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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2007
8. Jahrgang
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Von Wiss. Referent Dr. Frank Meyer, LL.M. (Yale), Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht, Freiburg i. Br.
1. Die völkerrechtliche Verantwortlichkeit von Vertragsstaaten der Völkermordkonvention kann sich auch auf die Begehung eines Genozids beziehen.
2. Für die Zurechnung genozidaler Akte einzelner Personen und Gruppen zum Vertragsstaat gelten die allgemeinen Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit. Handelt es sich bei den unmittelbaren Tätern weder de jure noch de facto um Staatsorgane, so erfordert eine Zurechnung das Vorliegen spezifischer Weisungen oder einer tatsächlichen wirksamen Kontrolle (effective control) über ihr Vorgehen.
3. Eine Verurteilung wegen Begehung eines Völkermordes erfordert den Nachweis der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise vernichten zu wollen (specific intent). In Fällen der Teilnahme am Völkermord (complicity in genocide) ist zumindest Kenntnis der Zerstörungsabsicht der unmittelbar handelnden Personen erforderlich.
4. Angesichts der Schwere des Vorwurfs des Völkermords sind bei der Prüfung der Zerstörungsabsicht und ihrer Kenntnis strenge Beweisstandards anzulegen.
5. Die Tatvariante der Teilnahme am Völkermord (complicity in genocide) ist sachlich von der Verpflichtung zur Prävention eines Völkermords zu unterscheiden. Die Präventionspflicht entsteht bereits dann, wenn das ernsthafte Risiko eines Angriffs auf eine Gruppe i. S. d. Völkermordkonvention mit Zerstörungsabsicht erkennbar wird. Zu ihrer Erfüllung hat der Vertragsstaat alle in angemessenem Rahmen verfügbaren Mittel einzusetzen.
6. Auch ein nicht hypothetisch-kausales Unterlassen solcher Präventionsmaßnahmen kann eine Pflichtverletzung begründen.
7. Die Erfüllung der Pflicht zur wirksamen Strafverfolgung genozidaler Handlungen erfordert auch eine effektive Kooperation mit internationalen Strafgerichtshöfen.
Der Völkermord ist das crime of crimes des Völkerstrafrechts.[2] Die absichtliche und systematische Auslöschung ganzer Gruppen von Menschen trägt ein besonderes Stigma, das den Genozid deutlich von den übrigen Tatbeständen des Völkerstrafrechts abhebt.[3] In scharfem Kontrast zum Unwertgehalt und der völkerrechtlichen Bedeutung der Strafbarkeit des Genozids steht das Ausmaß der rechtstatsächlichen Verfolgungsaktivitäten.[4] Zwar hatte die internationale Staatengemeinschaft den Status des Genozids als völkerrechtliche Straftat unter den noch frischen, furchtbaren Eindrücken des Holocaust auf der Ebene der Vereinten Nationen bereits 1946 im Rahmen der UN-Völkermordkonvention[5] bestätigt und die Vertragsparteien zu dessen Verhinderung und Bestra-
fung verpflichtet.[6] Doch sollte es fast 50 Jahre dauern, bis es mit der Einrichtung der ad hoc-Tribunale ICTR[7] und ICTY[8] durch den UN-Sicherheitsrat auf internationaler Ebene zu ersten Verfahren und Verurteilungen wegen Völkermordes kommen sollte. Den Anfang machte der ICTR 1998 mit einem Schuldspruch im Verfahren gegen Jean Paul Akayesu.[9] Weitere Verfahren folgten, aus denen die Strafsache Kambanda, in der erstmals ein ehemaliges Staatsoberhaupt wegen der Begehung eines Völkermordes während seiner Amtszeit verurteilt wurde, besonders hervorzuheben ist.[10] Vor dem ICTY sind bislang zwei Angeklagte wegen Völkermordes für schuldig befunden worden.[11] Im Fall des Radislav Krsti ć, dem Befehlshaber des Drina-Corps, musste sich der ICTY mit den Gräueltaten in der Enklave Srebrenica befassen. Diese hatte der UN-Sicherheitsrat im März 1995 zur UN-Schutzzone erklärt. Unter Missachtung dieses Status drangen Einheiten des Drina-Corps der bosnisch-serbischen Armee beginnend am 6. Juli 1995 dennoch in die Schutzzone ein und besetzten diese. In der Folgezeit kam es dort vom 12. bis zum 19. Juli 1995 zu Deportationen der Zivilbevölkerung und Massenexekutionen, denen mindestens 7000 bosnische Jungen und Männer in wehrfähigem Alter zum Opfer fielen. [12] Krsti ć hatte dieses Unternehmen mit den Ressourcen seines Korps unterstützt und wurde deshalb wegen Unterstützung (aiding and abetting genocide) zum Völkermord verurteilt. Im Fall des Vidoje Blagojevi ć verurteilte das Jugoslawien-Tribunal den Kommandanten der Brigade von Bratunac wegen Teilnahme (complicity in genocide by aiding and abetting) bei der Begehung eines Völkermordes. Der Verurteilte hatte mit seinen Untergebenen am Angriff auf die Enklave Srebrenica teilgenommen und dort die Massenhinrichtungen der männlichen muslimischen Bevölkerung durch Selektion, Transport und Vergraben der Leichen unterstützt. Wegen der Verbrechen in der Enklave Srebrenica wurde schließlich auch der damalige jugoslawische Präsident Slobodan Milo š evi ć vor dem ICTY angeklagt. [13] Sein Tod verhinderte eine abschließende gerichtliche Entscheidung in diesem langwierigen, erbittert geführten Verfahren. Aufgrund dessen blieb auch eine befriedigende Aufarbeitung der Kommunikation und des Zusammenwirkens - mithin der materiell-rechtlichen Zurechnungszusammenhänge - zwischen bosnischen Serben und den politisch Verantwortlichen der damaligen sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien aus.
Nicht zuletzt dieser gewichtigen Fragen hatte sich der Internationale Gerichtshof (IGH) in der zu besprechenden Entscheidung anzunehmen. Allerdings agierte der Gerichtshof nicht als internationales Strafrechtstribunal, sondern hatte als höchstes justizielles Organ der Vereinten Nationen ausschließlich über die Verantwortlichkeit eines Mitgliedsstaats für Verletzungen völkerrechtlicher Normen aus einer UN-Konvention zu urteilen. Neben der zustimmungsabhängigen Anrufung des IGH zur Beilegung von Streitigkeiten zwischen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, vgl. Art. 36 I, II IGH-Statut, kann dem Gerichtshof im Rahmen von völkerrechtlichen Verträgen unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen auch die generelle Zuständigkeit für die Beilegung von Konflikten zugewiesen werden, die sich zwischen Vertragsstaaten ergeben. Eine entsprechende Klausel findet sich in Art. IX der Völkermordkonvention, der vorliegend die Gerichtsbarkeit des IGH eröffnet.[14] Kehrseite dieser Zuständigkeitsklausel ist die sachliche Beschränkung der Prüfungskompetenz des Gerichts auf Rechtsfragen, die im Zusammenhang mit dem jeweiligen Vertragswerk stehen. [15] Der Gerichtshof hatte vorliegend insofern nur über eine Verletzung der Verpflichtungen aus der Genozid-Konvention zu entscheiden, nicht hingegen über sonstige Verstöße gegen internationales Recht, namentlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen.
Die Völkermordkonvention zählt zu den ersten internationalen Dokumenten, die Regelungen zum Völkerstrafrecht enthalten. Am 9. Dezember 1948 nahm die Generalversammlung die abschließende Fassung der Konvention mit der Resolution 260 (A)(III) an. Sie trat am 12. Januar 1951 in Kraft. Inhaltlich befasst sich die Konvention vor allem mit der Strafbarkeit von Individuen, ohne allerdings neues Recht zu begründen, denn die Strafbarkeit des Völkermords war bereits zum damaligen Zeitpunkt unabhängig von bestehenden oder abweichenden
nationalen Regelungen gewohnheitsrechtlich anerkannt. [16] Art. II, III definieren den Genozid und seine Begehungsformen. Art. IV schließt einige klassische Verteidigungsgründe (defences) des Völkerrechts explizit aus. Um die verantwortlichen genocidaires in diesem Umfang wirksam strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können, verpflichtet Art. V die Vertragsparteien, die notwendigen legislatorischen Schritte einzuleiten,[17] während Art. VI eine Verpflichtung zur Strafverfolgung verdächtigter Personen einführt. Darüber hinaus werden weitergehende Pflichten der Vertragsstaaten ausdrücklich nur bezüglich der Prävention des Völkermordes begründet, vgl. Art. I.
Prima vista sind die Vertragsstaaten mithin allein zur Prävention genozidaler Akte sowie zur Strafverfolgung der individuell Verantwortlichen verpflichtet. Mit der vorliegenden Rechtssache war jedoch erstmals ein Verfahren in das Stadium der Entscheidungsreife vorgerückt, in dem ein souveräner Staat einen anderen Vertragsstaat der Begehung eines Völkermords bezichtigt hatte. [18] Vor diesem Hintergrund war der IGH gezwungen, Neuland zu betreten. Sein Urteilsspruch verhieß Grundlegendes, da weder verbindlich geklärt war, ob die Vertragsstaaten der Völkermordkonvention über die Verletzung der Präventions- und Verfolgungspflicht hinaus auch direkt - und damit neben den verantwortlichen Individualpersonen - für die Tatbegehung zur Verantwortung gezogen werden können, noch Einigkeit darüber bestand, ob es sich bei einer solchen potentiellen Verantwortlichkeit eines Staates um eine besondere Form der (völker-)strafrechtlichen Verantwortlichkeit oder die allgemeine völkerrechtliche Staatenverantwortlichkeit für ein Völkerrechtsverbrechen handelt.
In Anbetracht dieser Ausgangslage erscheinen die Ausführungen des IGH bahnbrechend. Erstmals wird ein Staat wegen Verstoßes gegen die Völkermordkonvention verurteilt. Dabei klärt der IGH die bis dato höchst strittige Frage, ob ein Signatarstaat der Konvention als Entität selbst einen Genozid begehen und für dieses völkerrechtliche Verbrechen als Staat zur Verantwortung gezogen werden kann, dahingehend, dass die Präventionspflicht aus Art. I der Völkermordkonvention die Verantwortlichkeit des Vertragsstaates wegen der Begehung des Genozids impliziere, wenn dieser durch Staatsorgane oder zurechenbares Verhalten anderer Personen verübt wurde. Dabei soll es sich nach Auffassung des Gerichtshofs allerdings um eine Verantwortlichkeit nach den allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit handeln. Die Antwort auf die intensiv diskutierte Möglichkeit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Staaten fällt negativ aus. Entscheidungserheblich waren diese Ausführungen aber letztlich nicht. Die Verurteilung erfolgt aus unten näher auszuführenden Gründen nicht für die Begehung eines Völkermordes durch Serbien. Sie gründet sich auf das Unterlassen wirksamer Maßnahmen zur Verhinderung des Genozids in Srebrenica sowie das Unterlassen der Strafverfolgung der Täter.
Bevor der IGH sich der materiellen Begründetheit der Klage widmen konnte, musste er sich zunächst der eigenen Gerichtsbarkeit vergewissern. Die Zuständigkeit des Haager Gerichtshofs stand in Frage, da der Antrag Bosnien-Herzegowinas im Jahr 1993 zu einem Zeitpunkt eingebracht worden war, zu dem die Mitgliedschaft Jugoslawiens bei den Vereinten Nationen wegen des Balkan-Konflikts bereits suspendiert war. Erst im Jahr 2001 erfolgte eine Wiederaufnahme des Nachfolgestaats Serbien-Montenegros. Serbien hatte aus diesem Grund Einspruch gegen seine Bezeichnung als Antragsgegner erhoben, weil man zum Zeitpunkt der Antragstellung weder Rechtsnachfolger der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien noch selbst Vertragsstaat der Völkermordkonvention gewesen wäre. Dem Gerichtshof hätte es insofern an der Gerichtsbarkeit ratione personae gemangelt. Der IGH verwarf diesen Einspruch unter Rückgriff auf den Grundsatz der res judicata, da bereits zuvor in zwei Entscheidungen aus den Jahren 1996 und 2003 rechtskräftig über die Zulässigkeit des Antrags von Bosnien-Herzegowina befunden worden war.[19]
Bereits im ersten Schritt der Begründetheitsprüfung galt es zu klären, ob ein Vertragsstaat selbst für die Begehung eines Völkermordes als Entität verantwortlich i. S. d. Völkermordkonvention sein kann. Diese Frage ist im internationalen Schrifttum seit langem umstritten.[20] Auch Serbien hatte während des Verfahrens den Einwand erhoben, dass die Völkermordkonvention keine Staatenverantwortlichkeit für die Begehung eines Völkermords vorsieht, sondern diesbezüglich lediglich einen Straftatbestand zur Verfolgung der einzelnen Akteure statuiert. Nach Auffassung des Gerichtshofs gehen die Verpflichtungen der Vertragsparteien jedoch über die Präventions- und Strafverfolgungspflicht hinaus. Sie erstrecken sich auch auf die Verpflichtung, keine der diversen Bege-
hungsformen des Genozids gem. Art. III der Konvention zu verwirklichen.[21] Dies folge bereits aus dem Wortlaut des Art. I, der eine eigenständige Verpflichtung neben den folgenden Vorschriften der Konvention statuiert.[22] Es findet sich zwar keine ausdrückliche Verpflichtung, keinen Völkermord zu begehen, doch ergebe sich eine solche aus dem anerkannten Ziel der Konvention.[23] Wenn der Völkermord als Straftat im Völkerrecht anerkannt wird, so müssten sich die anerkennenden Staaten nach internationalem Recht seiner Begehung enthalten. Schon aus der Einführung einer Präventionspflicht in Art. I der Völkermordkonvention ergebe sich zwingend, dass auch eine unmittelbare Verantwortlichkeit des Vertragsstaates für die Begehung des Genozids bestehe, wenn dieser durch Staatsorgane oder zurechenbares Verhalten anderer Personen ausgeführt wurde. Die Präventionspflicht impliziere die Verpflichtung, keinen Völkermord zu begehen. Seine Auffassung sieht der IGH durch den Wortlaut des Art. IX bestätigt, der von der " … responsibility of a State for genocide or any of the other acts enumerated in Article III … ” spricht.[24] Da die Zuständigkeitszuweisung an den Gerichtshof über die Konstellation einer Verletzung der Präventions- und Strafverfolgungspflicht hinausgeht und die Begehung von Völkermord allgemein einschließt, lässt sich im Rückschluss die Interpretation des Art. I durch den IGH untermauern.
Damit war der IGH bei der äußerst intrikaten Frage angelangt, um welche Form potentieller Verantwortlichkeit es sich bei staatlicher Begehung eines Völkermords handelt. Das Völkerrecht erkannt eine strafrechtliche Verantwortlichkeit von Staaten bisher nicht an.[25] Obgleich nichts anderes in Rede steht als die Begehung des schwerwiegendsten Tatbestandes des Völkerstrafrechts durch einen Vertragsstaat, argumentiert der Gerichtshof, dass die Völkermordkonvention nicht als Vehikel instrumentalisiert werden dürfe, um eine strafrechtliche Verantwortung durch die Hintertür einzuführen.[26] Soweit die Konvention Fragen des materiellen Strafrechts zum Gegenstand hat, ginge es um die Strafverfolgung der individuellen Täter.[27] Im Hinblick auf die Vertragsstaaten begründe die Völkermordkonvention nur Verpflichtungen rein völkerrechtlicher Natur, für deren Verletzung die Vertragsstaaten nach den Regeln des Völkerrechts zur Verantwortung gezogen werden können.[28] Dabei sieht sich der IGH erneut durch den historischen Rekurs auf den Entstehungsprozess der Konvention bestätigt.[29] In der Tat hatten diejenigen Staaten, die von Beginn an eine Staatenverantwortlichkeit propagierten, konziliant darauf verwiesen, dass diese nicht strafrechtlicher Natur sein würde.[30] Auch im Kontext des aktuellen Verfahrens wurde die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit regelmäßig ausgeschlossen.[31]
Der IGH folgt damit einem differenzierenden Ansatz: Eine Zuschreibung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für die Begehung des Genozids scheidet aus, da nur Individuen internationale Straftaten begehen können, während ihr Verhalten dem Vertragsstaat über die Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit zugerechnet werden kann. Er hält sich damit im Rahmen der etablierten Verantwortungsdualität, wonach der Begriff des Völkerrechtstrafrechts diejenigen Normen des Völkerrechts umfasst, welche die Strafbarkeit von Einzelpersonen unmittelbar begründen,[32] die Beziehungen souveräner Staaten unter-
einander und ihre Verantwortlichkeit für Verletzungen völkerrechtlicher Normen innerhalb dieses Verhältnisses aber als fester Bestandteil des klassischen Völkerrechts gelten.
Im zweiten Schritt der Prüfung war sodann über die Verwirklichung der Tatbestandsmerkmale des Art. II der Völkermordkonvention,[33] der die international verbindliche Definition des Völkermordes enthält,[34] zu befinden. Der Tatbestand umfasst Handlungen, die darauf abzielen, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten.[35] In objektiver Hinsicht sind primär Angriffe auf die physische Existenz und den sozialen Bestand von Gruppen erfasst.[36] Als Gruppe gilt eine durch gemeinsame Merkmale dauerhaft verbundene Personenmehrheit, die sich von der übrigen Bevölkerung abhebt.[37] Nach Auffassung des IGH müssen hierzu bestimmte positive Charakteristika vorliegen.[38] Der subjektive Tatbestand verlangt über den Vorsatz bezüglich aller objektiven Tathandlungen hinaus eine Zerstörungsabsicht (specific intent). Der Täter muss sich die ganze oder teilweise Zerstörung der Gruppe zum Ziel gesetzt haben.[39] Es ist dieses besondere Element, das dem Völkermord seine herausgehobene Stellung im Völkerstrafrecht verleiht.[40]
Bereits an dieser Stelle hielt das Verfahren ein hohes Maß an Schwierigkeiten für die Richter bereit, die nicht rein materiell-rechtlicher, sondern von tatsächlicher Natur waren. Der Gerichtshof hatte eine immense Fülle von Beweismaterialien zu sichten und zu bewerten, wobei erklärend darauf hinzuweisen ist, dass der IGH im Rahmen seiner Untersuchung nicht allein über die Bewertung der Geschehnisse in Srebrenica zu befinden hatte. Überdies waren zahlreiche weitere schwerste Verbrechen und Massentötungen während des Bürgerkrieges zu berücksichtigen, denn Bosnien-Herzegowina hatte unter anderem auch bezüglich der fürchterlichen Zustände in den berüchtigten Lagern Omarska, Keraterm und Trnopolje[41] die Feststellung der Verwirklichung des Völkermordtatbestandes begehrt.[42] Zur Erleichterung des Entscheidungsgangs hat sich der Gerichtshof deshalb stark an den Feststellungen des ICTY orientiert, um von dessen Vorarbeiten profitieren zu können. Insgesamt nimmt der Gerichtshof zwar eine eigenständige Bewertung des vorliegenden Faktenmaterials vor, gleichwohl werden einschlägige Entscheidungen und Würdigungen des ICTY zur Tatsachenlage als hochgradig überzeugend (highly persuasive) hinzugezogen.[43] Auf dieser Grundlage konn-
te der IGH in den letztgenannten Konzentrationslagerfällen und weiteren untersuchten Sachverhalten trotz zweifelsfreien Nachweises von massenweise begangenen Tötungshandlungen (massive killings) keine Überzeugung vom Vorliegen eines specific intent auf Seiten der Täter gewinnen.[44] Ausschließlich die Massenerschießungen in Srebrenica wurden als Völkermord kategorisiert, da man die Zerstörungsabsicht des Generalstabs (main staff) der VRS für gegeben erachtete.[45] Damit hielt sich der IGH in den Bahnen, die zuvor der ICTY abgesteckt hatte. In den Strafsachen " Krsti ć" und " Blagojevi ć" hatte das Tribunal das Vorgehen der VRS in der Schutzzone Srebrenica bereits zweimal als Völkermord eingestuft.[46] Richtungweisend war vor allem die Feststellung der erforderlichen Zerstörungsabsicht im Kreise des Generalstabs.[47]
Im Anschluss an diese Feststellung galt es für den Gerichtshof, Farbe zu bekennen und zu klären, ob die Begehung des Völkermordes in Srebrenica dem Antragsgegner zurechenbar ist. Auf der Grundlage der völkergewohnheitsrechtlichen Regeln zur Staatenverantwortlichkeit prüft das Gericht zunächst, ob das Verbrechen durch Staatsorgane begangen wurde, die denknotwendig als Instrumente des Staates zählen und dem Antragsgegner deshalb zurechenbar sind.[48] De jure waren jedoch weder die VRS noch die Republika Srpska (Republik der bosnischen Serben) Organe der jugoslawischen Zentralmacht. Die VRS agierte als Armee der bosnischen Serben und war nicht in die Staatsorganisation des ehemaligen Jugoslawien eingebunden. Ihre Befehlshaber waren keine amtlichen Funktionsträger Belgrads. Unter Hinweis auf das Staatsorganisationsrecht des ehemaligen Jugoslawien wischt der Gerichtshof den gegenläufigen Einwand Bosnien-Herzegowinas vom Tisch, das geltend gemacht hatte, dass alle Offiziere der VRS der jugoslawischen Militärverwaltung (30th Personnel Centre in Belgrad) unterstanden und überdies auch ihren Sold von dort bezogen. Nach Ansicht des IGH haben die in Rede stehenden Kreise gleichwohl keinerlei offizielle Funktion im Staatsgebilde des ehemaligen Jugoslawien ausgeübt.[49]
Die Kontrolle eines Staates über die ausführenden Personen und Gruppen kann sich aber derart verdichten, dass eine Zurechnung notwendig wird, um der Verantwortung des Staates für eine Verletzung des Völkerrechts Rechnung tragen zu können.[50] Zu diesem rechtlichen Zweck sind sie dann Organen des Staates gleichzusetzen. Für die Prüfung zählt also nicht der rechtliche Status, sondern eine Beziehung tatsächlich starker Abhängigkeit.[51] Der IGH verneint aber auch eine solche Abhängigkeit. Obgleich enge militärische, politische und logistische Verbindungen bestanden, die dem Antragsgegner erheblichen Einfluss über die bosnischen Serben verliehen, werde die Haftung auslösende Schwelle nicht überschritten.[52] Der Grad der Einflussnahme sei nicht stark genug gewesen, um eine Gleichsetzung mit Staatsorganen zu rechtfertigen.
Doch selbst wenn die Handelnden die Qualität des Staatsorgans nach den vorgenannten Grundsätzen nicht aufweisen, kann sich eine Verantwortlichkeit des Staates nach den völkergewohnheitsrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit gleichwohl ergeben, wenn sie zumindest unter Anweisungen oder Kontrolle (instructions, direction or control) gewirkt haben. [53] Auch nach den Artikeln der International Law Commission (ILC) über die Verantwortlichkeit von Staaten für völkerrechtswidriges Handeln gilt nichts anderes.[54] In Art. 8 wird die Zurechenbarkeit davon abhängig gemacht, ob auf Anweisung oder unter Anleitung oder Kontrolle des Staates gehandelt wird. Der IGH hatte diesen abstrakten Maßstab bereits zuvor in seiner berühmten "Nicaragua"-Entscheidung konkretisiert. Danach muss der Staat eine effektive Kontrolle (effective control) über die Operationen ausgeübt haben, in deren Verlauf es zu der Verlet-
zung völkerrechtlicher Normen kam.[55] Die Antragstellerin hatte die Anwendbarkeit dieses Maßstabs zuvor in Frage gestellt und vielmehr auf den weniger strengen Standard der "overall control" abgestellt, den der ICTY in " Tadi ć" eingeführt hatte.[56] Der IGH verwirft diese Interpretationsweise nach vorgeblich sorgfältiger Auseinandersetzung.[57] Als Strafgericht habe der ICTY nicht mit dem Anspruch der Verbindlichkeit über eine Fortentwicklung der Staatenverantwortlichkeit zu entscheiden. Solche rein völkerrechtlichen Fragen lägen außerhalb seiner Gerichtszuständigkeit.[58] Im Übrigen sei der Maßstab in einem anderen Kontext angelegt worden, namentlich zur Bestimmung, ob der behandelte Konflikt internationaler Natur ist. In der Sache schreckt der Gerichtshof davor zurück, die Voraussetzung der effective control als gegeben anzunehmen.[59] Es seien keine konkreten Anweisungen zu Durchführungen der Massenerschießungen von Repräsentanten Belgrads an die ausführenden Täter ausgegeben worden. Letztere hätten weder nach den Instruktionen noch sonstiger Anleitung des Antragsgegners gehandelt. Auch eine anderweitige hinreichend effektive Kontrolle über die Armeeführung der bosnischen Serben sei nicht belegt worden.[60] Trotz starker Indizien für eine allgemeine Beteiligung und Planungshilfe seitens der jugoslawischen Armee bei Operationen der VRS in Bosnien-Herzegowina findet der Gerichthof keinen befriedigenden Nachweis für eine hinreichende Involvierung in das Massaker von Srebrenica.[61]
Eine direkte Verantwortlichkeit für den Völkermord in Srebrenica scheidet mithin mangels Zurechenbarkeit der unmittelbaren Tatbegehung nach den Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit aus. Damit war die Prüfung jedoch noch nicht am Ende angelangt. Nach Auffassung des IGH erstreckt sich die Verpflichtung der Vertragsparteien, keinen Völkermord zu verüben, auf alle Begehungsformen des Art. III, unabhängig von einer ausdrücklichen Geltendmachung des Antragstellers. Der Gerichtshof räumt zwar ein, dass es sich bei diesen Kategorien um strafrechtliche Konzepte zur Begründung der Strafbarkeit individueller Täter handelt, doch gebiete der Schutzzweck der Konvention - trotz der Unterschiede in Natur und Grund der Haftung - wenigstens die Annahme einer völkerrechtlichen Verantwortlichkeit des Staates, wenn diesem Akte i. S. d. Art. III zurechenbar sind.[62] Eine Konventionsverletzung ergäbe sich also auch dann, wenn zwar nicht der Völkermord selbst, wohl aber eine der übrigen Begehungsformen des Art. III (b)-(e) durch zurechenbare Personen oder Organe verwirklicht wurde. Nachdem die offensichtliche Irrelevanz der Varianten (b) und (c) konstatiert ist,[63] wendet sich der Gerichtshof Art III (e) - Teilnahme am Völkermord (complicity in genocide) - zu.[64]
Die Prüfung von complicity erscheint gerade deshalb aussichtsreich, weil es in dessen Rahmen nicht mehr um die Zurechnung der unmittelbaren genozidalen Akte, sondern um diejenige der Unterstützungshandlungen zu diesen Taten handelt, deren Urheber in der Regierung des ehemaligen Jugoslawien zu finden waren. Im Mittelpunkt der Prüfung der complicity steht die Ermöglichung oder Erleichterung der Tatbegehung durch Hilfeleistung. Zwar ist complicity keine anerkannte Kategorie der völkerrechtlichen Staatenverantwortlichkeit, doch weist sie aus der Sicht des IGH eine hinreichende Ähnlichkeit zum gewohnheitsrechtlich anerkannten Konzept von aid or assistance in the commission of an internationally wrongful act auf, das sich auch in Art. 16 der bereits erwähnten ILC Articles wiederfindet. Der Gerichtshof sieht keinen substantiellen Unterschied zwischen diesen Figuren, der einer Anwendung in der konkreten Konstellation entgegenstünde.[65] Die Untersuchung der Verantwortlichkeit Serbiens nach Art. III (e) fokussiert sich deshalb auf die Frage, ob Organe des Antragsgegners oder Personen, die unter dessen Anweisungen oder direkter Kontrolle handelten, die Begehung des Völkermordes in Srebrenica i. S. von "aid or assistance" unterstützt haben.
Der Gerichtshof hegt keinen Zweifel daran, dass der Völkermord unter Rückgriff auf Ressourcen begangen
wurde, die im Rahmen einer allgemeinen Unterstützungsdoktrin durch die Belgrader Regierung gewährt wurden. Doch steigt der Gerichtshof nicht in eine detaillierte Zurechnungsprüfung ein, da er sich sogleich den subjektiven Verantwortungsvoraussetzungen zuwendet. Auch im Rahmen der Haftung wegen complicity in genocide bleibt die Zerstörungsabsicht das charakteristische Element des Völkermords. In Anlehnung an die internationale Dogmatik zur Beteiligungsform der complicity wird jedoch nicht verlangt, dass der Antragsgegner selbst eine Zerstörungsabsicht hegen musste. Hinreichend sei das Wissen um die besondere Absicht des Haupttäters.[66]
Unterstützendes Organhandeln hätte also wissentlich (knowingly) erfolgen müssen. Vorliegend sah der IGH aber den Beweis nicht als erbracht an, dass sich die zuständigen Entscheidungsträger des ehemaligen Jugoslawien des specific intent des principal perpetrator bewusst waren, als sie ihre Hilfsleistungen tätigten. Es konnte aus der Sicht des Gerichtshofs nicht nachgewiesen werden, dass Organe des Antragsgegners nach der Einnahme von Srebrenica über die Bildung einer Zerstörungsabsicht innerhalb der Führung der VRS unterrichtet wurden oder die involvierten staatlichen Instanzen Serbiens auf sonstige Weise Kenntnis erlangt hätten.[67] Dabei differenziert der IGH zwischen ethnic cleansing und Völkermord. Beide fielen nicht notwendig zusammen, so dass aus dem Wissen Belgrader Kreise um derartige Säuberungsmaßnahmen in Bosnien nicht auf Kenntnis eines specific intent geschlossen werden kann.[68] Auch diverse Strategiepapiere, die gemeinsame Ziele der Führung der bosnischen Serben und des ehemaligen Jugoslawiens festlegten, vermochten es nicht, den specific intent hinreichend zum Ausdruck zu bringen.[69]
Hinsichtlich der damit verbundenen Beweisfragen stellt der IGH klar, dass der Beschwerdeführer die volle Beweislast für den Nachweis aller Tatbestandselemente trage und Vorwürfe von außergewöhnlicher Schwere zur vollen Überzeugung (fully conclusive) des Gerichtshofs nachzuweisen sind.[70] Besonders bezüglich der Zerstörungsabsicht müssen die Beweismittel in einem hohen Maß überzeugend (fully convinced that acts have been clearly established) sein, um der Ernsthaftigkeit der Anschuldigung Rechnung zu tragen. Das Argument Bosnien-Herzegowinas, dass der specific intent aus allgemeinen Handlungsmustern des serbischen Militärs und ihrer Führer herzuleiten sei, vermochte den Gerichtshof nicht zu überzeugen.[71] Er sah keine Kette von Ereignissen, aus denen man den Schluss auf das Vorliegen einer Zerstörungsabsicht ziehen durfte. Eine Feststellung der Begehung eines Völkermordes in Form der complicity scheidet demnach aus. Da der IGH kein Mandat zur Untersuchung einer möglichen Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen hatte, konnte sich eine Vertragsverletzung Serbiens im Rahmen der Völkermordkonvention lediglich noch bezüglich der Pflicht, die Begehung genozidaler Akte zu verhindern und diese ex post adäquat zu ahnden, ergeben. Die Präventionspflicht existiert neben der Verpflichtung, keine complicity in genocide zu begehen. Während die Haftung für letztere Begehungsform aus einem aktiven (unterstützenden) Verhalten resultiert, wird sie in ersterem Fall durch ein Unterlassen begründet.
Anders als complicity in genocide verlangt die Präventionspflicht nicht, dass sich die Führung Serbiens einschließlich des damaligen Präsidenten Milo š evi ć der besonderen Absichten der bosnischen Serben bewusst war. Vielmehr genügt das Bewusstsein eines ernstzunehmenden Risikos. Tritt eine Situation ein, die eine Eskalation bis zum Völkermord dringend befürchten lässt, löst dies die Präventionspflicht gem. Art. I der Völkermordkonvention aus.[72] Zur Vertragsverletzung reicht dann im Gegensatz zur complicity bereits ein Unterlassen aus. In dieser Hinsicht befand der IGH, dass die Führung des ehemaligen Jugoslawiens schwerlich die aufziehenden Gefahren übersehen konnte, die nach der Besetzung der Enklave drohten.[73]
Von großer Bedeutung für den zukünftigen Umgang mit der Präventionspflicht dürften die anschließenden Ausführungen des Gerichts zum erforderlichen Maß von Möglichkeit und Erfolgsaussichten einer Abwendung sein. Entscheidend sei danach nicht, ob der Völkermord sich bei zeitigem Einschreiten tatsächlich hätte abwenden lassen, sondern ob der Vertragsstaat alle ihm im Rahmen der Angemessenheit zur Verfügung stehenden Mittel genutzt hat, um dessen Begehung zu verhindern (best efforts within their powers). Eine hypothetische Kausalität ist nicht erforderlich. Hinreichend ist der Nachweis ausreichender Mittel zum Eingreifen und die Manifestation der Abstandnahme von deren Einsatz. Gemessen an der Begriffswelt des deutschen Strafrechts macht der IGH die Präventionspflicht damit zu einem echten Unterlassungsdelikt.
Den so präzisierten Anforderungen wurde die Antragsgegnerin nach den Feststellungen des Gerichtshofs nicht gerecht.[74] Indem sie ihren starken Einfluss über politische, militärische und finanzielle Verbindungen nicht zur Tatverhinderung nutzte, hat sie in besonders eklatanter Form gegen das Präventionsgebot verstoßen.[75] Aufgrund der international geäußerten Besorgnis und der eigenen Wahrnehmung hätte insbesondere Milo š evi ć aktiv werden müssen.[76]
Auch der separaten Verpflichtung aus Art. VI der Völkermordkonvention wurde Serbien nach Auffassung des Gerichts nicht gerecht. Des Völkermords verdächtigte Personen sind strafrechtlich zu verfolgen und zur abschließenden Entscheidungsfindung über den Vorwurf einem kompetenten Strafgericht zuzuführen. Diese Verpflichtung habe Serbien in mannigfaltiger Form verletzt. Dies gelte insbesondere für die Kooperation mit dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag. Denn die Verpflichtung aus Art. VI schließt die Kooperation mit den zuständigen Internationalen Tribunalen ein.[77] Insbesondere das Ausbleiben der Verhaftung Ratko Mladi ć s trotz dessen hochwahrscheinlichen Aufenthalts auf serbischem Territorium wiege besonders schwer.[78]
Die Abhilfeentscheidung ist nach der Feststellung der multiplen Konventionsverletzungen neben deren deklaratorischer Feststellung vor allem auf Bewirkung des erforderlichen Grades der Zusammenarbeit mit dem ICTY gerichtet.[79] Nach Maßgabe der Entscheidung hat Serbien Täter, die des Völkermords angeklagt und auf dessen Territorium aufhältig sind, an das Tribunal zu überstellen. Eine besondere Bedeutung wird dabei der Person Ratko Mladi ć s beigemessen, dessen zügige Ergreifung und Auslieferung explizit angemahnt wird. Eine Verurteilung zu Reparationsleistungen, die jedenfalls bei Verurteilung für die Begehung eines Völkermordes in immenser Höhe fällig geworden wären, unterbleibt, da mangels inneren Zusammenhangs zwischen den unmittelbar durch das Verbrechen in Srebrenica verursachten Kosten und der Konventionsverletzung Serbiens eine finanzielle Kompensation unangemessen schien.[80]
Im deklaratorischen Teil der Abhilfeentscheidung stellt der IGH erstmals eine Verletzung der Völkermordkonvention fest. Dass dies nicht im Hinblick auf die Begehung des Völkermordes in Srebrenica erfolgt, ist im unmittelbaren Anschluss an die Verkündung scharf kritisiert worden. Diese Kritik speist sich aus zwei Hauptquellen: dem angelegten Beweisstandard und der Außerachtlassung hochgradig relevanten Beweismaterials. So hält Cassese die herangezogenen Maßstäbe für unrealistisch hoch.[81] Gerade angesichts der Schwere der Anschuldigungen bleibt es aber eine intrikate Angelegenheit, aus den äußeren Umständen auf die subjektive Kenntnis einer besonderen subjektiven Absicht zu folgern. Das Fehlen schriftlicher Dokumentation und manifester Anweisungen wirkt sich massiv auf die Möglichkeiten des Gerichtshofs zu überzeugender Entscheidungsfindung aus. Ein Pendant zur Wannsee-Konferenz fand offenbar nie statt. Und "deutsche Gründlichkeit" bei der Protokollierung seiner Pläne und Verbrechen hat das ehemalige Jugoslawien wohl ebenfalls nicht walten lassen. An diesem Punkt weckt allerdings erhebliches Un-
behagen, dass der IGH seine Suche nach entsprechenden Verkörperungen der Absichten Jugoslawien selbst unnötig beschränkt und auf relevantes Beweismaterial verzichtet zu haben scheint. Der ICTY hatte 2003 nach langem zähem Ringen geheime, hoch vertrauliche Unterlangen aus Belgrad erhalten. Das umfangreiche Beweismaterial soll Aufschluss über die Beratungen im Obersten Verteidigungsrat (Supreme Defence Council) zwischen militärischer und politischer Führung des ehemaligen Jugoslawien sowie ihre Handlungsziele und -motive geben. Der IGH hat dieses Beweismaterial nicht hinzugezogen.[82] Hätte der Gerichtshof volle Einsicht genommen und Zugang zu allen verfügbaren Dokumenten erzwungen, wäre die Entscheidung möglicherweise anders ausgefallen.[83] Nicht nur das Ausmaß des Wissens um die Zerstörungsabsicht der VRS, sondern auch die Frage der Zurechnung der VRS als de facto-Organ wäre unter Umständen in anderem Licht erschienen.[84] Bedauernswert ist daher, dass ein Antrag Bosnien-Herzegowinas auf Herausgabe der Dokumente, gegen die sich Serbien unter Verweis auf Interessen der nationalen Sicherheit energisch gewehrt hatte,[85] vom IGH gerade mit der Begründung zurückgewiesen wird, es sei hinreichend Beweismaterial gesammelt worden, nur um an den wichtigsten Stellen des Urteils seine Entscheidung mit dem Fehlen überzeugungskräftiger Beweise zu begründen.[86] Man könnte an diesen entscheidenden Stellen des Urteils eine gewisse Unausgewogenheit beanstanden. Während das Urteil in weiten Teilen sehr weit ausholend und gründlich formuliert ist, wirkt die Argumentationskette an den zentralen Punkten apodiktisch knapp.
Wenn darüber hinaus kritisiert wird, dass der IGH Milo š evi ć posthum sogar Absolution erteilt hat und die Arbeit des ICTY in künftigen Verfahren, zu deren Gegenstand auch der Anklagepunkt des Völkermords zählt, erheblich erschwert hat,[87] kann dem nicht gefolgt werden. Eine Reinwaschung Milo š evi ćs kann dem Urteil nicht entnommen werden. Der IGH erkennt vielmehr eine Dualität von Verantwortlichkeiten an, die als Konsequenz auch eine Dualität von Zurechnungsmechanismen mit sich bringt. Während es im Verfahren vor dem IGH bei den hergebrachten Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit bleibt, gelten vor dem ICTY die strafrechtlichen Zurechnungskonzepte, wie sie vornehmlich durch das Tribunal selbst entwickelt worden sind. Es kämen primär command responsibility und joint criminal enterprise zum Zuge.[88] Während die " Blaškić "-Entscheidung allerdings die Anforderungen an den Nachweis einer command responsibility höher schraubte,[89] findet in der sog. 3. Kategorie von joint criminal enterprise eine bedenkliche Ausdehnung der Strafbarkeit Einzelner für kollektive Straftaten statt. Der Täter soll danach auch für alle nicht intendierten Straftaten verantwortlich sein, die in natürlicher und vorhersehbarer Weise bei der Umsetzung eines gemeinsamen Gesamtziels von anderen Beteiligten begangen werden.[90] Das mens rea-Element ist in dieser Spielart des joint criminal enterprise auf den dolus eventualis reduziert.[91] Der Täter muss sich lediglich bewusst sein, dass die Begehung genozidaler Akte sehr wahrscheinlich ist und dieses Risiko willentlich in Kauf nehmen.[92] Eine Verurteilung serbischer Verantwortungsträger für den Srebrenica-Komplex ist nach dieser Maßgabe ohne Widerspruch gegenüber den Feststellungen des IGH möglich.[93] Erhöht
wird deren Wahrscheinlichkeit durch die offenbar stärkere Bereitschaft des ICTY, Schlüsse auf den Vorsatz aus den äußeren Umständen des Falles zu ziehen. Ferner ist denkbar, dass der ICTY Zugang zu einem größeren Fundus an Beweisunterlagen haben wird und schon deshalb zu einem anderen Ergebnis gelangen könnte. Als Strafgericht dürfte sich der ICTY anders als der IGH nicht von den Hinhalte- und Verhinderungstaktiken Belgrads aus der Bahn werfen lassen, sondern die Einbeziehung der oben erwähnten Dokumente erkämpfen.
Im Übrigen bemüht sich der IGH über den Rechtsfolgenausspruch in begrüßenswerter Weise selbst um eine aktive Förderung der noch laufenden Strafverfahren vor dem ICTY. Dies soll insbesondere durch die Überstellung der Schlüsselfigur Mladi ć an das Haager Tribunal geschehen, die Serbien aufgegeben wird. Seine Präsenz verhieße neben der Möglichkeit der Durchführung der gewichtigsten anhängigen Verfahren vor allem die Aufklärung nach wie vor bestehender, entscheidungserheblicher Unklarheiten über Umfang und Wege der Einflussnahme der Belgrader Regierung auf die bosnischen Serben. Eine Verhaftung Mladi ć s ist freilich unwahrscheinlich, woran schmerzlich deutlich wird, dass es dem Völkerstrafrecht trotz "vollstreckbaren Titels" des IGH an einem effektiven Vollstreckungsorgan gebricht, das Urteilsinhalte verwirklicht bzw. die Verfahrensdurchführung erst ermöglicht.[94] Mit dieser Erkenntnis sind wir bei den Implikationen der Entscheidung für die zukünftige Entwicklung des Völkerstrafrechts angelangt.
Die Bedeutung des Urteils weist weit über seinen konkreten Inhalt und dessen partielle Kritikwürdigkeit hinaus. Der IGH leistet einen wesentlichen Beitrag zur Fortbildung des Völkerstrafrechts. Bei seinen Würdigungen orientiert er sich - abgesehen von einem einzigen klaren Dissens beim Maßstab der "overall controll" aus " Tadi ć"[95] - an Wertungen des Jugoslawien-Tribunals und verleiht dessen definitorischen Ansätzen und Rechtsfortbildungen eine größere Dignität.[96] Angesichts des Entwicklungsstadiums und des geringen Umfangs von Jurisprudenz zum Völkermord-Tatbestand ist das ein wichtiger Schritt nach vorn, [97] der auch auf die künftige Tätigkeit des IStGH ausstrahlen wird.
Richtungweisend für das Völkerstrafrecht ist auch die Absage an eine strafrechtliche Verantwortlichkeit souveräner Staaten. Seit langem wird diskutiert, ob ein Staat auch Zuschreibungsobjekt strafrechtlicher Verantwortung sein kann.[98] Ein entsprechender Passus in Art. 19 des ersten Entwurfs der ILC Articles on State Responsibility, der aus dem Jahr 1996 datierte, sah noch die Möglichkeit einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Staaten vor,[99] wurde aber in der 2001 angenommenen Endfassung ersatzlos gestrichen. Obgleich Völkerstraftaten primär durch Staaten initiiert und durchgeführt werden, soll sich das Völkerstrafrecht nach herrschender Auffassung nur an die individuellen Täter richten, während der Staat nach völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit haften würde. Gerade in der vorliegenden Konstellation fragt man sich, ob diese Aufsplittung nicht eher einer protestatio facto contraria gleichkommt. Die Konvention bestätigt völkervertraglich die Strafbarkeit des Völkermordes und ihren außergewöhnlichen Rang als jus cogens. Sie gestattet zugleich die Feststellung der Verantwortlichkeit eines Staats als Entität für die Verwirklichung eines Tatbestandes des Völkerstrafrechts.[100] Welche Art von Verantwortlichkeit wird in einer solchen Konstellation also verwirkt? Aus den verfügbaren Reaktionsmitteln lässt sich
jedenfalls nichts gegen eine Verantwortungszuschreibung strafrechtlicher Natur herleiten. Die potentiellen Sanktionen wären nicht nur auf Restitution ausgelegt gewesen, sondern hätten ebenfalls eine ethische Missbilligung in sich getragen, wie sie für punitive Reaktionsmittel kennzeichnend ist.[101] Demgegenüber wird geltend gemacht, dass ein Staat nicht Objekt kriminalrechtlicher Sanktionen sein kann. Diese könnten wegen ihrer Natur nicht gegen einen Staat verhängt oder vollzogen werden.[102] Bedenkt man die weltweiten Entwicklungen in der Pönologie und ihre Suche nach neuen bzw. alternativen Reaktions- und Sanktionsformen, die sich ebenfalls vom tradierten Strafverständnis wegbewegen, erscheint dieses Argument freilich wenig durchschlagskräftig. [103]
Es finden sich allerdings noch weitere Gründe, die gegen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit ins Feld geführt werden. Zum einen lasse sich für einen Staat konstitutionell keine mens rea feststellen.[104] Zum anderen widerspreche eine kriminalrechtliche Bestrafung eines Staates auf Betreiben eines anderen dem Souveränitätsgedanken und der Gleichheit der Staaten.[105] Mit der Anerkennung der Strafbarkeit von Korporationen in vielen Jurisdiktionen gerät diese Argumentation allerdings ins Schwanken. Dass es Unternehmen an einer mens rea im natürlichen Sinn fehlt und klassische Körper- und Freiheitsstrafen nicht gegen diese vollstreckt werden können, hat die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit in diesem Bereich nicht gehindert. Im Gegensatz zur Unternehmensstrafbarkeit ließe sich aber auf die Unvereinbarkeit einer solchen Verantwortungssteigerung mit dem herrschenden System des Völkerrechts verweisen. Mit einer westfälischen Ausrichtung auf friedliche Koexistenz und Kooperation souveräner Staaten ist der Gedanke strafrechtlicher Verantwortlichkeit von Staaten schwer zu vereinbaren. Das Völkerrecht hat in den zurückliegenden Jahrzehnten jedoch eine Diversifizierung erfahren, die einen Schwerpunkt beim Schutz elementarer Humanitätsinteressen[106] und dem Konzept der good governance setzt.[107] Mit deren Grundanliegen ließe sich die Strafbarkeit eines Staates durchaus vereinbaren.[108]
Unangesprochen bleibt bei dem abstrakten Bekenntnis des IGH zu Haftungs- und Zurechnungsdualität zudem eine Thematik, die vor allem von Seiten der Strafrechtswissenschaft seit langem mit Sorge beobachtet wird. Während es bei der Zurechnung des Verhaltens von Personen und Gruppen zum Kollektiv, namentlich dem Staat, bei den strengen tradierten Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit bleiben soll, werden einzelnen Tätern durch expansive Interpretation von command responsibility und joint criminal enterprise mittlerweile kollektive Verhaltenweisen zugerechnet, die weit über die individuelle Vorwerfbarkeit hinausgehen. [109] Die Ausführungen zu den dominierenden Zurechnungsmodalitäten in der Jurisprudenz des ICTY markieren eindrucksvoll das Auseinanderfallen von Standards kollektiver Verantwortlichkeit und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit Einzelner.[110] Abhängend von der Zurechnungsrichtung gelten für denselben Sachverhalt divergierende Standards. Dass diejenigen, welche zur Verhängung schwerster Strafen gegenüber Individuen führen können, dabei wesentlich weniger streng ausfallen, ist aus Sicht der Strafrechtstheorie kaum erklärbar. Eine Aufarbeitung des Theoriedefizits ist ebenso dringend erforderlich wie ein grundsätzliches Nachdenken über die Überzeugungskraft einer völkerrechtlichen Strafrechtsdogmatik, die den Einzeltäter trotz des kollektiven Charakters der meisten Delikte des Kernvölkerstrafrechts entsprechend der Maßstäbe der liberalen Konstruktion
der dominierenden nationalen Strafrechtssysteme in das Zentrum der Zurechnungslehre stellt.[111]
Beschließen sollen die Schlussbetrachtung jedoch einige kritische Worte zur Handhabung des Völkermordtatbestandes in der internationalen politischen Arena und die potentielle Signalwirkung der Ausführungen des IGH zur Präventionspflicht. Die Anforderungen an eine Verurteilung werden vom IGH niedrig angesetzt. Schon das bloße Nichthandeln trotz tatsächlicher Fähigkeit zu wirksamen Gegenmaßnahmen soll eine Verantwortlichkeit nach der Völkermordkonvention auslösen. Eine hypothetische Kausalität, wonach das völkerrechtliche Verbrechen bei Einschreiten verhindert worden wäre, wird nicht zur Verurteilungsvoraussetzung gemacht. Diese Ausführungen gilt es für die Staatengemeinschaft nicht nur im Rückblick auf die Geschichte des Genozids in Ruanda, sondern auch angesichts der Geschehnisse in Darfur zu reflektieren. Andererseits offenbart gerade das Vorgehen in der Darfur-Krise ebenso wie das Agieren der Staatengemeinschaft im Verlauf des Völkermords in Ruanda, dass die Völkermordkonvention trotz des menschenrechtlichen Durchbruchs, den sie verkörpert, in der internationalen Politik des späten 20. und 21. Jahrhunderts zu nachgerade absurden Verwerfungen führt.[112] Es findet eine krasse Fokussierung der Debatten auf den Genozid statt.[113] Je nach politischem Bedürfnis wird das besondere Stigma des Genozids instrumentalisiert oder in oft erstaunlicher Argumentationsakrobatik versucht, das "G-Word" partout zu vermeiden, um die Notwendigkeit entschlossenen Handelns der internationalen Gemeinschaft herunterzuspielen. Dieser politische Missbrauch entwertet sowohl die Stellung des Völkermords im Völkerstrafrecht als auch die Bedeutung der häufig komplementären Verbrechen gegen die Menschlichkeit.[114]
[1] Die Entscheidung ist als pdf - Dokument abrufbar unter www.icj-cij.org/docket/files/91/13685.pdf [letzter Aufruf: 12.5.2007].
[2] Heute zählt die Strafbarkeit des Genozids nicht nur zum Völkergewohnheitsrecht (ICTR, Prosecutor v. Akayesu, Urteil vom 2. September 1998, ICTR-96-4-T, para 495), sondern gehört auch zum (verschwindend kleinen und inhaltlich höchst strittigen) Bestand des zwingenden Völkerrechts (ius cogens), IGH, Barcelona Traction, Light and Power Company, Limited (Belgium v. Spain), ICJ Rep. 1970, S. 3, para 33, 34.
[3] Zum Ursprung des Begriffs des Völkermordes Lippmann, Genocide, Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law, 2. Aufl. 1999, Vol. I, S. 589 ff. Der Terminus "Genozid” ist eine Kreation von Raphael Lemkin. Er setzt sich zusammen aus dem griechischen Substantiv "genos” (Rasse) und dem lateinischen Verb "caedere” (töten).
[4] Vest, Genozid durch organisatorische Machtapparate, 2002, S. 65 ff.
[5] Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9.12.1948, BGBl. 1954 II, S. 730; zur Entstehungsgeschichte Vest, Fn. 4, S. 95 ff.; Schabas, Genocide in International Law, 2000, S. 51 ff.
[6] Art. I: The Contracting Parties confirm that genocide, whether committed in time of peace or in time of war, is a crime under international law which they undertake to prevent and to punish.
[7] SR-Resolution Nr. 955 (1994).
[8] SR-Resolution Nr. 827 (1993); Schabas, Fn. 5, S. 378 ff., 382 ff.
[9] ICTR, Fn. 1[Akayesu].
[10] ICTR, Prosecutor v. Kambanda, Urteil vom 4. September 1998, ICTR-97-23-S.
[11] ICTY, Prosecutor v. Krstić, Urteil vom 19. April 2004, IT-98-33-A; ICTY, Prosecutor v. Blagojević, Urteil vom 17. Januar 2005, IT-02-60-T.
[12] Dieses Vorgehen diente als Operation "Krivaja 95” der Durchführung einer Anweisung des damaligen Präsidenten der Republik Srpska, Radovan Karadžić . Dieser fungierte kraft Amtes als Oberbefehlshaber der Armee und steuerte deren Vorgehen über Direktiven, vgl. ICTY, Prosecutor v. Krstić, Urteil vom 2. August 2001, IT-98-33-T, paras 28-30. ICTY, Fn. 10[ Blagojević ], paras 674, 677. Eine interessante Auswahl von Dokumentationsmaterialien zu den Geschehnissen in Srebrenica und ihrer Aufarbeitung findet sich bei Bogoeva/Fetscher (Hrsg.), Srebrenica, Ein Prozess, 2002.
[13] ICTY, Prosecutor v. Milošević, IT-02-54-T. Das OTP hatte dabei drei Anklagen miteinander verbunden, von denen sich nur eine mit dem Tatkomplex Völkermord in Bosnien-Herzegowina befasste. Gegenstand der anderen Anklagen waren Völkerstraftaten im Kosovo und in Kroatien.
[14] Art. IX: Disputes between the Contracting Parties relating to the interpretation, application or fulfilment of the present Convention, including those relating to the responsibility of a State for genocide or for any of the other acts enumerated in article III, shall be submitted to the International Court of Justice at the request of any of the parties to the dispute.
[15] Auch im Hinblick auf die Tatbestandsmerkmale und ihre Auslegung bildet allein die Konvention den zulässigen Ausgangspunkt der juristischen Argumentation.
[16] Schabas, Fn. 5, S. 77; Werle, Völkerstrafrecht, 2003, Rn. 538.
[17] Art. V: The Contracting Parties undertake to enact, in accordance with their respective Constitutions, the necessary legislation to give effect to the provisions of the present Convention, and, in particular, to provide effective penalties for persons guilty of genocide or any of the other acts enumerated in article III.
[18] Zu den bisherigen Verfahren siehe Schabas, Fn. 5, S. 425 ff.
[19] Vgl. paras 80 - 141; von einer ausführlichen Würdigung des Verfahrensgangs und der Entscheidungsgründe wird vorliegend aus Gründen der Schwerpunktsetzung auf den bedeutenderen materiellen Teil abgesehen; eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik findet sich bei Grant, 33 Stanford Journal of International Law 305 (1997), 306 ff.
[20] Statt vieler Schabas, Fn. 5, S. 434 ff.; Shaw, in: Dinstein (Hrsg.), International Law at a Time of Perplexity, 1989, S. 797, 813 f.
[21] Dagegen Schabas, Fn. 5, S. 443 f. - Das kennzeichnende Element des Völkermords ist die Zerstörungsabsicht, die ein Staat als Entität nicht selbst hegen könne. Begründete man eine Haftung des Staates nach der Völkermordkonvention für die Begehung eines Genozids, so käme es in Ermangelung eines prüfbaren specific intent zu einer Nivellierung gegenüber den Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
[22] Paras 162, 165. Dies wird entsprechend der Interpretationsmethoden der WVRK auf Wortlaut und Zweck des Artikels gestützt und durch Bezugnahme auf die travaux préparatoires unterstrichen. Art. I habe danach nicht den Charakter einer Präambel, para 164; Auf den ersten Blick befasst sich die Konvention zwar primär mit der Verfolgung der individuellen Täter. Dass man darüber die Verantwortlichkeit des dahinter stehenden Staates für Planung, Lenkung und Durchführung des Völkermordes nicht ausblenden dürfe, wurde gleichwohl schon im Entwurfsprozess geäußert, Schabas, Fn. 5, S. 419 - vornehmlich durch das Vereinigte Königreich. Ein Amendment, das die Staatenverantwortlichkeit nach Völkerrecht anerkannt hätte, wurde jedoch knapp abgelehnt. Wegen der Knappheit des Stimmverhältnisses sieht Schabas darin aber keine Zurückweisung des Gedanken einer Staatenverantwortlichkeit nach allgemeinen völkerrechtlichen Grundsätzen, insbesondere weil es in der Sixth Commission zu einer Vermischung völkerrechtlicher und völkerstrafrechtlicher Formen staatlicher Verantwortlichkeit gekommen war, S. 420.
[23] Para 166.
[24] Damit beseitigt der Gerichtshof die Unklarheiten, die seine Entscheidung vom 11. Juli 1996, Application of the Convention on the prevention and punishment of the crime of genocide (Bosnia and Herzegovina v. Yugoslavia (Serbia and Montenegro), Preliminary Objections, paras 32, 33, ausgelöst hatte. Im Übrigen enthält Art. IX eine Gerichtsstandklausel, die eigentlich keine neuen Verpflichtungen zu begründen vermag, sondern deren Existenz voraussetzt. Die Auslegung von Art IX ist insofern aber gleichwohl von großer praktischer Relevanz, da die Einbeziehung der Staatenverantwortlichkeit für einen Völkermord den erleichterten Zugang zum IGH eröffnen würde, während sonst für die prozessuale Geltendmachung der Staatenverantwortlichkeit die allgemeinen Gerichtsbarkeitsregelungen des IGH - Statuts Anwendung fänden.
[25] ICTY, Prosecutor v. Blaškić, Objection to the Issuance of Subpoena Duces Tecum, Urteil vom 29. Oktober 1997, IT-95-14-AR108bis, para 25.
[26] Para 170.
[27] Siehe schon Hudson, 45 American Journal of International Law 1 (1951), 33 f.
[28] Aus Art. I ergebe sich in der Zusammenschau mit Art. III (a)-(e), dass die Verpflichtungen, die gegenüber Staaten begründet wurden, materiell verschieden von denjenigen sind, deren Befolgung die Konvention von den Staaten in Bezug auf die verantwortlichen Einzeltäter erfordert.
[29] Paras 177, 178. In der Debatte um Fassung und Verständnis von Art. IX herrschte Unklarheit über Art und Ausmaß der Haftung. Der Verlauf der Diskussion im Gesamtkontext des Entwurfsprozesses spricht aber dafür, dass keine Erweiterung der Staatenverantwortlichkeit über die anerkannten völkerrechtlichen Grundsätze hinaus intendiert war.
[30] U.N. Doc. A/C.6/SR.96 (Fitzmaurice, United Kingdom).
[31] Schabas, Fn. 5, S. 436 ff. m. w. N.
[32] Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht, 1952, S. 9, 206 ff., 319; Werle, Fn. 16, Rn. 71.
[33] Zur Deliktsstruktur vgl. Werle, Fn. 16, Rn. 539 ff.; Kreß, 6 International Criminal Law Review 461 (2006), 470 ff.
[34] In die Statute des ICTY[Art. 4 Abs. 2], ICTR[Art. 2 Abs. 2]sowie des IStGH[Art. 6]hat die Definition unverändert Eingang gefunden.
[35] Hinreichend ist die Vernichtung eines substantiellen Teils der Gruppe, Werle, Fn. 16, Rn. 597; so jetzt auch der IGH, para 198, der darin eine entscheidende Komponente sieht. Bei der Bemessung der Auswirkungen sind auch geographische Faktoren und die (möglicherweise emblematische) Bedeutung der angegriffenen Teilgruppe innerhalb der Gesamtgruppe zu beachten. Im Übrigen geht der Gerichtshof aber unverzüglich auf die Wertung des ICTY in " Krstić " über, ohne sich der abstrakten Problematik anzunehmen. Auf die drohende Aufweichung des Tatbestandselements "destroy", die mit einer solchen qualitativen Aufladung einhergeht, weist Kreß, 6 International Criminal Law Review 461 (2006), 490 f., hin. Letztlich werde dadurch - im inneren Widerspruch zur Jurisprudenz des ICTY selbst - ein sozialer Vernichtungsbegriff (social concept) durch die Hintertür eingeführt, S. 492.
[36] Schutzgut ist das biologisch-physische Existenzrecht bestimmter Gruppen, Jescheck, ZStW 66 (1954), 193, 212; Gil Gil, ZStW 112 (2000), 381, 393 f.
[37] LK-Jähnke, 11. Aufl. 1999, § 220a Rn. 9. Freilich lässt sich diese Einordnung sowohl nach objektiven als auch nach subjektiven Kriterien vornehmen, vgl. Lüders, Die Strafbarkeit von Völkermord nach dem Römischen Statut für den Internationalen Strafgerichtshof, 2004, S. 51 ff. Die Rechtsprechung der internationalen ad hoc - Tribunale ergibt hier kein einheitliches Bild. War der ICTR zunächst einem rein objektiven Ansatz gefolgt, ICTR, Fn. 1[Akayesu], paras 510 ff., hat er später auch subjektive Elemente wie soziale Zuschreibungsprozesse als relevant anerkannt, ICTR, Prosecutor v. Kayishema/Ruzindana, Urteil vom 21. Mai 1999, ICTR-95-1-T, para 98; ICTR, Prosecutor v. Musema, Urteil vom 27. Januar 2000, ICTR-96-13-T, paras 162 f. Das Jugoslawientribunal hat die "Gruppe" von Beginn an als soziale Konstruktion angesehen, deren Einordnung aus dem sozio-historischen Lebenskontext heraus vorgenommen werden muss, ICTY, Prosecutor v. Jelisić, Urteil vom 14. Dezember 1999, IT-95-10-T, para 70. Die Darfur Commission baut in ihrem Bericht wiederum auf dem objektiven stable and permanent group - Ansatz aus "Akayesu" auf, verknüpft ihn aber mit der subjektiven Tätervorstellung, kritisch dazu Schabas, 18 Leiden Journal of International Law 871 (2005), 881 ff.; zum Ganzen vgl. Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht, Band I/3, 2. Aufl. 2002, Rn. 1078 ff.; Werle, Fn. 16, Rn. 549 ff.
[38] Para 193; damit will der IGH an die Stakić -Entscheidung des ICTY (Prosecutor v. Stakić, Urteil v. 22. März 2006, IT-97-24-A, paras 20-28) anknüpfen.
[39] ICTR, Fn. 1[Akayesu], paras 497 ff., 517 ff.; ICTY, Fn. 11[ Krstić ], para 550.
[40] Werle fügt an, dass es zugleich das systematische Element verkörpere, das dem Verbrechen seine internationale Dimension verleiht, Fn. 16, Rn. 541. Das bloße Wissen um die Vornahme genozidaler Akte gegen eine Gruppe kann die Feststellung der Zerstörungsabsicht beim individuellen Täter nicht ersetzen, ICTY, Fn. 11[ Krstić ], para 549. In der Literatur finden sich allerdings auch Versuche, die Anforderungen an die Zerstörungsabsicht abzusenken. Bereits das Wissen von der angestrebten Vernichtung einer Gruppe solle die Voraussetzungen der besonderen Absicht erfüllen, Vest, ZStW 113 (2001), 457, 482 ff.; Kreß, 6 International Criminal Law Review 461 (2006), 494 ff.; Greenawalt, 99 Columbia Law Review 2259 (1999), 2265 ff.; dagegen unter Hinweis auf den historischen Sinn des Tatbestandes Werle, Fn. 16, Rn. 593.
[41] Siehe zu den dortigen Geschehnissen ICTY, Prosecutor v. Tadi ć, Urteil vom 7. Mai 1997, IT-94-1-T, paras 154 ff.; Prosecutor v. Stakić, Urteil vom 31. Juli 2003, IT-97-24-T, paras 201 ff.; Prosecutor v. Sikirica et al., Urteil vom 13. November 2001, IT-95-8-S, paras 62 ff. sowie Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2003, S. 96 ff.
[42] Dies ist lediglich eine prioritäre, aber keinesfalls vollständige Auflistung der behandelten Sachverhalte. Untersucht wurde eine Vielzahl von Verbrechen in Bosnien - Herzegowina; zu den einbezogenen Ereignissen vgl. paras 235 ff.
[43] Para 223. Der Gerichtshof differenziert allerdings säuberlich nach deren Quelle und weist den relevanten Dokumenten unterschiedlich hohe Wertigkeiten zu, paras 216 ff.
[44] Paras 276, 277, 319, 328.
[45] Para 376.
[46] Unter Bezugnahme auf " Krstić ", Fn. 11, para 543; und " Blagojević ", Fn. 10, paras 643-654, sah der Gerichtshof den actus reus von Art. II (a) mit Auswirkungen i.S.d. Art. II (b) als belegt an. Auch hinsichtlich des specific intent der VRS wird auf diese Entscheidungen rekurriert (" Krstić ", paras 547, 571[bestätigt durch Urteil der Appeals Chamber, Fn. 10, paras 28-33]; " Blagojević ", para 674).
[47] Dabei folgt der Gerichtshof den Ausführungen des ICTY auch insoweit, als dieser von einem Motivwandel während der Srebrenica - Operation ausgeht. Die Zerstörungsabsicht habe sich erst in deren Vorlauf nach Besetzung der Enklave entwickelt. Als relevanten Zeitpunkt nennt der Gerichtshof den 12. oder 13. Juli 1995, para 295. Anzumerken ist, dass der Tatbestand des Völkermordes keine vorherige Planung i. S. einer premeditation verlangt.
[48] Dieser Grundsatz zählt zum Völkergewohnheitsrecht und hat Niederschlag in Art. 4 der ILC Articles on State Responsibility gefunden.
[49] Para 388.
[50] IGH, Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua v. United States of America), ICJ Rep. 1986, S. 62-64. Nach den völkerrechtlichen Grundsätzen der Staatenverantwortlichkeit, die der IGH in diesem Urteil formuliert hat, ist einem Staat eine Situation zuzurechnen, in der gezielt und kontrolliert von ihm oder in seinem Auftrag bewaffnete Gruppen entsandt werden, die gewaltsame Handlungen (, welche das Ausmaß eines bewaffneten Angriffs annehmen), gegen einen anderen vornehmen. Angeknüpft wurde an die Regelung der Zurechenbarkeit in Art. 3 (g) der Aggressionsdefinition in Resolution Nr. 3314 (XXIX) der Generalversammlung vom 14. Dezember 1974.
[51] Para 393 - Die Feststellung einer solchen soll aber die Ausnahme bleiben.
[52] Para 394.
[53] IGH, Fn. 50[Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua], S. 65.
[54] Responsibility of States for Internationally Wrongful Acts, abrufbar unter: http://untreaty.un.org/ilc/texts/instruments/english/draft%20articles/9_6_2001.pdf [letzter Aufruf: 12.5.2007]. Es handelt sich zwar zunächst nur um Regeln der ILC, doch dürfen sie als Verkörperung von Völkergewohnheitsrecht eingestuft werden.
[55] IGH, Fn. 50[Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua], S. 65.
[56] ICTY, Prosecutor v. Tadi ć, Urteil vom 15. Juli 1999, IT-94-1-A, paras 145, 156.
[57] Paras 403 f., 406.
[58] Zudem bedeutete eine Übertragung dieses Maßstabs auf die Staatenverantwortlichkeit eine beträchtliche Haftungserweiterung und ein Abweichen von fundamentalen Grundsätzen des Völkerrechts, para 406.
[59] Paras 413, 415.
[60] In diesem Fall hätte es freilich der weitergehenden Prüfung bedurft, ob die Hintermänner in Belgrad auch die notwendige Zerstörungsabsicht besaßen, denn dieses war bislang nur für den Generalstab des VRS gerichtlich bejaht worden.
[61] Der einschlägige UN-Report "The fall of Srebrenica" des Generalsekretärs an die Generalversammlung der UN vom 15.November 1999 (A/54/549), sieht keine Beweise dafür, dass jugoslawisches Militär an der Planung und Durchführung der Exekutionen - und dadurch kontrollierend - beteiligt war, para 411. Der Einfluss, den Belgrad auf die Führung der bosnischen Serben in Pale hatte, werde nicht hinreichend substantiiert, um eine Grundlage für die Begründung von direction oder control sein zu können, para 406.
[62] Para 167. Nicht erforderlich ist, dass eine vorherige Verurteilung einzelner verantwortlicher Straftäter erfolgt ist. Auch eine territoriale Begrenzung auf eigenes Hoheitsgebiet ist im Hinblick auf die Begehung eines Völkermordes nicht anzuerkennen. Eine derartige Eingrenzung auf das eigene Territorium gilt nur für die Verfolgungspflicht.
[63] Para 417. Diese regeln die Begehungsformen der Verschwörung (conspiracy) und der Anstiftung (incitement).
[64] Zur individualstrafrechtlichen Verantwortlichkeit für complicity in genocide siehe Schabas, Fn. 5, S. 285 ff.; Van Sliedregt, The Criminal Responsibility of Individuals for Violations of International Humanitarian Law, Den Haag, 2003, S. 87 ff. Beim Studium dieser Quellen ist zu beachten, dass Bezeichnung und Klassifizierung zwischen den völkerstrafrechtlichen Regelungskörpern mitunter stark variieren. So setzt sich z. B. Eboe-Osuji, 3 Journal of International Criminal Justice 56 (2005), 58 ff., mit den dogmatischen Differenzen zwischen complicity in genocide einerseits und aiding and abetting genocide andererseits in den Statuten von ICTY und ICTR auseinander.
[65] Para 420.
[66] Para 421; Die vorgenommene Kombination vom reduzierten mens rea - Element der complicity und dem specific intent des Völkermords weckt freilich Unbehagen, vgl. Schabas, Fn. 5, S. 300 ff.; Van Sliedregt, Fn. 64. Aber auch der ICTY hat das mens rea - Erfordernis für die Teilnahmeform des aiding and abetting to genocide als niedriger eingestuft als dasjenige bei Handeln als unmittelbarer Täter oder im Rahmen eines joint criminal enterprise. Erforderlich ist knowledge of intent. Es muss nicht bewiesen werden, dass auch aider and abettor Zerstörungsabsicht besitzen, Prosecutor v. Krnojelac, Urteil vom 15. März 2002, IT-97-25-T, para 90. Allerdings ist darauf aufmerksam zu machen, dass es sich bei aiding and abetting im Völkerstrafrecht um eine Form der Teilnahme handelt, während complicity in genocide ein eigenständiges Delikt ist.
[67] Para 423 - Indiziell gestützt sieht der IGH diese Folgerung durch die sehr kurze Zeitspanne, innerhalb derer der Motivwandel bei der VRS erfolgte. Wie das subjektive Element bei Staaten im Falle des Genozids genau ausfallen soll und wie eine Zurechnung innerhalb der Staatsstrukturen vorzunehmen ist, wird leider nicht en detail behandelt. Misslich ist dies vor allem deshalb, weil die Frage der Zurechnung eines specific intent zu einem Kollektiv auch in der Literatur vernachlässigt wird, Fletcher/Ohlin, 3 Journal of International Criminal Justice 539 (2005), 546.
[68] Damit wendet sich der IGH indirekt gegen die Argumentation der Trial Chamber in " Blagojević "[Fn. 10], para 666, zu Gunsten der Sichtweise der Appeals Chamber in Krstić[Fn. 10], para 25. Bereits zuvor war im internationalen Schrifttum kritisiert worden, dass eine pauschale Kategorisierung ethnischer Säuberungen als Völkermord verfehlt ist, Cassese, International Criminal Law, 2003, S. 98 ff.; Dahm/Delbrück/Wolfrum, Fn. 37, S. 1082 ff. Sie können den Tatbestand erfüllen, tun dies aber gerade dann nicht, wenn die Kampagne nur auf Verdrängung der Gruppe abzielt.
[69] Ausführlich gewürdigt wird die Decision on Strategic Goals of the Serbian People in Bosnia and Herzegovina vom 12. Mai 1992 verfasst von Momcilo Krajisnik, damals Präsident der Nationalversammlung der Republik Srpska. Der Gerichtshof sah es als erwiesen an, dass sich auch die Belgrader Regierung in Person von Slobodan Milošević diese Ziele, die auch die Separierung der Ethnien umfassten, zu Eigen gemacht hat. Die Absicht zur Begehung eines Genozids vermag der Gerichtshof nicht aus diesem Dokument herauszulesen und sieht sich dabei wiederum im Einklang mit dem ICTY, para 372.
[70] Para 209 - unter Bezugnahme auf die Entscheidung des IGH, Corfu Channel (United Kingdom v. Albania), ICJ Rep. 1949, S. 17.
[71] Paras 370 - 376. Das Vorliegen einer Gesamttat oder eines Gesamtplans, wie sie charakteristisch für Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, ist in der Rechtsprechung des ICTY als ein wesentliches Indiz für das Vorliegen des specific intent anerkannt worden, ICTY, Prosecutor v. Jelisić, Urteil vom 5. Juli 2001, IT-95-10-A, para 48; Auch politisch-strategische Entscheidungen und politische Reden können im Zusammenspiel mit daraus resultierenden Verhaltensmustern Schlussfolgerungen auf die subjektive Tatseite legitimieren, ICTY, Prosecutor v. Karadžić / Mladić, Entscheidung vom 11. Juli 1996, Consideration of the Indictment within the framework of Rule 61 of the Rules of Procedure and Evidence, IT-95-5-R61/IT-95-18-R61, paras 94, 95; zur Praxis innerhalb des ICTY vgl. Selbmann, Fn. 41, S. 185 ff. Auch der ICTR hat die Deduzierung der Zerstörungsabsicht aus äußeren Umständen, wie z. B. Ausmaß, Systematik und Schwere der Gewalttaten, zugelassen, "Akayesu”[Fn. 1], para 523; siehe ferner Cassese, in Cassese/Gaeta/Jones (Hrsg.), The Rome Statute of the International Criminal Court, Vol. I (2002), S. 335, 349.
[72] Para 432.
[73] Para 436.
[74] Para 450.
[75] Para 438. Die Ausflucht der eigenen Einflusslosigkeit von Seiten der Antragsgegnerin verwirft der IGH ohne viel Federlesens.
[76] Bei der Bewertung der Beweislage legt der IGH ein niedrigeres Maß (high level of certainty appropriate for the seriousness of the allegation) an als bei der vorherigen Prüfung der complicity.
[77] Paras 443, 445.
[78] Para 448.
[79] Paras 463, 465.
[80] Para 462.
[81] Antonio Cassese, The Judicial Massacre of Srebrenica, Project Syndicate; abrufbar unter: www.project-syndicate.org/commentary/cassese1/English [letzter Aufruf: 12.5.2007].
[82] Scharf kritisiert wird dies in den Sondervoten (dissenting opinions) der Richter Al-Khasawneh und Mahiou. Die Gründe für den Verzicht auf die Unterlagen seien nicht überzeugend. Man habe zu große Rücksicht auf die Souveränität des betroffenen Staates genommen.
[83] Diverse, nicht persönlich genannte Juristen, die Inhalte des Archivs kennen, ließen vernehmen, dass serbische Kräfte einschließlich der Geheimpolizei ausweislich der Dokumente tief in die Vorbereitung des Massakers in Srebrenica verstrickt waren, Simons, International Herald Tribune, 8. April 2007, S. 1.
[84] Davon geht jedenfalls der Vizepräsident des Gerichtshofs Awn Shawkat Al-Khasawneh in seinem Sondervotum aus.
[85] Die Verhinderung der Verwertung dieses Materials über die geheimen Beratungen des Obersten Verteidigungsrats nahm eine Schlüsselrolle in der Strategie Serbiens ein.
[86] Auch eine Verschiebung der Beweislast wäre ein denkbares Mittel zum Ausgleich gewesen.
[87] So z. B. Cassese, Fn. 81. Derzeit anhängige Verfahren, in denen Völkermord zu den Anklagepunkten zählt, sind Prosecutor v. Karadžić / Mladić (IT-95-5/18), Prosecutor v. Popovic et al. (IT-05-88[Angeklagte Popovic, Beara, Nikolic, Borovcanin Pandurevic]), Prosecutor v. Trbic (IT-05-88/1), Prosecutor v. Tolimir (IT-05-88/2).
[88] Joint criminal enterprise ist das bevorzugte Zurechnungsprinzip des ICTY; auch im " Milošević "-Fall, Van Sliedregt, Fn. 64, S. 101; vgl. ICTY, Prosecutor v. Milošević, Decision on Motion for Judgment of Acquittal, 16. Juni 2004, IT-54-02-T, para 291.
[89] ICTY, Prosecutor v. Blaškić, Urteil vom 29. Juli 2004, IT-95-14-A - Das subjektive Element "had reason to know” verlangt, dass Informationen verfügbar sind, "which would have put him on notice of offenses committed by subordinates”. Daraus folge jedoch keine Informationsbeschaffungspflicht. Allenfalls die vorsätzliche Abstandnahme von eingehender Informationssuche kann eine strafrechtliche Verantwortung begründen, nicht jedoch fahrlässiges Unterlassen von Nachforschungen, para 406.
[90] ICTY, Fn. 56[ Tadi ć ], para 204 (… while outside the common design, was nevertheless natural and foreseeable consequence of the effecting of that common purpose); Van Sliedregt, 5 Journal of International Criminal Justice, 184 (2007), 190 ff., hat überzeugend herausgearbeitet, welche Schwierigkeiten die Anwendung der dritten Kategorie von joint criminal enterprise auf das Verbrechen des Völkermordes mit sich bringt. Der ohnehin kritisierte expansive Charakter dieser dogmatischen Konstruktion droht im Fall des Genozids zu schlechthin inakzeptablen Ergebnissen zu führen. Es bestünde zwar keine Inkompatibilität, doch müsse die Anwendung dieser dritten Kategorie auf strafbares Verhalten eng umgrenzter Tätergruppen beschränkt werden. Für eine Erfassung von Systemkriminalität bzw. kollektivem Unrecht, das sich über mehrere Organisationsebenen des involvierten Staates erstreckt und dessen höchste Entscheidungsträger einbezieht, ist sie untauglich, S. 203 ff.
[91] ICTY, Fn. 56[ Tadi ć ], para 220; ICTR, Fn. 10[Kayishema/Ruzindana], para 204.
[92] Kritisch Van Sliedregt, 5 Journal of International Criminal Justice, 184 (2007), 200 ff.
[93] Gerade die nachweisbare Übereinkunft mit den bosnischen Serben, weitreichende ethnische Säuberungen vorzunehmen, kann einen criminal plan oder ein common design i. S. d. joint criminal enterprise begründen, womit diese durch die Hintertür letztlich doch den Weg für eine Verurteilung wegen Völkermordes geebnet hätten. Anzumerken bleibt indessen, dass die Anklage während des Milošević -Verfahrens erhebliche Schwierigkeiten bei der Beweisführung zur subjektiven Tatseite hatte, Lüders, Fn. 37, S. 36.
[94] Levi/Hagan, International Police, in: Dubber/Valverde (Hrsg.), The New Police Science, 2006, S. 207, 233 ff.
[95] Im Tadi ć -Verfahren vor der Trial Chamber dem ICTY hatte man für hinreichend befunden, dass die damalige jugoslawische Armee eine "overall control" über die VRS bei der Planung und Durchführung militärischer Operationen ausübte und bestimmt, dass es einer Anleitung durch spezifische Anweisungen nicht bedürfe. Der vom IGH präferierte Standard der "effective control" aus der "Nicaragua" - Entscheidung erfordert indes eine komplette Abhängigkeit der Handlungen von Paramilitärs und nicht-staatlicher Akteure, die auf fremdem Territorium agieren, von dem kontrollierenden Staat. Man hätte allerdings mit Recht fragen können, ob die untersuchten Konstellationen überhaupt hinreichend vergleichbar sind. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf den kollektiven Charakter des Völkermordes, der auch die Täterseite einschließt und diese als Gruppe stärker prägt und einbindet, als dies bei sonstigen Verletzungen des Völkerrechts der Fall ist. Ohnehin ist die Entwicklung trennscharfer juridischer Maßstäbe in diesem politisch-militärisch-finanziellen Beziehungsgeflecht kaum zu leisten. Wann wird overall control zur effective control? Angesichts des besonderen Stigmas des Genozids kann dem IGH zumindest aus dieser Perspektive das Anlegen äußerst hoher (Beweis-)Standards nicht vorgeworfen werden.
[96] Der IGH bestätigt die Ausrichtung des mens rea - Elements auf die besondere Absicht der Tatbegehung (purpose based approach). Die Ausführungen zum subjektiven Element der complicity in genocide klären leider nicht die noch unbefriedigend beantwortete Frage, welches subjektive Element erforderlich ist, wenn die Tathandlung über aiding and abetting hinausgeht. Eine Bestätigung erfolgt indessen dahingehend, dass die Definition des Völkermordes nach der Genozidkonvention nur die physische und biologische Zerstörung einer Gruppe erfasst, nicht aber die Vernichtung ihres historischen, kulturellen oder religiösen Erbes, para 344 (bezogen auf ICTY, Fn. 35[ Krsti ć], para 580).
[97] Wegen der höchstseltenen Verfolgung von Völkermord hatten ICTR und ICTY bei Aufnahme ihrer Tätigkeit kaum bearbeitetes Terrain vorgefunden.
[98] Zur Diskussion vgl. allgemein Dugard, Criminal Responsibility of States, in: Bassiouni (Hrsg.), International Criminal Law, 2. Aufl. 1999, Vol. I, S. 239 ff.; Marek, 14 Revue Belge De Droit International 460 (1978-79), 461 ff.; Triffterer, 67 Revue International de Droit Penal 341 (1996), 344 ff.; Weiler, On Prophets and Judges - Some Personal Reflections on State Responsibility and Crimes of State, in: Weiler/Cassese/Spinedi (Hrsg.), International Crimes of State, 1989, S. 319 ff.
[99] Dazu Abi-Saab, 10 European Journal of International Law 339 (1999), 341 ff.
[100] Fletcher/Ohlin halten dagegen apodiktisch fest, dass Staaten und Nationen sich nicht als Träger strafrechtlicher Verantwortlichkeit eignen, 3 Journal of International Criminal Justice 539 (2005), 547.
[101] Dugard verweist auf eine nicht unbeträchtliche Anzahl von völkerrechtlichen Präzedenzfällen, in denen Staatspraktiken von UN-Organen explizit als verbrecherisch eingestuft worden sind und Gegenmaßnahmen hervorgerufen haben, die ihrer Natur nach eher punitiv denn als Reparation einzustufen waren, Fn. 98, S. 244-246.
[102] Vgl. Marek, 14 Revue Belge De Droit International 460 (1978-79), 464, 479.
[103] Bereits die Feststellung der Begehung eines jus cogens crimes durch ein internationales Tribunal, namentlich den IGH, könne in der Wirkung einer Strafe gleichkommen, so ausdrücklich Dugard, Fn. 98, S. 247; Osiel reflektiert ausführlich die Möglichkeit einer Bestrafung von verantwortlichen Kollektiven innerhalb eines Staates durch finanzielle Sanktionen, Columbia Law Review 1751 (2005), 1837 ff. Zur Ausdifferenzierung strafrechtlicher Sanktionen im nationalen Bereich vgl. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, 2001, S. 351 ff.; Streng, ZStW 111 (1999), 827 ff.; Dannecker, GA 2001, 101 ff.
[104] Gilbert, 39 International & Comparative Law Quarterly 345 (1990), 356 f. Freilich ist auch die umgekehrte Kombination einer kollektiven Aktivität mit dem hochgradig individuellen mens rea - Element der Zerstörungsabsicht äußerst problematisch, Van Sliedregt, 5 Journal of International Criminal Justice, 184 (2007), 192.
[105] Dahinter verbirgt sich letztlich die Frage einer hinreichenden Vergleichbarkeit von strafrechtlicher Verantwortlichkeit mit der Verantwortlichkeit eines Staates für eine Verletzung des Völkerstrafrechts, Gilbert, 39 International & Comparative Law Quarterly 345 (1990), 351 ff.
[106] Im Hinblick auf das Völkerstrafrecht seien es fundamentale Interessen der internationalen Gemeinschaft, zu deren Schutz die Etablierung strafrechtlicher Verantwortlichkeit von Staaten essentiell ist, Dugard, Fn. 98, S. 248.
[107] Weiler, ZaöRV 64 (2004), 547 ff. Damit einher geht der Wandel von einem rein horizontalen Modell zu einem gemischt horizontal-vertikalen.
[108] In diesem Sinn auch Dugard, Fn. 98, S. 250 f.
[109] Damaska, 49 American Journal of Comparative Law, 455 (2001), 458-470, 467 f.; Weigend, ZStW 116 (2004), 999, 1024 ff.; Danner/Martinez, 93 California Law Review 75 (2005), 137, 166 f.; Osiel, 105 Columbia Law Review 1751 (2005), 1772, 1859; Im Rom - Statut bildet der common criminal purpose das Pendant zum joint criminal enterprise, Art 25 (3)(d).
[110] Allgemein zu diesem Problemkreis Fletcher/Ohlin, 3 Journal of International Criminal Justice 539 (2005), 542 ff. Im Völkerstrafrecht verschmelzen mit Strafrecht und Völkerrecht zwei stark verschiedene Rechtsgebiete. Die Ausbildung eigenständiger Strukturen und ihre Verschiedenheit gegenüber den Grundsätzen der klassischen Staatenverantwortlichkeit sind bei abstrakter Betrachtung weder verwunderlich noch zu kritisieren. Das Problem liegt vielmehr in der notorischen Unaufmerksamkeit gegenüber strafrechtlichen Prinzipien bei diesem Verschmelzungsprozess.
[111] Mit seiner Habilitationsschrift "Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstrafrecht" begründete Jescheck bereits 1952 die unmittelbare Verantwortlichkeit nationaler Entscheidungsträger nach Völkerstrafrecht. Sie ist heute absolut anerkannt. Der grundsätzlichen Herleitung ist jedoch keine vertiefte Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung dieser individuellen Verantwortung gefolgt. Vielmehr war die Entwicklung des materiellen Völkerstrafrechts durch die Begründung und Ausdifferenzierung neuer und alter Tatbestände geprägt. Gleichwohl mehren sich in der jüngeren Zeit die Bemühungen um eine dogmatische Fundierung, vgl. vor allem Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts - Ansätze einer Dogmatisierung, 2. Aufl. 2004, der allerdings am klassisch-liberalen Modell festhält. Beschränkt auf den Tatbestand des Völkermords rückt Vest demgegenüber das Kollektiv in das Zentrum der völkerrechtlichen Straftatlehre, da die individualstrafrechtliche Sichtweise dem Wesen des Genozids nicht gerecht werde, Fn. 4, S. 359 ff., S. 383 ff. Auch Drumbl fordert angesichts der diffizilen kollektiv-individuellen Strukturen des Völkerstrafrechts die Entwicklung adäquater Zurechnungsfiguren, 99 Northwestern University Law Review 539 (2005), 566 ff., 607 ff.; ders., 103 Michigan Law Review 1295 (2005), 1302 ff. Ein alternatives Zurechnungsmodell findest sich auch bei Marxen, in: Lüderssen (Hrsg.), Aufgeklärte Kriminalpolitik und der Kampf gegen das Böse, Bd. III, 1998, S. 220, 223, 233.
[112] Vgl. dazu auch Kabatsi, 5 International Criminal Law Review 387 (2005), 396 ff.; Schabas, 18 Leiden Journal of International Law 871 (2005), 873 ff., 881 ff.
[113] Da die Konvention ausschließlich den Völkermord umfasst, führt auch nur die Behauptung seiner Begehung vor den IGH; siehe ferner Report of the International Commission of Inquiry on violations of international humanitarian law and human rights law in Darfur, U.N. Doc. S/2005/60.
[114] Siehe in diesem Zusammenhang auch Kabatsi, 5 International Criminal Law Review 387 (2005), 399 f.