HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 127
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 958/06, Beschluss v. 27.12.2006, HRRS 2007 Nr. 127
Der Beschluss des Landgerichts Heidelberg vom 3. April 2006 - 2 Qs 21/06 - und der Beschluss des Amtsgerichts Heidelberg vom 14. März 2006 - 10 Ds 31 Js 16988/01-AK 75/03 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Die Beschlüsse werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Heidelberg zurückverwiesen.
Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob der Antragsteller im Adhäsionsverfahren berechtigt ist, den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen.
1. Der Beschwerdeführer ist Antragsteller in einem Adhäsionsverfahren, in dem er Bezahlung eines Geldbetrags in Höhe von 38.347 Euro als Ausgleich für durch angeblich betrügerische Handlungen des Angeklagten verursachten Schaden verlangt. Da das Gericht nicht willens sei, die Strafverfolgung gegen den Angeklagten zu betreiben und diesem durch sein Verhalten ermögliche, sich dem Strafverfahren zu entziehen, lehnte der Beschwerdeführer die zuständige Richterin wegen Besorgnis der Befangenheit ab. Das Amtsgericht verwarf das Ablehnungsgesuch gemäß § 26 a StPO als unzulässig, weil das Gesetz ein Ablehnungsrecht des Adhäsionsklägers nicht vorsehe. Die hiergegen eingelegte sofortige Beschwerde des Beschwerdeführers verwarf das Landgericht mit Beschluss vom 3. April 2006 als unbegründet. Ein Ablehnungsrecht des Adhäsionsklägers sei in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen und entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers. Das Adhäsionsverfahren weise deutliche Unterschiede zu den Fällen auf, in denen der Gesetzgeber ein Ablehnungsrecht ausdrücklich vorgesehen habe.
2. Mit seiner fristgerecht eingelegten Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts und des Landgerichts. Der Beschwerdeführer rügt einen Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Er trägt vor, die Aberkennung eines Ablehnungsrechts des Adhäsionsklägers widerspreche dessen Subjektstellung im Verfahren, da er sich nicht gegen einen möglicherweise befangenen Richter wehren könne. Es bestehe kein sachlicher Grund, den Adhäsionskläger gegenüber dem - ablehnungsberechtigten - Nebenkläger schlechter zu stellen.
3. Das Justizministerium des Landes Baden-Württemberg hat von einer Stellungnahme abgesehen.
Die Verfassungsbeschwerde wird zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine der Verfassungsbeschwerde stattgebende Entscheidung der Kammer sind gegeben. Die maßgebliche verfassungsrechtliche Frage, ob es von der Verfassung geboten ist, zu gewährleisten, dass der Rechtsuchende nicht vor einem Richter steht, der die gebotene Distanz und Neutralität vermissen lässt, hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 21, 139 <146>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juni 2005 - 2 BvR 625/01, 2 BvR 638/01 -, NJW 2005, S. 3410; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Juli 2005 - 2 BvR 497/03 -, NVwZ 2005, S. 1304; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 2006 - 2 BvR 836/04 -, StraFo 2006, S. 232). Danach ist die zulässige Verfassungsbeschwerde in einem die Entscheidungskompetenz der Kammer begründenden Sinne offensichtlich begründet.
Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht nicht entgegen, dass das Adhäsionsverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Der Beschwerdeführer hat auch ein Rechtsschutzinteresse daran, dass über eine von ihm eingelegte Verfassungsbeschwerde bereits während der Rechtshängigkeit des Verfahrens und nicht erst nach der letztinstanzlichen Entscheidung zur Hauptsache entschieden wird. Er kann nicht darauf verwiesen werden, zunächst das Verfahren vor einem Richter fortzusetzen, dessen Zuständigkeit möglicherweise auf verfassungswidrigen Entscheidungen über Ablehnungsgesuche beruht (vgl. BVerfGE 24, 56 <61>).
Der Beschluss des Amtsgerichts Heidelberg vom 14. März 2006 und der Beschluss des Landgerichts Heidelberg vom 3. April 2006 verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
1. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährleistet dem Einzelnen das Recht auf den gesetzlichen Richter.
Ziel der Verfassungsgarantie ist es, der Gefahr einer möglichen Einflussnahme auf den Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung vorzubeugen, die durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter eröffnet sein könnte (vgl. BVerfGE 17, 294 <299>; 48, 246 <254>; 82, 286 <296>; 95, 322 <327>). Damit sollen die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gewahrt und das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden (vgl. BVerfGE 95, 322 <327>).
Deshalb verpflichtet Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG den Gesetzgeber dazu, eine klare und abstrakt-generelle Zuständigkeitsordnung zu schaffen, die für jeden denkbaren Streitfall im Voraus den Richter bezeichnet, der für die Entscheidung zuständig ist. Jede sachwidrige Einflussnahme auf die rechtsprechende Tätigkeit von innen und von außen soll dadurch verhindert werden. Die Gerichte sind bei der Anwendung der vom Gesetzgeber geschaffenen Zuständigkeitsordnung verpflichtet, dem Gewährleistungsgehalt und der Schutzwirkung des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG angemessen Rechnung zu tragen.
Nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG darüber hinaus auch einen materiellen Gewährleistungsgehalt. Die Verfassungsnorm garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und der die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet (vgl. BVerfGE 10, 200 <213 f.>; 21, 139 <145 f.>; 30, 149 <153>; 40, 268 <271>; 82, 286 <298>; 89, 28 <36>).
Der Gesetzgeber hat deshalb in materieller Hinsicht Vorsorge dafür zu treffen, dass die Richterbank im Einzelfall nicht mit Richtern besetzt ist, die dem zur Entscheidung anstehenden Streitfall nicht mit der erforderlichen professionellen Distanz eines Unbeteiligten und Neutralen gegenüberstehen. Die materiellen Anforderungen der Verfassungsgarantie verpflichten den Gesetzgeber dazu, Regelungen vorzusehen, die es ermöglichen, einen Richter, der im Einzelfall nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, abzulehnen oder von der Ausübung seines Amtes auszuschließen (vgl. BVerfGE 21, 139 <146>; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Februar 2006 - 2 BvR 836/04 -, StraFo 2006, S. 232; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juni 2005 - 2 BvR 625/01, 2 BvR 638/01 -, NJW 2005, S. 3410; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Juli 2005 - 2 BvR 497/03 -, NVwZ 2005, S. 1304).
2. Diese Grundsätze gelten auch für das Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO.
a) Ob dem Antragsteller im Adhäsionsverfahren ein Recht zur Ablehnung des Gerichts wegen Besorgnis der Befangenheit zukommt, ist im Schrifttum umstritten; die höchstrichterliche Rechtsprechung hat sich hierzu noch nicht verhalten. Die ein Ablehnungsrecht verneinende Ansicht stützt sich darauf, dass ein solches - anders als für die Staatsanwaltschaft, den Privatkläger und den Beschuldigten (§ 24 Abs. 3 Satz 1 StPO) sowie den Nebenkläger (§ 397 Abs. 1 Satz 3 StPO) - nicht gesetzlich vorgesehen sei. Dem Adhäsionskläger kämen auch nicht - wie dem Beschuldigten im Sicherungsverfahren (§ 414 Abs. 1 StPO), dem Einziehungsbeteiligten (§ 433 Abs. 1, § 440 Abs. 3 StPO), dem Antragsteller im Nachverfahren (§ 441 StPO) und dem Beteiligten im Verfahren bei Festsetzung von Geldbußen gegen juristische Personen und Personenvereinigungen (§ 444 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 433 Abs. 1 StPO) - die Befugnisse des Angeklagten und damit das Ablehnungsrecht zu. Ein Ablehnungsrecht des Adhäsionsklägers sei nicht erforderlich, weil er seine Ansprüche vor den Zivilgerichten verfolgen könne und also keine Rechtsnachteile erleide. Im Übrigen nehme die ablehnungsberechtigte Staatsanwaltschaft die Interessen des Geschädigten wahr (vgl. Wendisch, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, § 24 Rn. 44 ff.; Hilger, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2001, § 404 Rn. 11; Meyer-Goßner, StPO, 49. Aufl. 2006, § 24 Rn. 20; Velten, in: Systematischer Kommentar, StPO, Stand: September 2003, § 404 Rn. 10; Stöckel, in: Kleinknecht/Müller/Reitberger, StPO, Stand: Februar 2006, § 404 Rn. 9; Hamm, NJW 1974, S. 682 <683>). Die Gegenansicht will dem Adhäsionskläger ein Ablehnungsrecht zuerkennen, da er nach Anbringung des Entschädigungsantrags Verfahrensbeteiligter sei und nicht schlechter als in einem Zivilprozess stehen dürfe (vgl. Engelhardt, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl. 2003, § 404 Rn. 12; Köckerbauer, NStZ 1994, S. 305 <307>; Meier/Dürre, JZ 2006, S. 18 <21 f.>; Teplitzky, MDR 1970, S. 106).
b) Das Adhäsionsverfahren nach §§ 403 ff. StPO eröffnet dem Geschädigten einer Straftat die Möglichkeit, im Strafverfahren materielle Kompensation für erlittene Schäden zu erlangen. Rechtstatsächliche Untersuchungen zeigen, dass für Opfer von Straftaten das Wiedergutmachungsbedürfnis, gerade auch in seiner finanziellen Dimension, generell eine sehr große Rolle spielt (vgl. Kilchling, NStZ 2002, S. 57 <62>; ders., DVJJ-Journal 2002, S. 14 m.w.N.; BTDrucks 15/814, S. 6 m.w.N.). Im Einzelfall - wenn z.B. aufwändige Fahndungsmaßnahmen und Zwangsmittel erforderlich sind, um den staatlichen Strafanspruch durchzusetzen - kann die Anhaftung der Entschädigungsmöglichkeit an das Strafverfahren für den Geschädigten die einzige Möglichkeit darstellen, Kompensation zu erlangen. Der Gesetzgeber hat vor diesem Hintergrund die Rechte des Adhäsionsklägers mehrfach gestärkt in dem Bestreben, dem Adhäsionsverfahren in der Rechtswirklichkeit eine größere Bedeutung zu verschaffen (vgl. Brokamp, Das Adhäsionsverfahren - Geschichte und Reform, 1990; Dallmeyer, JuS 2005, S. 327; Hilger, GA 2004, S. 478 <482 ff.>). Mit den Änderungen durch das Opferrechtsreformgesetz vom 24. Juni 2004 (BGBl I S. 1354) beabsichtigte der Gesetzgeber, die Durchführung des Adhäsionsverfahrens zum Regelfall der Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche des Opfers zu machen (vgl. BTDrucks 15/1976, S. 8 <16>; Protokoll der 71. Sitzung des Deutschen Bundestags am 5. November 2003, S. 6082 A; Protokoll der 75. Sitzung des Deutschen Bundestags am 13. November 2003, S. 6470 B; Protokoll der 94. Sitzung des Deutschen Bundestags am 4. März 2004, S. 8401 B, 8403 C, 8406 B).
c) Vor diesem Hintergrund ist der Antragsteller im Adhäsionsverfahren als Rechtsuchender im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anzusehen, dem die Ablehnung des gesetzlichen Richters offen steht, wenn dieser nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet. Da das Adhäsionsverfahren seit seiner Stärkung durch das Opferrechtsreformgesetz den gesetzlichen Regelfall der Durchsetzung von Opferansprüchen darstellt, ist der Antragsteller in erheblichem Maße beschwert, wenn das Verfahren, veranlasst durch ein parteiliches Verhalten des gesetzlichen Richters, scheitert und der Antragsteller sich auf ein neues - zeit- und kostenintensives - Verfahren vor den Zivilgerichten verwiesen sieht.
3. Die gesetzliche Ausgestaltung des Adhäsionsverfahrens in §§ 403 ff. StPO kann in einer den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährleistung eines Ablehnungsrechts des Adhäsionsklägers genügenden Weise ausgelegt werden.
Zwar hat der Gesetzgeber ein solches Recht - anders als in § 24 Abs. 3 und § 397 Abs. 1 Satz 3 StPO - nicht ausdrücklich normiert. Dem Gesetzgebungsverfahren lässt sich aber entnehmen, dass er mit Blick auf einen die Sach- und Rechtslage einseitig grob verkennenden Vergleichsvorschlag des Gerichts gemäß § 405 Abs. 1 StPO oder Begleitumstände, die Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters begründen können, das Stellen eines Befangenheitsantrags auch nicht generell ausschließen wollte (vgl. BTDrucks 15/1976, S. 15). Allerdings bezieht sich der Gesetzgeber damit wohl auf das Ablehnungsrecht des Angeklagten (vgl. Protokoll der 75. Sitzung des Deutschen Bundestags am 13. November 2003, S. 6463 D - 6464 A m.d.H. auf BGHSt 37, S. 263 <264>). Dass der Gesetzgeber ein Ablehnungsrecht des Adhäsionsklägers erwogen hätte, ist nicht zu erkennen. Damit ist von einer planwidrigen Regelungslücke auszugehen.
Nach § 404 Abs. 2 StPO treten mit Eingang des Antrags bei Gericht die Wirkungen der Klageerhebung im bürgerlichen Rechtsstreit ein. Mit Einreichung der Klage bei Gericht ist im bürgerlichen Rechtsstreit die Möglichkeit eröffnet, ein Ablehnungsgesuch wegen Besorgnis der Befangenheit nach § 42 ZPO zu stellen (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 27. Aufl. 2005, § 42 Rn. 2). Die Rechtsfolgenverweisung des § 404 Abs. 2 StPO ist damit in verfassungskonformer Auslegung so zu verstehen, dass sie sich auf die Begründung eines Ablehnungsrechts des Adhäsionsklägers mit Eingang seines Antrags bei Gericht erstreckt. Über ein Ablehnungsgesuch des Adhäsionsklägers ist dann nach den für den Strafprozess geltenden Vorschriften der §§ 22 ff. StPO zu entscheiden.
4. Die angegriffenen Entscheidungen verkennen das verfassungsrechtlich gebotene Ablehnungsrecht des Beschwerdeführers und verletzen diesen in seinem Recht aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2007 Nr. 127
Externe Fundstellen: NJW 2007, 1670
Bearbeiter: Stephan Schlegel