HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 462
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: EuGH, C-467/04, Urteil v. 28.09.2006, HRRS 2007 Nr. 462
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft zum einen die Auslegung von Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden: Durchführungsübereinkommen oder SDÜ), das am 19. 6. 1990 in Schengen unterzeichnet worden ist, und zum anderen die Auslegung von Artikel 24 EG.
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen die Herren G. F. Gasparini, J. Ma L. A. Gasparini, Costa Bozzo, de Lucchi Calcagno, F. M. Gasparini und Hormiga Marrero sowie gegen die Sindicatura Quiebra, die verdächtigt werden, geschmuggeltes Olivenöl in Spanien vermarktet zu haben.
Nach Artikel 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das durch den Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft als Anhang beigefügt wurde (im Folgenden: Protokoll), sind dreizehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter das Königreich Spanien und die Portugiesische Republik, ermächtigt, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstands, wie er im Anhang zu diesem Protokoll beschrieben ist, zu begründen.
Zu dem dort beschriebenen Schengen-Besitzstand gehören insbesondere das am 14. 6. 1985 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13, im Folgenden: Schengener Übereinkommen) sowie das Durchführungsübereinkommen.
Nach Artikel 2 I Unterabsatz 1 des Protokolls ist ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages von Amsterdam der Schengen-Besitzstand für die in Artikel 1 dieses Protokolls aufgeführten dreizehn Mitgliedstaaten sofort anwendbar.
Der Rat der Europäischen Union erließ nach Artikel 2 I Unterabsatz 2 Satz 2 des Protokolls am 20. 5. 1999 den Beschluss 1999/436/EG zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrages über die Europäische Union (ABl. L 176, S. 17). Aus Artikel 2 dieses Beschlusses in Verbindung mit dessen Anhang A ergibt sich, dass der Rat die Artikel 34 EU und 31 EU, die zu Titel VI - Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen - des Vertrages über die Europäische Union gehören, als Rechtsgrundlagen für die Artikel 54 bis 58 SDÜ festgelegt hat.
Die Artikel 54 bis 58 SDÜ bilden Kapitel 3 - Verbot der Doppelbestrafung - des Titels III - Polizei und Sicherheit - des Durchführungsübereinkommens.
Artikel 54 SDÜ sieht vor:
"Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann."
Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. 6. 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. L 190, S. 1) sieht in seinem Artikel 3 - Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist - vor:
"Die Justizbehörde des Vollstreckungsstaats (nachstehend 'vollstreckende Justizbehörde' genannt) lehnt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls ab,
...
2. wenn sich aus den der vollstreckenden Justizbehörde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskräftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann;
..."
10 Artikel 4 - Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann - des genannten Rahmenbeschlusses hat folgenden Wortlaut:
"Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls verweigern,
...
4. wenn die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand;
..."
Die Zuständigkeit des Gerichtshofes, auf den unter Titel VI des EU-Vertrags fallenden Gebieten im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens zu entscheiden, ist in Artikel 35 EU geregelt.
Das Königreich Spanien hat erklärt, dass es die Zuständigkeit des Gerichtshofes für Vorabentscheidungen über die Gültigkeit und die Auslegung der in Artikel 35 EU genannten Rechtsakte gem. den in Artikel 35 Absätze 2 und 3 Buchstabe a EU genannten Modalitäten anerkennt (ABl. 1999, C 120, S. 24).
Artikel 24 EG lautet:
"Als im freien Verkehr eines Mitgliedstaats befindlich gelten diejenigen Waren aus dritten Ländern, für die in dem betreffenden Mitgliedstaat die Einfuhr-Förmlichkeiten erfüllt sowie die vorgeschriebenen Zölle und Abgaben gleicher Wirkung erhoben und nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind."
Artikel 1 I Nummern 1 und 2 der Ley Orgánica Nr. 7/1982 vom 13. 7. 1982, die die Rechtsvorschriften auf dem Gebiet des Schmuggels ändert und die Vergehen und Ordnungswidrigkeiten auf diesem Gebiet regelt (BOE Nr. 181 vom 30. 7. 1982, S. 20623), bestimmt:
"Des Schmuggels macht sich, wenn der Wert der Gegenstände eine Million Peseten oder mehr beträgt, derjenige schuldig, der
1. rechtmäßig im Handel befindliche Gegenstände einführt oder ausführt, ohne sie beim Zollamt anzumelden;
2. Handelsumsätze tätigt, rechtmäßig im Verkehr befindliche, aus dem Ausland stammende Gegenstände besitzt oder in Verkehr bringt, ohne die gesetzlichen Einfuhrvoraussetzungen einzuhalten."
Nach Artikel 847 der Ley de enjuiciamento criminal (Strafprozessordnung) ist gegen die Entscheidung der Audiencia Provincial, wenn diese in ihrer Funktion als Berufungsinstanz tätig ist, kein Rechtsmittel gegeben.
Nach den Ausführungen der Audiencia Provincial Málaga ergibt sich aus schlüssigen Indizien, dass die Anteilseigner und Geschäftsführer der Firma Minerva im Laufe des Jahres 1993 beschlossen hätten, über den Hafen von Setúbal (Portugal) aus Tunesien und der Türkei stammendes Lampant- (d. h. raffiniertes) Olivenöl einzuführen, das bei den Zollbehörden nicht deklariert worden sei. Die Ware sei sodann in Lastwagen von Setúbal nach Málaga (Spanien) transportiert worden. Die Angeklagten hätten ein System gefälschter Rechnungen ersonnen, das den Anschein erwecken sollte, dass das Öl aus der Schweiz stamme.
Dem vorlegenden Gericht zufolge befand das Supremo Tribunal de Justiça (Portugal) in seinem auf die Berufung gegen das Urteil des Tribunal Setúbal ergangenen Urteil, dass das nach Portugal eingeführte Lampant-Öl in zehn Fällen aus Tunesien und in einem Fall aus der Türkei gestammt habe und dass geringere Mengen als die tatsächlich eingeführten bei den portugiesischen Zollbehörden erklärt worden seien.
Das Supremo Tribunal de Justiça sprach zwei der Angeklagten, die auch im Ausgangsverfahren belangt werden, in dem bei ihm anhängigen Verfahren wegen Verjährung frei.
Die Audiencia Provincial Málaga erklärt, sie müsse sich zu der Frage äußern, ob strafbarer Schmuggel vorliege oder ob vielmehr eine Straftat im Hinblick auf die Rechtskraft des Urteils des Supremo Tribunal de Justiça oder die Tatsache, dass die Waren sich im Gemeinschaftsgebiet im freien Verkehr befänden, zu verneinen sei.
Die Audiencia Provincial Málaga hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist die Feststellung der Verjährung einer Straftat durch die Gerichte eines Gemeinschaftsstaats für die Gerichte der übrigen Gemeinschaftsstaaten bindend?
2. Hat der Freispruch eines wegen einer Straftat Angeklagten auf Grund der Verjährung begünstigende Reflexwirkungen für in einem anderen Mitgliedstaat Angeklagte, wenn es sich um identische Sachverhalte handelt? Oder, was dem gleichkommt, könnte davon ausgegangen werden, dass die Verjährung auch den in einem anderen Gemeinschaftsstaat Angeklagten zugute kommt, wenn ein identischer Sachverhalt zugrunde liegt?
3. Können die Gerichte eines Gemeinschaftsstaats, wenn die Strafgerichte eines anderen Gemeinschaftsstaats im Zusammenhang mit einem Schmuggel feststellen, dass eine Ware nicht von außerhalb der Gemeinschaft stammt, und den Angeklagten freisprechen, den Umfang der Untersuchung ausweiten, um zu zeigen, dass die ohne Zollentrichtungen vorgenommene Einfuhr der Ware aus einem nicht zur Gemeinschaft gehörenden Staat erfolgt ist?
4. Wenn ein Strafgericht der Gemeinschaft festgestellt hat, dass nicht feststeht, dass die Ware rechtswidrig in das Gebiet der Gemeinschaft eingeführt worden ist, oder dass der Schmuggel verjährt ist, kann dann
a) diese Ware im übrigen Gemeinschaftsgebiet als im zollrechtlich freien Verkehr befindlich angesehen werden;
b) die Vermarktung in einem anderen Gemeinschaftsstaat im Anschluss an die Einfuhr in den Gemeinschaftsstaat, in dem der Freispruch ergeht, als eigenständige und somit strafbare Handlung angesehen werden, oder ist sie im Gegenteil als mit der Einfuhr untrennbar zusammenhängende Handlung zu betrachten?
Aus den Randnummern 12 und 15 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass der Gerichtshof im vorliegenden Fall zuständig ist, über die Auslegung von Artikel 54 SDÜ nach Artikel 35 Absätze 1 bis 3 Buchstabe a EU zu befinden.
Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz des ne bis in idem, der in Artikel 54 SDÜ verankert ist, auf die Entscheidung des Gerichts eines Vertragsstaats Anwendung findet, mit der ein Angeklagter rechtskräftig wegen Verjährung der Straftat freigesprochen wird, die Anlass zur Strafverfolgung gegeben hat.
Nach Artikel 54 SDÜ darf niemand in einem Vertragsstaat für dieselbe Tat, für die er bereits in einem anderen Vertragsstaat "rechtskräftig abgeurteilt" worden ist, verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nicht mehr vollstreckt werden kann.
Die Hauptaussage in dem einzigen Satzgefüge, aus dem Artikel 54 SDÜ besteht, stellt nicht auf den Inhalt des rechtskräftigen Urteils ab. Sie ist nicht nur auf Urteile anwendbar, die eine Verurteilung aussprechen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom heutigen Tage in der Rechtssache C-150/05, Van Straaten, Slg. 2006, I-0000, Randnr. 56).
Daher ist der in Artikel 54 SDÜ verankerte Grundsatz des ne bis in idem auf eine Entscheidung der Justiz eines Vertragsstaats anwendbar, mit der ein Angeklagter rechtskräftig aus Mangel an Beweisen freigesprochen wird (Urteil Van Straaten, Randnr. 61).
Im Ausgangsverfahren wird die Frage gestellt, ob es sich bei einem rechtskräftigen Freispruch wegen Verjährung der Straftat, die Anlass zur Strafverfolgung gegeben hat, ebenso verhält.
Es steht fest, dass Artikel 54 SDÜ verhindern soll, dass eine Person deshalb, weil sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat im Gebiet mehrerer Vertragsstaaten verfolgt wird (vgl. Urteile vom 11. 2. 2003 in den verbundenen Rechtssachen C-187/01 und C-385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I-1345, Randnr. 38, und Van Straaten, Randnr. 57). Diese Vorschrift gewährleistet Personen, die nach Strafverfolgung rechtskräftig abgeurteilt worden sind, ihren Bürgerfrieden. Diese müssen von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen können, ohne neuerliche Strafverfolgung wegen derselben Tat in einem anderen Vertragsstaat befürchten zu müssen.
Artikel 54 SDÜ nicht anzuwenden, wenn ein Gericht eines Vertragsstaats infolge eines Strafverfahrens eine Entscheidung erlassen hat, mit der der Angeklagte wegen Verjährung der Straftat, die Anlass zur Strafverfolgung gegeben hat, rechtskräftig freigesprochen wird, würde das genannte Ziel vereiteln. Eine solche Person muss somit als rechtskräftig abgeurteilt i.S. dieser Bestimmung angesehen werden.
Zwar hat auf dem Gebiet der Verjährung keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Vertragsstaaten stattgefunden. Jedoch macht weder eine Bestimmung des der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen gewidmeten Titels VI des Vertrages über die Europäische Union, dessen Artikel 34 und 31 als Rechtsgrundlagen für die Artikel 54 bis 58 des Durchführungsübereinkommens bezeichnet worden sind, noch eine Bestimmung des Schengener Übereinkommens oder des Durchführungsübereinkommens selbst die Anwendung von Artikel 54 SDÜ von der Harmonisierung oder zumindest von der Angleichung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der zum Strafklageverbrauch führenden Verfahren (Urteil Gözütok und Brügge, Randnr. 32) oder noch allgemeiner von einer Harmonisierung oder einer Angleichung der strafrechtlichen Bestimmungen dieser Staaten abhängig (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 9. 3. 2006 in der Rechtssache C-436/04, Van Esbroeck, Slg. 2006, I-2333, Randnr. 29).
Der in Artikel 54 SDÜ aufgestellte Grundsatz des ne bis in idem setzt zudem notwendig voraus, dass ein gegenseitiges Vertrauen der Vertragsstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme besteht und dass jeder von ihnen die Anwendung des in den anderen Vertragsstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Durchführung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde (Urteil Van Esbroeck, Randnr. 30).
Der Rahmenbeschluss 2002/584 steht der Anwendung des Grundsatzes des ne bis in idem im Fall eines rechtskräftigen Freispruchs wegen Verjährung nicht entgegen. Sein Artikel 4 Nummer 4, auf den sich die niederländische Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen beruft, erlaubt der vollstreckenden Justizbehörde, die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls u. a. dann zu verweigern, wenn die Strafverfolgung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjährt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand. Diese Befugnis ist nicht davon abhängig, dass ein auf Verjährung der Strafverfolgung beruhendes Urteil vorliegt. Der Fall, dass die gesuchte Person rechtskräftig wegen derselben Tat in einem Mitgliedstaat abgeurteilt worden ist, wird von Artikel 3 Nummer 2 des genannten Rahmenbeschlusses geregelt, einer Bestimmung, die einen zwingenden Grund für den Nichtvollzug des Europäischen Haftbefehls darstellt.
In Anbetracht der Komplexität des Ausgangsverfahrens ist schließlich zu betonen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, zu prüfen, ob die rechtskräftig abgeurteilte Tat identisch ist.
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass auf die erste Frage zu antworten ist, dass der in Artikel 54 SDÜ verankerte Grundsatz des ne bis in idem auf die in einem Strafverfahren ergangene Entscheidung des Gerichts eines Vertragsstaats Anwendung findet, mit der ein Angeklagter rechtskräftig wegen Verjährung der Straftat freigesprochen wird, die Anlass zur Strafverfolgung gegeben hat.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, für welche Personen der Grundsatz des ne bis in idem gilt.
Hierzu ergibt sich aus dem Wortlaut des Artikels 54 SDÜ klar, dass dieser nur Personen erfasst, die bereits rechtskräftig abgeurteilt worden sind.
Diese Auslegung wird durch den Zweck der Vorschriften des Titels VI des Vertrages über die Europäische Union bestätigt, wie er in Artikel 2 I vierter Gedankenstrich EU zum Ausdruck kommt, nämlich der "Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf ... die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität der freie Personenverkehr gewährleistet ist".
Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der in Artikel 54 SDÜ verankerte Grundsatz des ne bis in idem keine Anwendung auf andere Personen als diejenigen findet, die von einem Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden sind.
Die dritte Frage beruht auf der Hypothese, dass die Strafgerichte eines Mitgliedstaats feststellen, dass in Bezug auf einen Schmuggel nicht festgestellt worden ist, dass die Ware von außerhalb der Gemeinschaft stammt.
Diese Hypothese steht indessen in Widerspruch zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, wie er vom vorlegenden Gericht beschrieben und in den Randnummern 16 bis 18 des vorliegenden Urteils wiedergegeben worden ist.
Zwar macht die Mehrzahl der Angeklagten des Ausgangsverfahrens dem vorlegenden Gericht zum Vorwurf, das Urteil des Supremo Tribunal de Justiça falsch zu verstehen. Sie tragen vor, dieses Gericht habe entgegen den Ausführungen in der Vorlageentscheidung nicht entschieden, dass geringere Mengen als die tatsächlich nach Portugal eingeführten bei den Zollbehörden angemeldet worden seien. Das den Schmuggel und die Urkundenfälschung betreffende Strafverfahren sei wegen Verjährung für beendet erklärt worden; diese Verjährung sei mit einer vor Eröffnung des Verfahrens vor diesem Gericht ergangenen gerichtlichen Entscheidung festgestellt worden. Außerdem seien die Angeklagten im Zusammenhang mit einem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch, der im Rahmen desselben Verfahrens anhängig gemacht worden sei, freigesprochen worden, da die zur Last gelegten Taten nicht bewiesen worden seien.
Hierzu ist daran zu erinnern, dass die Regelung des Artikels 234 EG auf Artikel 35 EU unter den dort genannten Voraussetzungen Anwendung findet (vgl. Urteil vom 16. 6. 2005 in der Rechtssache C-105/03, Pupino, Slg. 2005, I-5285, Randnr. 28). In einem Verfahren nach Artikel 234 EG, der auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, fällt jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts. Daher ist der Gerichtshof nur befugt, sich auf der Grundlage des ihm vom nationalen Gericht unterbreiteten Sachverhalts zur Auslegung oder zur Gültigkeit einer Gemeinschaftsvorschrift zu äußern (vgl. Urteile des Gerichtshofes vom 16. 7. 1998 in der Rechtssache C-235/95, Dumon und Froment, Slg. 1998, I-4531, Randnr. 25, und vom 16. 10. 2003 in der Rechtssache C-421/01, Traunfellner, Slg. 2003, I-11941, Randnr. 21).
Im Licht dessen, wie das vorlegende Gericht das Urteil des Supremo Tribunal de Justiça versteht, ist die Zulässigkeit der dritten Frage fraglich.
Denn nach dieser Lesart liegt die Prämisse, auf der die dritte Frage beruht, nämlich die eines Freispruchs der Angeklagten wegen Fehlens von Beweisen oder nicht hinreichender Beweise in Bezug auf die Herkunft der Waren von außerhalb der Gemeinschaft, nicht vor.
Der Gerichtshof ist zwar nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich gehalten, zu entscheiden, wenn sich die gestellten Fragen auf das Gemeinschaftsrecht beziehen; in Ausnahmefällen hat er aber zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem innerstaatlichen Gericht angerufen wird. Er kann die Entscheidung über die Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofes vom 11. 7. 2006 in der Rechtssache C-13/05, Chacón Navas, Slg. 2006, I-0000 Randnrn. 32 und 33 und die dort zitierte Rechtsprechung).
Im vorliegenden Fall betrifft die dritte Frage in Anbetracht der Sachverhaltsdarstellung des vorlegenden Gerichts ein Problem hypothetischer Natur.
Folglich hat der Gerichtshof diese Frage nicht zu beantworten.
Aus den in den Randnummern 41 bis 45 des vorliegenden Urteils genannten Gründen ist auch die vierte Frage unzulässig, soweit sie auf der Prämisse eines Freispruchs der Angeklagten wegen Fehlens von Beweisen oder nicht hinreichender Beweise beruht. Sie ist jedoch zulässig, soweit sie die Prämisse betrifft, nach der das Gericht eines Mitgliedstaats die Verjährung des Schmuggels festgestellt hat.
Zu Frage 4 Buchstabe a
Mit Frage 4 Buchstabe a möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob aus der rechtskräftig gewordenen Entscheidung des Gerichts eines Vertragsstaats, mit der die Verjährung eines Schmuggels festgestellt worden ist, gefolgert werden kann, dass sich die fragliche Ware im Gebiet der anderen Mitgliedstaaten im freien Verkehr befindet.
Nach Artikel 24 EG müssen drei Voraussetzungen erfüllt sein, damit Waren aus Drittländern als im freien Verkehr eines Mitgliedstaats befindlich angesehen werden. Als im freien Verkehr befindlich gelten Waren, für die, erstens, die Einfuhrförmlichkeiten erfüllt worden sind, zweitens die Zölle und Abgaben gleicher Wirkung in diesem Mitgliedstaat erhoben worden sind und, drittens, für diese Waren nicht ganz oder teilweise rückvergütet worden sind.
Die Feststellung durch ein Gericht eines Mitgliedstaats, dass der einem Angeklagten zur Last gelegte Schmuggel verjährt sei, ändert nichts an der rechtlichen Einstufung der fraglichen Waren.
Der Grundsatz des ne bis in idem verbietet den Gerichten eines Vertragsstaats nur, einen Angeklagten, der bereits in einem anderen Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, ein zweites Mal wegen derselben Tat zu verfolgen.
Somit ist auf Frage 4 Buchstabe a zu antworten, dass ein Strafgericht eines Vertragsstaats eine Ware nicht allein deshalb als in seinem Hoheitsgebiet im freien Verkehr befindlich ansehen kann, weil das Strafgericht eines anderen Vertragsstaats in Bezug auf dieselbe Ware festgestellt hat, dass der Schmuggel verjährt sei.
Zu Frage 4 Buchstabe b
Mit Frage 4 Buchstabe b möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Vermarktung in einem anderen Mitgliedstaat im Anschluss an die Einfuhr in den Mitgliedstaat, in dem der Freispruch wegen Verjährung ergangen ist, Bestandteil derselben Tat ist oder gegenüber der Einfuhr in den ersten Mitgliedstaat als eigenständige Handlung anzusehen ist.
Das einzige maßgebliche Kriterium für die Anwendung des Begriffs "derselben Tat" i.S. von Artikel 54 SDÜ ist das der Identität der materiellen Tat, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, unlösbar miteinander verbundener Umstände (vgl. Urteil Van Esbroeck, Randnr. 36).
Was des Näheren eine Situation wie die des Ausgangsverfahrens betrifft, so kann sie einen solchen Komplex von Tatsachen darstellen.
Die abschließende Beurteilung ist jedoch Sache der zuständigen nationalen Gerichte, die feststellen müssen, ob die fragliche materielle Tat einen Komplex von Tatsachen darstellt, die in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbunden sind (vgl. Urteil Van Esbroeck, Randnr. 38).
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass in der Vermarktung einer Ware in einem anderen Mitgliedstaat im Anschluss an ihre Einfuhr in den Mitgliedstaat, in dem der Freispruch ergangen ist, eine Handlung liegt, die Bestandteil "derselben Tat" i.S. von Artikel 54 SDÜ sein kann.
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
1. Der Grundsatz des ne bis in idem, der in Artikel 54 des am 19. 6. 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen verankert ist, findet auf die in einem Strafverfahren ergangene Entscheidung des Gerichts eines Vertragsstaats Anwendung, mit der ein Angeklagter rechtskräftig wegen Verjährung der Straftat freigesprochen wird, die Anlass zur Strafverfolgung gegeben hat.
2. Der genannte Grundsatz findet keine Anwendung auf andere Personen als diejenigen, die von einem Vertragsstaat rechtskräftig abgeurteilt worden sind.
3. Ein Strafgericht eines Vertragsstaats kann eine Ware nicht allein deshalb als in seinem Hoheitsgebiet im freien Verkehr befindlich ansehen, weil das Strafgericht eines anderen Vertragsstaats in Bezug auf dieselbe Ware festgestellt hat, dass der Schmuggel verjährt sei.
4. In der Vermarktung einer Ware in einem anderen Mitgliedstaat im Anschluss an ihre Einfuhr in den Mitgliedstaat, in dem der Freispruch ergangen ist, liegt eine Handlung, die Bestandteil "derselben Tat" i.S. des genannten Artikels 54 sein kann.
HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 462
Externe Fundstellen: NJW 2006, 3403; NStZ 2007, 408; StV 2007, 113
Bearbeiter: Stephan Schlegel