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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juli 2007
8. Jahrgang
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Von Wiss. Ass. Dr. Karsten Gaede, Bucerius Law School Hamburg
(1) Von eminenter praktischer Bedeutung ist der Beschluss BVerfG HRRS 2007 Nr. 647, mit dem das Gericht Schranken für die Strafzumessung durch Revisionsgerichte anhand des § 354 Ia StPO aufstellt. Diese Norm erfreute sich in der Praxis großer Beliebtheit, versprach sie doch eine scheinbar angemessen zügige Erledigung vieler Strafzumessungsrevisionen. Das BVerfG hat die Norm nun nicht als verfassungswidrig angesehen. Es hat ihre Anwendung aber ernsthaft beschränkt. Das Gericht fast seine Auffassung in folgenden Leitsätzen zusammen:
1. Dem Revisionsgericht muss für seine Entscheidung nach § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung stehen. (BVerfG)
2. Verfährt das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1 a Satz 1 StPO, so muss es seine Entscheidung jedenfalls dann begründen, wenn die für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht dem Angeklagten sonst nicht nachvollziehbar wären. (BVerfG)
3. Eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts ist ausgeschlossen, wenn zugleich eine neue Entscheidung über einen - fehlerhaften - Schuldspruch erfolgen muss. (BVerfG)
(2) Als bemerkenswert und höchst bedeutsam ist hinzuzufügen, dass das BVerfG die Anwendung des § 354 Ia StPO weitgehend von vorherigen und spezifischen Hinweisen im Revisionsverfahren für den Angeklagten abhängig gemacht hat. Die diesbezüglichen Hinweise müssen nicht mündlich erfolgen, wohl aber absichern, dass dem Angeklagten die Überlegungen des Revisionsgerichts vor Augen stehen und er sich effektiv verteidigen kann. Dies dürfte - gemeinsam mit dem eingeführten Begründungserfordernis - den Charme der Norm für eine weniger verfahrensrechts- denn effizienzorientierte Erledigung von Strafzumessungsrevisionen beträchtlich mindern, da ihre Anwendung für das Revisionsgericht insgesamt weniger praktikabel bzw. anspruchsvoller wird.
(3) Das BVerfG ist in seiner Entscheidung ersichtlich um die Schonung des Gesetzgebers bemüht. Das Gericht wählt zu diesem Zweck eine verfassungskonforme Auslegung, die es auch im Kontext der Revision als Rechtsmittel insgesamt für möglich hält. Tatsächlich aber dürften die Rechtsanwender auf der Seite der Staatsanwaltschaften und der Revisionsgerichte nun kaum noch sicher von der Anwendbarkeit des § 354 Ia StPO ausgehen können: Das BVerfG hat entschieden, dass auch die Strafzumessung den Anforderungen des fairen Verfahrens genügen muss und insofern einen neuen Anwendungsbereich des fairen Verfahrens abgeleitet (für diese Position in der Literatur jüngst auch m.w.N. Gaede, Fairness als Teilhabe - Das Recht auf konkrete und wirk-
same Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK [2007], S. 413 f.). Die (revisionsrichterliche) Strafzumessung setzt danach einen vollständigen und aktuellen Zumessungssachverhalt voraus. Das Revisionsgericht muss, so das BVerfG weiter, ausschließen können, dass die Vollständigkeit und die Aktualität des Zumessungssachverhalts nicht gegeben sind. Dahingehende plausible, stichhaltige Einwände des Angeklagten schließen die Anwendung des § 354 Ia StPO aus. Praktisch bedeutet dies aber: Sobald ein Angeklagter mögliche strafzumessungsrelevante Neuentwicklungen in den Raum stellt oder frühere, vom Tatrichter wegen § 267 III 1 StGB nicht ausdrücklich angesprochene frühere Strafzumessungsgründe bzw. -feststellungen behauptet, können Mängel an der Vollständigkeit und der Aktualität praktisch nur mit einer Spekulation bzw. mit einer unzulässigen Rekonstruktion der Hauptverhandlung ausgeschlossen werden, da dem Revisionsgericht ernsthafte Beweiserhebungen zu Tatfragen verwehrt sind. Die vom BVerfG erwähnte "Stichhaltigkeit" der Einwände des Angeklagten lässt sich wohl nur aus rechtlichen Gründen verneinen, wenn sein Vortrag keine möglichen ergänzenden Strafzumessungstatsachen mit positiver Bewertungsrichtung offenbart. Jedenfalls läge in einer beliebig gestalteten Plausibilitätsprüfung etwaiger Verteidigungsschriftsätze, die zur Verwerfung der Revision führen kann, schwerlich die "bestmögliche Sachverhaltsaufklärung", die das BVerfG selbst aus dem fairen Verfahren als Erfordernis abgeleitet hat. Soll nicht tatsächlich doch für die Strafzumessung ein eigener, herabgesetzter Maßstab gelten, wird nun ganz regelmäßig eine Zurückverweisung erfolgen müssen, wenn die Verteidigung urteilsergänzende Strafzumessungstatsachen behauptet, die nicht offensichtlich nach jeder Betrachtungsweise haltlos sind.
(4) Für die Verteidigung kann das Urteil daher - soweit der Mandant an einer erneuten Verhandlung interessiert ist - nur bedeuten, etwaige aktuelle Fortentwicklungen dem Revisionsgericht geeignet und zwar auch schon vorbeugend zur Kenntnis zu bringen, was die Revisionsgerichte in nicht geringem Umfang belasten dürfte. Ebenso hat die Verteidigung nun die Chance und Aufgabe, aus ihrer Sicht zu Unrecht im Urteil unterbliebene Feststellungen zu Strafzumessungstatsachen zu behaupten. Der verfassungs- und konventionsrechtlich als effektiv garantierten Verteidigung könnte hierbei auch keine Selbstzensur auferlegt werden, nach der etwa nur bei sicherem Wissen Vollständigkeitsmängel behauptet werden dürften. Die Friktionen, welche die Entscheidung des BVerfG bringen mag, können insoweit nicht auf dem Rücken der Verteidigung ausgetragen werden.
(5) Insgesamt dürfte die Anwendung des § 354 Ia StPO für die Revisionsgerichte viel voraussetzungsvoller und schwieriger geworden sein. Die Gerichte sind nunmehr tatsächlich ernsthaft mit der Abschätzung urteilsfremder und gar neuer Strafzumessungstatsachen befasst, was bislang - und mit Blick auf die mangelnden Tatsachenfeststellungsrechte des Revisionsgerichts zu Recht - ausgeschlossen war (vgl. nur Ventzke NStZ 2005, 461, 462; siehe auch BGH HRRS 2005 Nr. 660; 2006 Nr. 400; Maier/Paul NStZ 2006, 82, 84 ). All dies dürfte die Anwendung der Norm dezimieren. Vielleicht hat das BVerfG gar das weitgehende Leerlaufen der Norm bewirkt (was indes im Ergebnis keinen Vorwurf bedeutet, wenn man - wie der Verfasser - die Norm für verfassungswidrig erachtet). Zu beobachten sein wird indes, ob die Revisionsgerichte ihre "eigene Strafzumessung" wieder vermehrt auf § 337 I StPO stützen. Hierin läge freilich kein echter "Lösungsweg", denn die Probleme dieser "Lösung" haben gerade zu dem neuen (und ebenfalls problematischen) Lösungsversuch über § 354 Ia StPO geführt.