HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Dezember 2007
8. Jahrgang
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III. Strafzumessungs- und Maßregelrecht


Entscheidung

1094. BGH 1 StR 268/07 - Urteil vom 28. August 2007 (LG Augsburg)

BGHSt; nachträgliche Sicherungsverwahrung (Erledigterklärung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; Sperrwirkung; Schadensprognose bei drohendem sexuellen Missbrauch von Kindern).

§ 66b StGB; § 67d Abs. 6 StGB; § 176 StGB; Art. 5 EMRK

1. Wird die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus für erledigt erklärt (§ 67d Abs. 6 StGB), so kann dies regelmäßig nur dann Grundlage nachträglicher Sicherungsverwahrung (§ 66b Abs. 3 StGB) sein, wenn der Betroffene andernfalls in die Freiheit zu entlassen wäre. Hat er dagegen im Anschluss an die Erledigung noch Freiheitsstrafe zu verbüßen, auf die zugleich mit der Unterbringung erkannt worden war, kann nachträgliche Sicherungsverwahrung regelmäßig nur unter den Voraussetzungen von § 66b Abs. 1 StGB oder § 66b Abs. 2 StGB angeordnet werden. (BGHSt)

2. Eine Anordnung gemäß § 66b Abs. 3 StGB verlangt bei zu befürchtenden Fällen von sexuellem Missbrauch von Kindern keine Feststellungen dazu, inwieweit die statistische Häufigkeit empirisch gesichert ist, mit der diese Taten bei den (potentiellen) Opfern schwerwiegende psychische Schäden auslösen. Bei der genannten wertenden Abwägung ist vielmehr von den Grundentscheidungen des Gesetzes auszugehen, nach der durch derartige Taten eine schwerwiegende Beeinträchtigung der sexuellen Entwicklung von Kindern zu besorgen ist. (Bearbeiter)


Entscheidung

1146. BGH 4 StR 246/07 – Urteil vom 11. Oktober 2007 (LG Magdeburg)

Nachträgliche Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (Verbalaggressionen im Strafvollzug als neue Tatsachen; hohe Wahrscheinlichkeit).

§ 66b StGB

1. Bei einem wegen Gewaltdelikten Vorbestraften kann auch verbal aggressives Verhalten gegen Vollzugsbeamte ein prognoserelevanter Umstand sein, wenn es seine Ursachen nicht überwiegend in den besonderen Bedingungen des Vollzugs hat (BVerfG-Kammer-Beschluss vom 23. August 2006 - 2 BvR 226/06 = NJW 2006, 3483, 3486; BGH, Urteil vom 25. November 2005 - 2 StR 272/05 = BGHSt 50, 284, 297).

2. Eine bloß abstrakte, auf statistische Wahrscheinlichkeiten gestützte Prognoseentscheidung reicht für eine Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung nicht aus. Erforderlich ist eine konkrete, auf den Einzelfall bezogene hohe Wahrscheinlichkeit. Zudem genügt es verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, eine hohe Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 66 b StGB bereits dann anzunehmen, wenn überwiegende Umstände auf eine künftige Delinquenz des Verurteilten hindeuten würden, vielmehr müsse von diesem eine gegenwärtige erhebliche Gefahr ausgehen (BVerfG aaO = NJW 2006, 3483 f., 3485, 3486).


Entscheidung

1092. BGH 1 StR 164/07 - Urteil vom 7. November 2007 (LG Landshut)

„Gammelfleischskandal“; gewerbsmäßiger Betrug; Verstöße gegen das Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz; Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung (Verteidigung der Rechtsordnung); Strafzumessung (Revisibilität bei Gesamtstrafenbildung; nachteilige typische Folgen einer Straftat); Berufsverbot (Absehen zugunsten einer milderen Weisung im Rahmen der Bewährungsaufsicht; Gesetzesvorbehalt).

§ 263 Abs. 3 StGB; § 70 StGB; § 56 StGB; § 46 StGB

1. Die Strafzumessung unterliegt nur in eingeschränktem Umfang der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Eine ins Einzelne gehende Richtigkeitskontrolle ist ausgeschlossen. In Zweifelsfällen muss das Revisionsgericht die vom Tatgericht vorgenommene Bewertung bis an die Grenze des Vertretbaren hinnehmen (st. Rspr., vgl. BGHSt 29, 319, 320; 34, 345, 349; BGH NJW 1995, 340). Diese Grundsätze gelten auch für die Bildung der Gesamtstrafe und für die Entscheidung über die Aussetzung

der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung (BGHR § 54 Abs. 1 StGB Bemessung 5 und 11; BGH, Urt. vom 24. März 1999 - 3 StR 556/98).

2. Rechtsfehlerhaft ist es allerdings, wenn der Tatrichter erkannte Strafen nur deshalb in einer bestimmten Höhe ausspricht, damit die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe nach § 56 Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt werden konnte (vgl. BGHSt 29, 319, 321; BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 29; BGH, Urt. vom 13. Dezember 2001 - 4 StR 363/01).

3. Dass das Tatgericht die Frage der Aussetzbarkeit der Strafvollstreckung bei der Findung schuldangemessener Sanktionen mitberücksichtigt hat, begründet für sich noch keinen durchgreifenden Rechtsfehler (BGH, Urt. vom 13. Dezember 2001 - 4 StR 363/01).

4. Wer bei seiner Tat bestimmte Nachteile für sich selbst (zwar nicht gewollt, aber) bewusst auf sich genommen hat, verdient in der Regel keine strafmildernde Berücksichtigung solcher Folgen (BGH wistra 2005, 458). Gehen jedoch die Tatfolgen für den Angeklagten namentlich durch Insolvenz und persönliche Inanspruchnahme für Kreditverbindlichkeiten in ihrer wirtschaftlichen Dimension über den bloßen Betrugsschaden hinaus, so dürfen sie zugunsten des Angeklagten in die Abwägung eingestellt werden (vgl. BGH, Urt. vom 22. März 2006 - 5 StR 475/05). Dies gilt auch für einen besonderen Druck der medialen Berichterstattung, wenn er weit über das hinausging, was jeder Straftäter über sich ergehen lassen muss, dessen Fall in das Licht der Öffentlichkeit gerät.

5. Einzelfall der Anwendung dieser Grundsätze auf einen öffentlichkeitswirksamen „Gammelfleischskandal“.


Entscheidung

1095. BGH 1 StR 290/07 - Urteil vom 6. November 2007 (LG Würzburg)

Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung (Begriff der neuen Tatsache; Anwendung des Absatzes zwei bei Gesamtfreiheitsstrafen).

§ 66b StGB

Der Senat neigt dazu, dass bei tateinheitlicher Verurteilung von einer oder mehreren Katalogtaten sowie weiteren Straftaten die formellen Voraussetzungen nach § 66b Abs. 2 StGB nur vorliegen, sofern die mindestens fünf Jahre Freiheitsstrafe erreichende Strafhöhe wesentlich durch die Katalogtat geprägt ist.


Entscheidung

1078. BGH 3 StR 378/07 - Beschluss vom 19. Oktober 2007 (LG Hannover)

Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung (neue Tatsachen); Doppelbestrafungsverbot.

§ 66b StGB; Art. 103 Abs. 3 GG

1. An die Annahme neuer Tatsachen zur Begründung der nachträglichen Sicherungsverwahrung sind strenge Anforderungen zu stellen. Es kommen nur solche Umstände in Betracht, die entweder erst nach der Anlassverurteilung entstanden sind oder vom Richter des Ausgangsverfahrens nicht erkannt werden konnten. Allein die neue Bewertung bereits zum Zeitpunkt der Anlassverurteilung bekannter Tatsachen genügt nicht.

2. Bereits früher erkennbar und damit nicht „erkennbar werdend“ bzw. „neu“ sind Tatsachen, die ein sorgfältiger Tatrichter hätte aufklären müssen, um entscheiden zu können, ob eine Maßregel nach §§ 63, 64, 66, 66a StGB anzuordnen ist, bzw. solche Tatsachen, die der Tatrichter nach dem Maßstab des § 244 Abs. 2 StPO zur Entscheidung über die Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßregel zu erforschen hatte und bei hinreichender Aufklärung gefunden hätte. Als Voraussetzung für die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung untauglich sind deshalb Tatsachen, für die es im Ausgangsverfahren Anhaltspunkte gegeben hat, die aber damals vom Gericht unbeachtet geblieben sind.

3. „Neue“ Tatsachen sind hingegen solche, die dem letztinstanzlich zuständigen Gericht im Ausgangsverfahren auch bei pflichtgemäßer Wahrnehmung seiner Aufklärungspflicht nicht hätten bekannt werden können.


Entscheidung

1077. BGH 3 StR 374/07 - Beschluss vom 2. Oktober 2007 (LG Lübeck)

Recht auf Verfahrensbeschleunigung (rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung; Kompensation; Einsatzstrafe; Gesamtstrafe).

Art. 6 EMRK; § 46 StGB; § 54 StGB

1. Nimmt der Tatrichter die gebotene Kompensation für eine rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens - entsprechend der bisher einhelligen Rechtsprechung - durch eine Reduzierung der an sich schuldangemessenen Einzelstrafen sowie der Gesamtstrafe vor, so empfiehlt es sich zwar, in den Urteilsgründen auch für die Gesamtstrafe die an sich verwirkte und die nach Durchführung der Kompensation schließlich verhängte Höhe der Strafe konkret anzugeben. Anders als bei den Einzelstrafen, die stets sowohl fiktiv als auch nach Durchführung der Kompensation gemildert anzugeben sind, muss jedoch die fiktiv zu verhängende Gesamtstrafe nicht zwingend gesondert ausgewiesen werden.

2. Gibt der Tatrichter die fiktiv zu verhängende Gesamtstrafe nicht gesondert an, so müssen - bei Anwendung der Kompensationslösung entsprechend der bisherigen Rechtsprechung - die Urteilsgründe im Übrigen ausreichend belegen, dass der Tatrichter dem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot durch eine angemessene Reduzierung der Gesamtstrafe Rechnung getragen hat.


Entscheidung

1080. BGH 3 StR 391/07 - Beschluss vom 1. Oktober 2007 (LG Lübeck)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Mussvorschrift; Ermessensvorschrift; Urteilsgründe).

§ 64 StGB; § 267 Abs. 3 StPO

Dass § 64 StGB von einer Muss- in eine Ermessensvorschrift umgestaltet worden ist, macht die Prüfung der Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt durch den Tatrichter nicht entbehrlich. Er muss vielmehr das Ermessen tatsächlich ausüben und die Ermessensentscheidung für das Revisionsgericht nachprüfbar begründen.