Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2007
8. Jahrgang
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Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die Ausgabe Februar 2007 stellt die bisher mit Abstand umfangreichste HRRS-Ausgabe dar. Mit ihr werden 129 Entscheidungen und acht Publikationen veröffentlicht. Es fällt schwer, hier noch Herausstellungen vorzunehmen. Vielleicht sind diese hinsichtlich der veröffentlichen Entscheidung zur unzulässigen Online-Durchsuchung und des Beitrages von Stephan Schlegel angemessen, der sich mit der derzeit durch das Bundesverfassungsgericht geprüften und hoch problematischen "Beschlagnahme" von E-Mailverkehr beim Provider befasst. Auch die Besprechung zum Fall "Münchener Allianz-Arena" von Klengel/Rübenstahl ließe sich hervorheben.
Im Übrigen aber möchten wir Sie vor allem dazu einladen, sich selbst ein Bild von den zahlreichen (BGHSt-)Entscheidungen und Beiträgen dieser Ausgabe zu machen.
Mit freundlichen Grüßen für die Redaktion
Karsten Gaede
1. Nach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK hat der Beschuldigte ein Recht darauf, den Belastungszeugen zu befragen. Eine belastende Zeugenaussage ist grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte den Belastungszeugen wenigstens einmal während des Verfahrens in direkter Konfrontation befragen konnte. Um sein Fragerecht wirksam ausüben zu können, muss der Beschuldigte in die Lage versetzt werden, die persönliche Glaubwürdigkeit des Zeugen zu prüfen und den Beweiswert seiner Aussagen zu hinterfragen. Ersteres kann der Beschuldigte nur, wenn er die Identität des Zeugen kennt; diese ist ihm daher grundsätzlich offen zu legen.
2. Dies schließt allerdings nicht aus, die Identität des Zeugen ausnahmsweise geheim zuhalten und von einer direkten Konfrontation des Zeugen mit dem Beschuldigten abzusehen, wenn dies zur Wahrung schutzwürdiger Interessen erforderlich ist. Als solche anerkannt sind namentlich die Gewährleistung der persönlichen Sicherheit des Zeugen und, im Falle von verdeckten Ermittlern, die Wahrung ihrer beruflichen Integrität, um ihnen die Fortführung ihrer Tätigkeit im Dienst der Polizei zu ermöglichen. Lässt das Gericht zu, dass ein Zeuge anonym bleibt und bei seiner Befragung sichergestellt wird, dass er weder optisch noch an seiner Stimme erkannt werden kann (indirekte Konfrontation), muss es die dadurch bewirkte Einschränkung der Verteidigungsrechte möglichst kompensieren. Es hat sich namentlich davon zu überzeugen, dass die Identität des Zeugen feststeht und ausgeschlossen werden kann, dass ein anderer an seiner Stelle Zeugnis ablegt.
3. Nach der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes ist die Zulassung anonymer Belastungszeugen mit der Folge, dass dadurch das Recht des Beschuldigten beschnitten wird, ihm in direkter Konfrontation Fragen zu stellen, ausgeschlossen, wenn dem streitigen Zeugnis eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt, es mithin den einzigen oder einen wesentlichen Beweis darstellt
(soweit kein Verfahren wegen Kindesmissbrauchs betroffen ist).
4. Zu einem Einzelfall, in dem die Verwertung der Aussage eines anonymen Zeugen auf Grund einer ungenügenden Kompensation (hier: keine Gelegenheit zur indirekten Konfrontation durch den Verteidiger oder den Angeklagten) unabhängig von einem ausschlaggebenden Beweiswert dieser Aussage zu einer Konventionsverletzung führte.
1. Der materielle Gewährleistungsgehalt des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber durch Vorschriften über die Richterablehnung oder ausschließung Sorge zu tragen, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. BVerfGE 10, 200, 213 f.; 89, 28, 36).
2. Der Kläger im Adhäsionsverfahren ist als Rechtsuchender im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anzusehen, dem die Ablehnung des gesetzlichen Richters offen steht, wenn dieser nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet.
3. Die Rechtsfolgenverweisung des § 404 Abs. 2 StPO ist in verfassungskonformer Auslegung so zu verstehen, dass sie sich auf die Begründung eines Ablehnungsrechts des Adhäsionsklägers mit Eingang seines Antrags bei Gericht erstreckt. Über ein Ablehnungsgesuch des Adhäsionsklägers ist dann nach den für den Strafprozess geltenden Vorschriften der §§ 22 ff. StPO zu entscheiden.
1. Auf dem Gebiet der Strafrechtspflege bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG die Auffassung vom Wesen der Strafe. Der Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" hat Verfassungsrang; er findet seine Grundlage im Gebot der Achtung der Menschenwürde sowie in Art. 2 Abs. 1 GG und im Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfGE 9, 167, 169; 95, 96, 140; stRspr).
2. Die Strafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, dass sie - wenn nicht ausschließlich, so doch auch - auf gerechte Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Die Strafe antwortet auf ein rechtswidriges sozialethisches Fehlverhalten.
3. Es stellt einen offensichtlichen Verstoß gegen das Schuldprinzip dar, wenn der Staat durch einen bloßen, nicht näher begründeten Verweis auf die dogmatische Figur der "Zäsurwirkung" einer vorausgegangenen Verurteilung selbst die Voraussetzungen für die Verurteilung wegen einer vermeintlich neuen Tat schafft.
4. Im Falle eines auch nach einer Verurteilung fortgesetzten strafbaren Unterlassens bedarf es näherer Feststellungen dahingehend, dass der Täter einen neuen, von der ersten Verurteilung qualitativ verschiedenen Tatentschluss gefasst hat.
5. Ungehorsam ist einem rechtsstaatlichen Strafrecht als Strafgrund fremd und könnte allenfalls - begriffen als beharrliche Verletzung von Rechtspositionen anderer oder der Allgemeinheit - bei der Strafzumessung Berücksichtigung finden.
1. Das Grundgesetz gewährt dem einzelnen Bürger einen unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung, der der Einwirkung der öffentlichen Gewalt entzogen ist (vgl. BVerfGE 6, 32, 41; 32, 373, 378 f.). Angaben eines Arztes über Anamnese, Diagnose und therapeutische Maßnahmen betreffen zwar nicht die unantastbare Intimsphäre, wohl aber den privaten Bereich des Patienten. Damit nehmen sie teil an dem Schutz, den das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG dem Einzelnen vor dem Zugriff der öffentlichen Gewalt gewährt.
2. Derzeitig besteht keine hinreichende gesetzliche Grundlage i.S.d. Art. 2 Abs. 1 GG, welche die Weisung zur Entbindung eines behandelnden Arztes von der Schweigepflicht im Rahmen einer nach Erledigterklärung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eingetretenen Führungsaufsicht ermöglicht.
3. Das absolute Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG umfasst nur Maßnahmen mit Strafcharakter, hingegen nicht die Maßregeln der Besserung und Sicherung
(vgl. BVerfGE 109, 133, 167), zu denen auch die Führungsaufsicht gehört (§ 61 Nr. 4 StGB).
1. Ordnet das Gericht im Vorfeld einer Entscheidung über die Aussetzung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung gemäß §§ 57, 57 a StGB, § 454 Abs. 2 StPO ein Sachverständigengutachten für die Gefährlichkeitsprognose an, so ist es jedenfalls von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, die Kosten des Gutachtens zu den Vollstreckungskosten im Sinne von § 464 a Abs. 1 Satz 2 StPO zu rechnen.
2. Die Auferlegung von Auslagen kann in Widerstreit mit dem aus Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG abgeleiteten Anspruch auf Resozialisierung (vgl. BVerfGE 35, 202, 235 f.; 36, 174, 188) geraten, wenn weder das vorhandene Vermögen des Verurteilten noch seine derzeitigen oder - sich etwa bei bevorstehender Entlassung konkret abzeichnenden - zukünftigen Einkünfte eine - auch nicht ratenweise - Befriedigung der Verbindlichkeit in absehbarer Zeit erwarten lassen und hierdurch die Wiedereingliederung in die Gesellschaft erschwert wird.
1. Geistliche i.S.d. § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StPO sind jedenfalls auch Seelsorger, die keine Kleriker sind, wenn diese nach den durch das kirchliche Dienstrecht vorgesehenen Voraussetzungen hauptamtlich beauftragt sind.
2. Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn die Rechtsprechung das Zeugnisverweigerungsrecht des Geistlichen bezüglich Tatsachen welche ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut oder bekannt geworden sind, verneint, wenn es sich bei den Tatsachen um nichtseelsorgerische (hier die Recherche nach Versicherungsadressen) handelt.
3. Ungeachtet seiner prozessualen Funktion als Beweismittel darf der - grundsätzlich der Aussage- und Wahrheitspflicht unterstehende - Zeuge nicht zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden und müssen seine Persönlichkeitsrechte angemessen Berücksichtigung finden (vgl. BVerfGE 38, 105, 113 f.). Die Rücksichtnahme auf die Subjektstellung des Zeugen und seine Grundrechte begründet allerdings keinen generellen Anspruch des Zeugen, vor Konflikten und Beeinträchtigungen bewahrt zu werden, die aus seiner Zeugnispflicht herrühren können. Diese müssen vielmehr in einem der Bedeutung des beeinträchtigten Grundrechts angemessenen Verhältnis zu dem mit der Zeugnispflicht verfolgten Ziel stehen.
4. Im Einzelfall und unter strengen Voraussetzungen können sich Beweisverbote - denen die Zeugnisverweigerungsrechte zugerechnet werden können - unmittelbar aus der Verfassung ergeben. Ein Verzicht auf das Beweismittel kann unter anderem geboten sein, wenn durch seine Herbeiziehung der Kernbereich privater Lebensgestaltung verletzt wird. Zu diesem Kernbereich zählt unter anderem das seelsorgerische Gespräch mit einem Geistlichen.
1. Geht es dem Betroffenen - dies kann nach dem Dateninhalt auch ein anderer als der Beschuldigte oder der letzte Gewahrsamsinhaber sein - nach Herausgabe der Beweismittel darum, den Zugriff der Ermittlungsbehörden auf die von ihnen gespiegelten Datenbestände zu unterbinden, steht ihm gemäß § 489 Abs. 2 StPO ein Anspruch auf Datenlöschung zur Seite. Kommt die Staatsanwaltschaft einem auf Datenlöschung gerichteten Antrag nicht nach, so ist hiergegen der Rechtsweg zum Oberlandesgericht gemäß §§ 23 ff. EGGVG eröffnet.
2. Werden Einwände gegen Maßnahmen in einem Ermittlungsverfahren erhoben, das sich gegen einen anderen richtet, und der Ausspruch eines Beweisverwertungsverbotes begehrt, bedarf es besonderer Darlegungen, ob und inwiefern eine strafrechtlich nachteilige Verwertung der Beweismittel zu Lasten der Drittbetroffenen zu befürchten steht.
1. Zu einer erfolgreichen einstweiligen Anordnung im Verfahren der Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlagnahme von E-Mail-Verkehr beim Provider.
2. Die Frage, ob in den Schutzbereich des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) eingegriffen wird, wenn die Ermittlungsbehörden die auf dem Server eines Kommunikationsunternehmens oder Serviceproviders gespeicherten E-Mails eines Kommunikationsteilnehmers kopieren und die so erlangten Daten auswerten ist verfassungsrechtlich noch nicht abschließend geklärt.
1. Die den §§ 23 Abs. 1, 92 BVerfGG entspringende Pflicht, die Verfassungsbeschwerde zu begründen, verlangt von einem Beschwerdeführer auch, sich mit der Rechtslage nach einfachem Recht (vgl. BVerfGE 101, 331, 346) und mit vom Bundesverfassungsgericht ausgebildeten verfassungsrechtlichen Maßstäben (vgl. BVerfGE 99, 84, 87) auseinanderzusetzen. Erforderlich ist insoweit eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung der Fachgerichte und des Bundesverfassungsgerichts zu der aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Problematik.
2. Ordnungsgemäß begründet ist eine Verfassungsbeschwerde nur dann, wenn sie sich umfassend mit den angegriffenen Entscheidungen und deren konkreten Begründungen auseinandersetzt. Aus diesem Gebot einer umfassenden Würdigung der angegriffenen fachgerichtlichen Entscheidungen folgt für den Beschwerdeführer zugleich das Verbot, diejenigen fachgerichtlichen Erwägungen bei der verfassungsrechtlichen Wertung außer Betracht zu lassen, die der behaupteten Grundrechtsverletzung entgegenstehen könnten.
3. Die Änderung des Schuldspruches durch vom Bundesgerichtshof im Fall Motassadeq begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
4. Das Bundesverfassungsgericht sieht die Rechtsprechung der Revisionsgerichte zu § 238 Abs. 2 StPO als Zulässigkeitsvoraussetzung für Verfahrensrügen als verfassungskonform an.
1. Nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip darf die Strafe die Schuld des Täters nicht übersteigen. Sie muss in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters stehen (vgl. BVerfGE 20, 323, 331; 25, 269, 285 ff.; 50, 5, 12). Die Strafzumessung ist Sache der Tatgerichte und der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts grundsätzlich entzogen, es sei denn, die Strafzumessung entferne sich so weit von dem Gedanken des gerechten Schuldausgleichs, dass sie sich als objektiv willkürlich erweist. Diese Grundsätze gelten auch für die Verhängung von Jugendstrafe.
2. Ein Verstoß gegen das Willkürverbot kann neben einem Verstoß gegen das Gebot schuldangemessenen Strafens in Betracht kommen, soweit Gesichtspunkte der Strafzumessung in Rede stehen, die nicht das Verhältnis der Höhe der Strafe zum Maß des Verschuldens betreffen.
Mit der Verpflichtung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) und den Anforderungen eines fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) ist es unvereinbar, wenn Gerichte dem Betroffenen eine Entscheidung zur Sache wegen Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzbegehrens versagen, nachdem sie selbst durch verfahrensfehlerhafte Behandlung des zugrundeliegenden Antrags verhindert haben, dass eine gerichtliche Entscheidung vor Erledigung zustande kam. Dies gilt auch dann, wenn es bei sachgerechter Verfahrensgestaltung vor Eintritt der Erledigung möglicherweise nicht zu einer Entscheidung in der Hauptsache, sondern lediglich zu einer rechtzeitigen Entscheidung über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gekommen wäre.