3. Dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit läuft es zuwider, wenn der unbemittelten Partei wegen Fehlens der Erfolgsaussichten seines Rechtsschutzbegehrens Prozesskostenhilfe verweigert wird, obwohl eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht kommt und keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde.

4. Schwierige, bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können.

5. Die Frage, ob ein Schadenersatzanspruch aus einer die Menschenwürde verletzenden Amtspflichtverletzung (u. a. Androhung von Folter) mit der Begründung verneint werden kann, dass dem Betroffenen durch eine strafrechtliche Verurteilung der handelnden Beamten bereits hinreichende Genugtuung widerfahren ist, ist eine schwierige Rechtsfrage, die bislang höchstrichterlich noch nicht entschieden ist. Sie kann daher nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entschieden werden.


Entscheidung

258. BVerfG 2 BvR 2652/07 (3. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 23. Januar 2008 (OLG Brandenburg/LG Cottbus/AG Cottbus)

Beschleunigungsgebot in Haftsachen (Umfangverfahren; unzureichende Terminierung; Terminkollisionen der Verteidigung; Recht auf Verfahrensbeschleunigung; Recht auf konkrete und wirksame Verteidigung); Prüfungs- und Begründungsanforderungen (erhöhte Begründungstiefe mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6 EMRK; § 112 StPO; § 121 StPO

1. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG garantiert die Freiheit der Person. In diesem Freiheitsgrundrecht ist das in Haftsachen geltende verfassungsrechtliche Beschleunigungsgebot angelegt (vgl. BVerfGE 46, 194, 195).

2. Der weitere Vollzug von Untersuchungshaft verstößt dann gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, wenn die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen.

3. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind dabei stets höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen.

4. Der Vollzug von Untersuchungshaft von mehr als einem Jahr bis zum Beginn der Hauptverhandlung oder dem Erlass eines Urteils findet nur in ganz besonderen Ausnahmefällen seine Rechtfertigung (vgl. BVerfGK 7, 140, 156 m.w.N.).

5. In absehbar umfangreichen Verfahren, in denen sich der Angeklagte in Untersuchungshaft befindet, fordert das Beschleunigungsgebot in Haftsachen stets eine vorausschauende, auch größere Zeiträume umgreifende Hauptverhandlungsplanung mit mehr als nur einem durchschnittlichen Hauptverhandlungstag pro Woche.

6. Terminkollisionen der Verteidigung, entlasten das Gericht nicht grundsätzlich von dem Vorwurf einer der Justiz anzulastenden Verfahrensverzögerung. Das Gericht darf nicht ausnahmslos auf Terminkollisionen der Verteidiger Rücksicht nehmen. Unter Umständen ist zu prüfen, ob nicht andere Pflichtverteidiger bestellt werden können, oder ob die Verteidiger mit Blick auf das Be-

schleunigungsgebot verpflichtet werden können, andere – weniger dringliche – Termine zu verschieben.

7. Es ist verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn sich die Prüfung des Tatgerichts bei Haftfortdauerentscheidungen während einer laufenden Hauptverhandlung auf die Frage beschränken, ob nach wie vor ein dringender Tatverdacht gegeben ist und dieser nicht durch Ergebnisse der bisherigen Beweisaufnahme entkräftet wird.


Entscheidung

256. BVerfG 2 BvR 42/08 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 13. Februar 2008 (KG/LG Berlin/AG Tiergarten)

Verurteilung wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis (sofort vollziehbare Verfügung von einer ausländischen Fahrerlaubnis im Inland keinen Gebrauch zu machen); möglicherweise gemeinschaftsrechtswidriger Verwaltungsakt („effet utile“; fehlende Nichtigkeit); Willkürverbot; Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Darlegungsanforderungen).

Art. 3 Abs. 1 GG; § 21 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 StVG; § 3 Abs. 1 StVG; § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO; § 43 BerlVwVfG; § 90 Abs. 2 BVerfGG

1. Die Verurteilung eines Kraftfahrzeugführers wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn diesem zuvor unter Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit wirksam untersagt worden ist, von seiner im EU-Ausland erworbenen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen.

2. Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - etwa unter dem Aspekt der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts („effet utile“) – folgt nicht, dass mit europäischem Sekundärrecht unvereinbare Verwaltungsakte nicht nur rechtswidrig, sondern ohne weiteres nichtig wären.


Entscheidung

257. BVerfG 2 BvR 313/07 (1. Kammer des Zweiten Senats) - vom 18 Januar 2008 (BGH/DGH beim OLG Naumburg/DG beim LG Magdeburg)

Disziplinarische Entfernung aus dem Dienst (Besitz von Kinderpornographie; Schuldprinzip; Verhältnismäßigkeit; hergebrachte Grundsätze des Berufsbeamtentums); Recht auf Verfahrensbeschleunigung (Kompensation bei rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung; zulässige Verfahrensdauer: hier zweieinhalb Jahre).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 33 Abs. 5 GG; Art. 12 GG; § 184 Abs. 5 Satz 2 StGB a.F.

1. Das Schuldprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Übermaßverbot) gelten auch im Disziplinarverfahren (vgl. BVerfGE 37, 167, 185; 46, 17, 27).

2. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dahingehend, wenn schon der (bloße) Besitz kinderpornographischer Darstellungen durchgängig als schweres Dienstvergehen gewertet wird, das zur Entfernung aus dem Dienst oder zur Degradierung führen kann.

3. Auch Disziplinarverfahren sind mit der gebotenen Beschleunigung durchzuführen (vgl. BVerfGE 46, 17, 29). Eine disziplinarische Maßnahme kann unvereinbar mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit werden, wenn das Disziplinarverfahren unverhältnismäßig lange dauert.

4. Ein Zeitraum von gut zweieinhalb Jahren von der Einleitung des förmlichen Disziplinarverfahrens über die Durchführung von Hauptverhandlungen in zwei Tatsacheninstanzen bis hin zum rechtskräftigen Abschluss in dritter Instanz kann auch im Falle eines geständigen, kein komplexes oder umfängliches Verteidigungsverhalten zeigenden Beamten für sich genommen nicht als evident unangemessen angesehen werden, zumal dann wenn die Verhängung der disziplinarischen Höchstmaßnahme von Anfang an erkennbar im Raum steht.

5. Das Disziplinarrecht gehört zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinn des Art. 33 Abs. 5 GG (vgl. BVerfGE 7, 129, 144 f.; 37, 167, 178 f.). Rechtmäßige Disziplinarmaßnahmen müssen schon von daher auch vor Art. 12 Abs. 1 GG Bestand haben (vgl. BVerfGE 39, 334, 369).