HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2007
8. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

die HRRS-Ausgabe Mai 2007 publiziert in ihrem Beitragsteil vor allem eine Darstellung und Besprechung des auch völkerrechtlich, volkerstrafrechtlich und zeitgeschichtlich bedeutsamen Srebrenica-Urteils des IGH, die Frank Meyer verfasst hat.

Aus dem Entscheidungsteil ist eine Entscheidung des EuGH zur europäischen ne bis in idem-Garantie (Art. 54 SDÜ) hervorzuheben. Bedeutsam ist auch eine Entscheidung des EGMR, mit der er abermals eine mindesten aus völkerrechtlicher Sicht zu strenge Zulässigkeitspraxis des BVerfG bei der Verfassungsbeschwerde offenbart. Im Rahmen der BGH-Rechtsprechung sind vier zur Veröffentlichung vorgesehene Entscheidungen zu vermelden. Weitere interessante Entscheidungen betreffen in dieser Ausgabe vor allem das Verfahrensrecht.

Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion

Dr. Karsten Gaede


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche
Entscheidungen des BVerfG/EGMR


Entscheidung

462. EuGH C-467/04 (Erste Kammer) - Urteil vom 28. September 2006 (Audiencia Provincial Málaga [Spanien])

Anwendbarkeit von Art. 54 SDÜ bei Freispruch wegen Verjährung (keine Anwendung auf andere Personen; Begriff derselben Tat; Vermarktung in einem anderen Mitgliedsstaat); Waren im freien Verkehr (kein Vorliegen bei rechtswidriger Einfuhr, welche in einem anderen Mitgliedsstaat nicht mehr verfolgbar ist).

Art. 54 SDÜ; Art. 24 EG; Art. 234 EG

1. Der Grundsatz des ne bis in idem, der in Artikel 54 des am 19. 6. 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen verankert ist, findet auf die in einem Strafverfahren ergangene Entscheidung des Gerichts eines Vertragsstaats Anwendung, mit der ein Angeklagter rechtskräftig wegen Verjährung der Straftat freigesprochen wird, die Anlass zur Strafverfolgung gegeben hat. (EuGH)

2. Der genannte Grundsatz findet keine Anwendung auf andere Personen als diejenigen, die von einem Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden sind. (EuGH)

3. Ein Strafgericht eines Vertragsstaats kann eine Ware nicht allein deshalb als in seinem Hoheitsgebiet im freien Verkehr befindlich ansehen, weil das Strafgericht eines anderen Vertragsstaats in Bezug auf dieselbe Ware festgestellt hat, dass der Schmuggel verjährt sei. (EuGH)

4. In der Vermarktung einer Ware in einem anderen Mitgliedstaat im Anschluss an ihre Einfuhr in den Mitgliedstaat, in dem der Freispruch ergangen ist, liegt eine Handlung, die Bestandteil "derselben Tat" i.S. des genannten Artikels 54 sein kann. (EuGH)

5. In einem Verfahren nach Artikel 234 EG fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts. Daher ist der Gerichtshof nur be-

fugt, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Gemeinschaftsvorschrift zu äußern. (Bearbeiter)


Entscheidung

459. EGMR Nr. 75737/01 - Entscheidung der 5. Sektion vom 10. August 2006 (Schwarzenberger gegen Deutschland)

Recht auf ein faires Verfahren (Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter bei Vorbefassung: subjektiver und objektiver Test, Werturteile über den Angeklagten in einem früheren Verfahren gegen einen Mittäter); Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerde und Individualbeschwerde (Subsidiarität; Begründungsobliegenheiten; konventionskonforme Auslegung des deutschen Rechts); redaktioneller Hinweis.

Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 35 Abs. 1 EMRK; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 93 I Nr. 4a GG; § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG

1. Art. 35 Abs. 1 EMRK setzt normalerweise voraus, dass die Rügen, mit denen später der Gerichtshof befasst werden soll, zumindest ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der Anrufung der zuständigen innerstaatlichen Gerichte waren und dass die in den innerstaatlichen Bestimmungen vorgesehenen Formerfordernisse und Fristen beachtet wurden. Die Vorschrift ist jedoch verhältnismäßig flexibel und ohne übermäßigen Formalismus anzuwenden.

2. Hat der Beschwerdeführer in seinem Vorbringen vor dem Bundesverfassungsgericht den Verlauf der Verfahren vor den Fachgerichten vollständig dargestellt und eine Verletzung seines durch das Grundgesetz sowie Artikel 6 Abs. 1 der Konvention garantierten Rechts auf ein faires Verfahren durch unparteiische Richter geltend gemacht, hat er vom wesentlichen Inhalt her hinreichend wegen der Unparteilichkeit der Richter Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben und damit den innerstaatlichen Rechtsweg im Sinne der EMRK erschöpft.

3. Unter "Unparteilichkeit" ist in der Regel das Fehlen von Voreingenommenheit oder Befangenheit zu verstehen. Die Unparteilichkeit im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 wird anhand eines subjektiven Ansatzes, d.h. ausgehend von der persönlichen Überzeugung und dem Verhalten eines bestimmten Richters in einer bestimmten Rechtssache, und eines objektiven Ansatzes bestimmt, d.h. durch die Feststellung, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür geboten hat, dass alle berechtigten Zweifel insoweit auszuschließen sind.

4. Beim objektiven Ansatz muss bei der Anwendung auf ein als Kammer erkennendes Organ bestimmt werden, ob es - abgesehen von dem persönlichen Verhalten der Mitglieder dieses Spruchkörpers - feststellbare Tatsachen gibt, die Zweifel an dessen Unparteilichkeit begründen können. Bei der Entscheidung darüber, ob in einem bestimmten Fall berechtigter Grund zu der Befürchtung besteht, dass ein bestimmter Spruchkörper nicht unparteiisch ist, ist der Standpunkt der Parteien, die die Unparteilichkeit rügen, zwar wichtig, aber nicht entscheidend. Es kommt - auch im Fall einer Vorbefassung mit der Person des Angeklagten in einem Verfahren gegen einen Mittäter - darauf an, ob die Befürchtung im Einzelfall objektiv gerechtfertigt ist.


Entscheidung

460. BVerfG 2 BvR 1742/06, 2 BvR 1809/06, 2 BvR 1848/06, 2 BvR 1862/06 (3. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 20. Oktober 2006 (KG Berlin, AG Tiergarten)

Freiheit der Person; Beschleunigungsgebot in Haftsachen; Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (Kriterien; mit der Fortdauer steigende Anforderungen; keine Abwägung mit Strafverfolgungsinteresse; objektive Pflichtwidrigkeit des Gerichtes; Befangenheit).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 5 Abs. 3 EMRK; § 121 Abs. 1 StPO

1. Kommt es zu vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen, wobei es auf eine wie auch immer geartete Vorwerfbarkeit nicht ankommt, und überschreitet deshalb der weitere Vollzug der Untersuchungshaft die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Frist in einem ungewöhnlichen Maße, so liegt ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG vor (vgl. BVerfGE 20, 45, 50).

2. Im Rahmen der Abwägung zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Strafverfolgungsinteresse kommt es in erster Linie auf die durch objektive Kriterien bestimmte Angemessenheit der Verfahrensdauer an, die etwa von der Komplexität der Rechtssache, der Vielzahl der beteiligten Personen oder dem Verhalten der Verteidigung abhängig sein kann. Dies macht eine auf den Einzelfall bezogene Prüfung des Verfahrensablaufs erforderlich.

3. Mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft sind stets höhere Anforderungen an das Vorliegen eines rechtfertigenden Grundes zu stellen. Entsprechend dem Gewicht der zu ahndenden Straftat kann die Fortdauer der Untersuchungshaft zwar trotz kleinerer Verfahrensverzögerungen noch gerechtfertigt sein. Allein die Schwere der Tat und die sich daraus ergebende Straferwartung vermag aber bei erheblichen, vermeidbaren und dem Staat zuzurechnenden Verfahrensverzögerungen nicht zur Rechtfertigung einer ohnehin schon lang andauernden Untersuchungshaft zu dienen.

4. Unter die eng auszulegende Generalklausel des "anderen wichtigen Grundes" i.S.d. § 121 Abs. 1 StPO fallen nur solche Umstände, die in ihrem Gehalt den beiden besonders genannten Gründen gleichstehen. Sie brauchen ihnen aber der Art nach nicht ähnlich zu sein. Fehlt es an derartigen Gründen, ist die Haftfortdauer auch dann unzulässig, wenn auch bei zügiger Sachbehandlung ein Urteil bis zum besonderen Haftprüfungstermin noch nicht ergangen wäre. Eine erhebliche objektive Pflichtwidrigkeit eines Gerichts ist kein wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO.

5. Auf der Ebene der Prüfung des Grades der Vorwerfbarkeit eines Verfahrensverstoßes ist dann in eine umfas-

sende Bewertung der Gesamtlage einzutreten, wenn über bereits festgestellte Umstände hinaus (vorliegend für die Befangenheit ausreichende Gründe) weitere, erschwerende Tatsachen im Raum stehen.

6. Im Rahmen des § 121 Abs. 1 StPO kommt es bei der Feststellung des Vorliegens eines wichtigen Grundes nicht auf eine Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse des Staates und dem Freiheitsanspruch des inhaftierten Beschuldigten an.


Entscheidung

461. BVerfG 2 BvR 2126/05 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 18. September 2006 (BGH/LG Dessau)

Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Cannabis; fehlende Veräußerung; Anbau; Bereithalten von Waage und Verpackungen; Bereithalten von Schusswaffen im Anbauobjekt); Bestimmtheitsgebot (Analogieverbot; Wortlautgrenze); redaktioneller Hinweis.

Art. 103 Abs. 2 GG; § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG; § 30 a Abs. 2 Nr. 2 BtMG

1. Die Vorschrift des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG entspricht dem Bestimmtheitsgrundsatz.

2. Für die Rechtsprechung folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Verbot strafbegründender oder strafverschärfender Analogie. Dabei ist Analogie nicht im engeren technischen Sinne zu verstehen. Ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht (BVerfGE 71, 108, 115). Der mögliche Wortsinn markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation (BVerfGE 64, 389, 393 f.; 92, 1, 12).

3. Das weite Begriffsverständnis der Rechtsprechung vom "Handeltreiben", nachdem dieser "jede eigennützige, auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit" umfasst, hält sich noch im Rahmen des möglichen Wortsinns.

4. Art. 103 Abs. 2 GG schützt den Normbetroffenen nicht vor dem Inhalt oder dem Regelungsgehalt eines Strafgesetzes. Selbst sachlich missglückte Strafbestimmungen können gemessen an Art. 103 Abs. 2 GG verfassungsgemäß sein, wenn sie die Voraussetzungen strafbaren Tuns oder Unterlassens hinreichend deutlich umschreiben (BVerfGE 47, 109, 123).

5. Selbst wenn noch kein Umsatzgeschäft stattgefunden hat, kann ein Handeltreiben vorliegen, wenn der Täter sich mit einer elektrischen Waage und Folientüten zum Abwiegen und Verpacken von Cannabisprodukte ausstattet und Hanfpflanzen in einem Umfang angebaut, dass der Wirkstoffgehalt die Grenze zur geringen Menge um ein Vielfaches übersteigt und die Veräußerung des gewonnenen Cannabis zur Verbesserung der finanziellen Verhältnisse dienen soll.