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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 164

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 64/22, Urteil v. 24.11.2022, HRRS 2023 Nr. 164


BGH 3 StR 64/22 - Urteil vom 24. November 2022 (LG Düsseldorf)

Anwendung deutschen Strafrechts (Inlandstat bei mehreren verwirklichten Delikten); Ablehnung von Beweisanträgen (Unerreichbarkeit eines Zeugen im Ausland; audiovisuelle Vernehmung als Alternative; Abwägung unter Berücksichtigung der individuellen Umstände, der Bedeutung der Sache sowie die Wichtigkeit der Zeugenaussagen für die Wahrheitsfindung); Urkundenbeweis durch Verlesung von Vernehmungsprotokollen (Unerreichbarkeit eines Zeugen); Beweiswürdigung bei Nichtgewährleistung des Rechts auf konfrontative Befragung (besonders sorgfältige und kritische Überprüfung von Aussagen in den Urteilsgründen); Strafzumessung (Doppelverwertungsverbot; Strafrahmenwahl bei Zusammentreffen von minder schwerem Fall und gesetzlich vertyptem Milderungsgrund).

§ 3 StGB; § 9 StGB; § 27 Abs. 2 Satz 2 StGB; § 46 Abs. 3 StGB; § 239b StGB; § 54 SDÜ; § 247a Abs. 1 StPO; § 250 Satz 2 StPO; § § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO; § 261 StPO; Art. 6 Abs. 3 lit. d EMRK

Leitsätze

1. Eine Inlandstat im Sinne der §§ 3, 9 StGB ist nicht allein tatbestandsbezogen zu verstehen, sondern umfasst regelmäßig die im Rahmen desselben Lebensvorgangs verwirklichten Delikte und führt auch für diese zur Anwendung deutschen Strafrechts. (BGHSt)

2. Die Frage, ob nur eine Vernehmung vor dem erkennenden Gericht die nach Sach- und Rechtslage erforderliche Ausschöpfung des Beweismittels gewährleistet oder ob auch eine kommissarische oder audiovisuelle Vernehmung zur Sachaufklärung tauglich ist, hat das Tatgericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden. Dabei kann das Tatgericht aufgrund einer ihm obliegenden Abwägung zu dem Ergebnis kommen, dass die audiovisuelle Vernehmung wegen gewisser Defizite gegenüber einem präsenten Zeugen im Einzelfall für die Wahrheitsfindung wertlos, der Zeuge mithin auch unter Beachtung der Möglichkeiten des § 247a StPO ein ungeeignetes Beweismittel ist. (Bearbeiter)

3. Die strafschärfende Berücksichtigung des Tatmotivs, zivilrechtliche Ansprüche unter Missachtung des Gewaltmonopols des Staates im Wege der Selbstjustiz durchzusetzen, begründet im Rahmen der Geiselnahme gemäß § 239b StGB keinen Verstoß gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB (Bearbeiter).

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 31. August 2021 werden verworfen.

2. Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten E. sowie Z. wegen Geiselnahme in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, besonders schwerem Raub und besonders schwerer räuberischer Erpressung zu Freiheitsstrafen von jeweils sieben Jahren verurteilt. Den Angeklagten A. hat es wegen tateinheitlicher Beihilfe zu den genannten Delikten zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es gegen den Angeklagten E. sowie zwei Mitangeklagte die Einziehung („Einbeziehung“) eines Geldbetrages in Höhe von 25.000 € als Gesamtschuldner angeordnet und hinsichtlich des Angeklagten Z. den Anrechnungsmaßstab für in den Niederlanden vollzogenen Freiheitsentzug bestimmt. Die Angeklagten beanstanden mit ihren Revisionen die Verletzung materiellen Rechts; darüber hinaus erheben die Angeklagten E. und Z. Verfahrensrügen. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.

A.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

Der in den Niederlanden lebende spätere Geschädigte erstattete im Mai 2017 Strafanzeige gegen den Angeklagten Z. und dessen mitangeklagten Bruder wegen Betruges im Zusammenhang mit der Überweisung von 98.000 € für einen gescheiterten Fahrzeugerwerb. Um den Schaden zu kompensieren, suchte er Kontakt zu dem Vater der beiden, dem Angeklagten E. Von diesem erhielt er vor dem 30. September 2017 aus nicht bekannten Gründen einen Pkw und zwei Uhren mit der Vereinbarung, die Gegenstände später zu bezahlen. Der Geschädigte entschloss sich aber, die Sachen ohne Bezahlung zu behalten, und reagierte nicht mehr auf Anrufe des Angeklagten E. .

Auf dessen Bitten vereinbarte einer der Mitangeklagten unter dem Vorwand eines Autoverkaufs ein Treffen mit dem Geschädigten in V. (Niederlande). Am 30. September 2017 kamen die Angeklagten E. und Z. samt den beiden Mitangeklagten in S. überein, dem Geschädigten in Überzahl entgegenzutreten, das Fahrzeug und die Uhren wieder in den Besitz des Angeklagten E. zu bringen und dem Geschädigten weitere Vermögenswerte abzunehmen. Dazu sollte dieser durch Aufbau einer Drohkulisse und eine etwaige Gewaltanwendung auf ein Firmengelände in S. verbracht werden. Der Angeklagte A. billigte die Absprache. Die drei Angeklagten sowie die Mitangeklagten reisten in drei Fahrzeugen nach V. und warteten auf den Geschädigten. Die Wagen parkten sie mehrfach um, um den Plan möglichst gut verwirklichen zu können und durch die Kennzeichen keinen Argwohn zu erregen.

Als der Geschädigte mit einem Begleiter erschien, führten der Angeklagte A. und einer der Mitangeklagten die beiden zu dem vermeintlichen Kaufobjekt. Die Interessenten wurden für sie unvorhersehbar überfallartig von den schnell herbeieilenden weiteren Angeklagten aus dem Hinterhalt angegriffen. Der zweite Mitangeklagte lief auf den Geschädigten zu, stach ihm mit einem spitzen Gegenstand in die Brust und hielt ihm diesen sodann drohend an die Kehle. Der Angeklagte Z. schlug dem Begleiter so wuchtig mit der Faust ins Gesicht, dass dieser stark am Auge blutete und benommen zu Boden ging. Die Mitangeklagten und der Angeklagte E. stiegen in einen Pkw ein, in den der Geschädigte bugsiert worden war, und fuhren schnell los. Unter dem fortwirkenden Eindruck der Gewaltanwendung und der Bedrohungslage leistete der Geschädigte aus Angst um sein Leben keinen Widerstand und überließ einem der Mitangeklagten auf dessen Aufforderung eine Schultertasche mit mindestens 25.000 € sowie einer Bankkarte. Der Angeklagte E. zog dem Geschädigten dessen Uhr vom Handgelenk. Die Ange klagten Z. und A. wurden schließlich von einem Dritten abgeholt und nach S. gefahren. Dort wurde der Geschädigte durch nicht näher bekannte Einwirkung dazu veranlasst, die zu seiner Bankkarte gehörende PIN preiszugeben und seine frühere Ehefrau in B. (Niederlande) telefonisch aufzufordern, die beiden Uhren an einen Abholer auszuhändigen. Letztlich übergab ein Sohn die Uhren. Anschließend wurde der Geschädigte wieder nach V. zurückgefahren. An Geldautomaten in V. und D. wurden mit seiner Bankkarte insgesamt 2.000 € abgehoben.

B.

Die Revisionen sind insgesamt unbegründet.

I. Die von den Angeklagten E. und Z. erhobenen Verfahrensbeanstandungen greifen nicht durch. Insoweit machen die Beschwerdeführer im Kern inhaltsgleich geltend, das Landgericht habe die Verurteilungen auf vernehmungsersetzend verlesene Vernehmungsniederschriften gestützt und dadurch gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz (§ 250 Satz 2 StPO), beweisantragsrechtliche Vorschriften (§ 244 Abs. 3 und 5 StPO) und das Konfrontationsrecht (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK) verstoßen.

1. Den Rügen liegt im Wesentlichen Folgendes zugrunde:

a) Die Vorsitzende der Strafkammer lud unter anderem fünf Zeugen aus den Niederlanden zur Hauptverhandlung. Drei von ihnen erschienen zu einem vorgesehenen Termin, der allerdings nach teilweiser Vernehmung einer Zeugin - ohne Befragungsmöglichkeit durch die Verteidiger - unterbrochen wurde. Auf spätere Anfrage der Vorsitzenden in Bezug auf einen weiteren Vernehmungstermin teilten diese Zeugen sinngemäß mit, nicht mehr in Anspruch genommen werden zu wollen. Die beiden anderen Zeugen, darunter der Geschädigte, blieben der Hauptverhandlung insgesamt fern und erklärten, aus Angst nicht erscheinen zu wollen. Das Landgericht ordnete durch Beschlüsse an, die - teils weitere - Vernehmung der Zeugen gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO durch die Verlesung von Protokollen zu ersetzen, und begründete dies unter näheren Ausführungen damit, dass die Zeugen unerreichbar im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 3 StPO seien. Dagegen gerichtete Widersprüche der Verteidiger wies die Strafkammer zurück und legte dabei eingehender dar, dass die Aufklärungspflicht auch keine kommissarische oder audiovisuelle Vernehmung der Zeugen gebiete; denn nach den konkreten Umständen könne nur eine Vernehmung unmittelbar vor dem erkennenden Gericht zur weiteren Wahrheitsfindung beitragen. Im Folgenden führte das Landgericht die Übersetzungen im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung ein.

b) Die Verteidiger der Angeklagten beantragten, den Geschädigten als Zeugen zu bestimmten Beweisbehauptungen in Bezug auf die beiden Uhren zu vernehmen, etwa dazu, dass der Angeklagte E. und der Geschädigte sich bei der Übergabe der Uhren über eine Zahlungspflicht des Geschädigten einig gewesen seien, der aber der Pflicht zu keinem Zeitpunkt habe nachkommen wollen. Die Strafkammer wies den Antrag mit der Begründung zurück, es handele sich nicht um einen Beweisantrag, sondern um ein auf Wiederholung von Teilen der Beweisaufnahme gerichtetes Begehren. Der Geschädigte habe bereits im Rahmen seiner im Selbstleseverfahren eingeführten polizeilichen Zeugenvernehmungen die Beweisfragen beantwortet; die Aufklärungspflicht erfordere keine Wiederholung der Beweisaufnahme. Im Übrigen sei der Zeuge für die Strafkammer unerreichbar; die Aufklärungspflicht gebiete keine audiovisuelle Vernehmung.

2. Die Verfahrensbeanstandungen greifen unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt durch.

a) Die Vernehmung der in Rede stehenden Zeugen durfte gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO ersetzt werden, da diese in absehbarer Zeit nicht gerichtlich vernommen werden konnten.

aa) Ein Zeuge kann gerichtlich nicht vernommen werden, wenn er im Sinne des § 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 5 StPO unerreichbar ist (s. BGH, Beschluss vom 17. Juni 1992 - 1 StR 196/92, BGHR StPO § 251 Abs. 2 Unerreichbarkeit 4 unter Bezugnahme auf § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO aF; KK-StPO/Diemer, 8. Aufl., § 251 Rn. 14; SK-StPO/Velten, 5. Aufl., § 251 Rn. 16; SSW-StPO/Kudlich/Schuhr, 4. Aufl., § 251 Rn. 26; Meyer-Goßner/Schmitt, 65. Aufl., § 251 Rn. 9). Für eine solche Unerreichbarkeit genügt die Weigerung eines sich im Ausland aufhaltenden Zeugen, vor dem erkennenden Gericht zu erscheinen, nicht ohne Weiteres (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. Juni 1992 - 1 StR 196/92, BGHR StPO § 251 Abs. 2 Unerreichbarkeit 4; vom 17. Februar 1983 - 1 StR 325/82, wistra 1983, 120; entsprechend zum Zivilverfahren BGH, Beschluss vom 22. Juli 2021 - I ZR 180/20, MDR 2021, 1409 Rn. 23; weitergehend LR/Cirener/Sander, StPO, 27. Aufl., § 251 Rn. 30, 39; MüKoStPO/Kreicker, § 251 Rn. 64); denn bereits nach dem Gesetzeswortlaut betrifft die Voraussetzung für die Verlesung einer - nichtrichterlichen - Vernehmung eine in absehbarer Zeit ausgeschlossene gerichtliche Vernehmung (§ 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO in der Fassung nach dem 1. Justizmodernisierungsgesetz vom 24. August 2004; entsprechend der zuvor geltende § 251 Abs. 2 Satz 2 StPO). Demgegenüber bezieht sich der Tatbestand bei der Verlesung von Protokollen richterlicher Vernehmungen nach § 251 Abs. 2 Nr. 1 und 2 StPO auf ein „Erscheinen in der Hauptverhandlung“ (vgl. entsprechend § 251 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO in der bis zum 31. August 2004 geltenden Fassung).

Demnach ist zu prüfen, ob ein Zeuge in dem Sinne unerreichbar ist, dass das Tatgericht unter Beachtung der ihm obliegenden Aufklärungspflicht alle der Bedeutung des Beweises entsprechenden Bemühungen zur Beibringung des Zeugen vergeblich entfaltet hat und keine begründete Aussicht besteht, der Zeuge könne in absehbarer Zeit von dem Gericht als Beweismittel herangezogen werden (s. BGH, Beschluss vom 5. Dezember 2019 - 1 StR 517/19, StraFo 2020, 112 mwN). Hierbei ist auch eine mögliche kommissarische oder audiovisuelle Vernehmung des Zeugen in Betracht zu ziehen. Die Frage, ob nur eine Vernehmung vor dem erkennenden Gericht die nach Sach- und Rechtslage erforderliche Ausschöpfung des Beweismittels gewährleistet oder ob auch eine kommissarische oder audiovisuelle Vernehmung zur Sachaufklärung tauglich ist, hat das Tatgericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu entscheiden (s. insgesamt BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 - 3 StR 274/09, BGHSt 55, 11 Rn. 35 mwN; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 27. Februar 2014 - 2 BvR 261/14, NJW 2014, 1082 Rn. 29). Dabei setzt die audiovisuelle Vernehmung nach § 247a Abs. 1 Halbsatz 2, § 251 Abs. 2 StPO gerade voraus, dass sie zur Erforschung der Wahrheit erforderlich ist (vgl. etwa BT-Drucks. 13/9063 S. 4; LR/Becker, StPO, 27. Aufl., § 247a Rn. 14; KMR/Hiebl, StPO, 107. EL, § 247a Rn. 54 ff.). Obschon sie in tatsächlicher sowie rechtlicher Hinsicht zunehmend an Bedeutung gewonnen hat (vgl. etwa §§ 58a, 136 Abs. 4, §§ 247a, 255a, 463e StPO) und insbesondere das Konfrontationsrecht des Angeklagten nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK, wenn auch mit Einschränkungen, gewährleisten kann, kann das Tatgericht aufgrund einer ihm obliegenden Abwägung zu dem Ergebnis kommen, dass sie wegen gewisser Defizite gegenüber einem präsenten Zeugen im Einzelfall für die Wahrheitsfindung wertlos, der Zeuge mithin auch unter Beachtung der Möglichkeiten des § 247a StPO ein ungeeignetes Beweismittel ist (s. BGH, Beschlüsse vom 15. September 1999 - 1 StR 286/99, BGHSt 45, 188, 195 ff.; vom 17. November 2020 - 3 ARs 14/20, NStZ-RR 2021, 22, 23).

bb) Nach diesen Maßstäben ist eine Unerreichbarkeit belegt. Das Landgericht hat insgesamt tragfähig begründet, dass die im Ausland lebenden Zeugen nicht in der Hauptverhandlung erscheinen werden (vgl. zu den Anforderungen BGH, Beschlüsse vom 28. November 2017 - 3 StR 272/17, BGHR StPO § 251 Abs. 1 Nr. 2 Auslandsvernehmung 8 Rn. 23; vom 6. Mai 1997 - 1 StR 169/97, BGHR StPO § 251 Bemühungen 1) und nur eine unmittelbare, nicht aber eine audiovisuelle oder kommissarische Vernehmung der Zeugen durch das erkennende Gericht zur weiteren Wahrheitsfindung beitragen könne. Es hat dabei die individuellen Umstände in den Blick genommen, die Bedeutung der Sache sowie die Wichtigkeit der Zeugenaussagen für die Wahrheitsfindung einbezogen und namentlich für den Geschädigten näher ausgeführt, dass es sich von diesem keinen persönlichen Eindruck verschaffen könne und daher angesichts der von ihm geäußerten Angst nicht ausgeschlossen werden könne, dass seine Aussage hiervon beeinflusst würde. Hiergegen ist, auch mit Blick auf § 247a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 StPO, aufgrund der besonderen Umstände des vorliegenden Falls nichts zu erinnern.

b) Die Strafkammer hat im Rahmen der Beweiswürdigung die Nichtgewährleistung des Rechts auf konfrontative Befragung nach Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK durch eine besonders sorgfältige und kritische Überprüfung der Aussagen berücksichtigt (vgl. zu den Maßstäben BGH, Urteil vom 13. Januar 2022 - 3 StR 341/21, NStZ 2022, 496 Rn. 21 ff. mwN).

c) In Bezug auf den Antrag auf Zeugenvernehmung des Geschädigten zu Einzelheiten der Uhrenübergabe ist zwar bedenkenswert, ob das Landgericht diesen Antrag zutreffend als ein auf Wiederholung von Teilen der Beweisaufnahme gerichtetes Begehren gewertet hat. Hieran könnten gegebenenfalls deshalb Zweifel bestehen, weil Angeklagte und Verteidiger bei der eingeführten früheren Vernehmung keine Mitwirkungsmöglichkeit hatten (vgl. BGH, Beschluss vom 15. April 2003 - 1 StR 64/03, BGHSt 48, 268, 273; weitergehend BGH, Beschluss vom 28. November 2017 - 3 StR 272/17, NStZ 2018, 740, 742. Allerdings beruht das Urteil nicht auf einer möglicherweise unzulänglichen Ablehnungsentscheidung (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - 5 StR 480/18, juris Rn. 11 f.; Urteil vom 17. Juli 2014 - 4 StR 78/14, NStZ 2014, 604 Rn. 15 mwN). Denn in diesem hat die Strafkammer die unter Beweis gestellten Tatsachen letztlich zugrunde gelegt, namentlich eine einvernehmliche Übergabe der Uhren mit einer Zahlungspflicht des Geschädigten, dessen damals fehlenden Zahlungs- und Rückgabewillen sowie ausbleibende Reaktionen auf Nachfragen des Angeklagten E. Da diese Gesichtspunkte im Wesentlichen bereits in den als Urkunden eingeführten Vernehmungsprotokollen angelegt waren und das Landgericht zudem zur Unerreichbarkeit auf seine vorangegangenen Erwägungen Bezug genommen hatte, ist hier auszuschließen, dass eine ordnungsgemäße Bescheidung zu einem anderen Prozessverhalten geführt hätte.

II. Die Nachprüfung des Urteils auf die Sachrügen hat ebenfalls keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.

1. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen beruhen auf einer tragfähigen Beweiswürdigung. Dabei hat die Strafkammer insbesondere erwogen, dass die Angeklagten und Verteidiger bei der Vernehmung des Geschädigten keine Gelegenheit hatten, Fragen zu stellen (s. oben), und sie selbst sich von ihm keinen eigenen Eindruck hat machen können. Mit Blick auf weitere Besonderheiten hat sie ihrer Überzeugungsbildung die Aussagen des Geschädigten grundsätzlich nur insoweit zugrunde gelegt, wie diese durch weitere Beweismittel bestätigt worden sind. Den Feststellungen zur subjektiven Tatseite, namentlich zu der Billigung des Tatplans durch den Angeklagten A. und der vorangegangenen gemeinsamen Absprache der Übrigen, liegen mögliche Schlussfolgerungen der Strafkammer aus den objektiven Umständen zugrunde.

2. Die rechtliche Bewertung ist nicht zu beanstanden. Dies gilt auch, soweit das Landgericht den Angeklagten Z. als Mittäter (§ 25 Abs. 2 StGB) bewertet hat. Näherer Erörterung bedarf lediglich, dass die abgeurteilten Delikte deutschem Strafrecht unterfallen und kein anderenfalls von Amts wegen zu beachtendes Verfahrenshindernis besteht.

a) Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts ergibt sich für die verwirklichte Geiselnahme (§ 239b Abs. 1 StGB) ohne Weiteres nach §§ 3, 9 Abs. 1, 2 Satz 1 StGB; denn die Entführung zog sich nach dem Ergreifen des Geschädigten in den Niederlanden über die Grenze nach Deutschland hin. Zudem war dort die Tat zuvor bereits im Sinne des § 30 Abs. 2 StGB verabredet worden und mithin auch vor diesem Hintergrund ein inländischer Handlungsort gegeben (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 1992 - 2 StR 442/92, BGHSt 39, 88 ff.).

b) Das danach eröffnete Strafanwendungsrecht erstreckt sich hier auf die tateinheitlich begangenen Tatbestände, insbesondere die allein in den Niederlanden verwirklichte gefährliche Körperverletzung zum Nachteil des Geschädigten. Eine Inlandstat im Sinne der §§ 3, 9 StGB ist nicht allein tatbestandsbezogen zu verstehen, sondern umfasst regelmäßig die im Rahmen desselben Lebensvorgangs verwirklichten Delikte und führt auch für diese zur Anwendung deutschen Strafrechts.

aa) Die Frage, ob der Begriff der Tat nach § 3 StGB materiell oder prozessual zu verstehen ist, ist umstritten und höchstrichterlich bislang nicht entschieden worden (vgl. BGH, Beschlüsse vom 27. August 2019 - 5 StR 196/19, BGHR WaffG § 52 Abs. 1 Nr. 2 Waffenhandel 1 Rn. 6 mwN; vom 17. März 1998 - 5 StR 55/98, juris Rn. 3; Urteil vom 22. Januar 2015 - 3 StR 410/14, StraFo 2015, 257 ff.; s. aber zur früheren Rechtslage RG, Urteil vom 14. November 1922 - IV 561/22, RGSt 57, 144, 145). Lediglich in Bezug auf Auslandstaten mit besonderem Inlandsbezug und gegen international geschützte Rechtsgüter im Sinne der §§ 5 und 6 StGB hat der Bundesgerichtshof den Anwendungsbereich dahin als tatbestandsbezogen gewertet, dass das tateinheitliche Zusammentreffen eines der enumerativ aufgeführten Delikte mit einem anderen Delikt für dieses grundsätzlich nicht die Geltung des deutschen Strafrechts begründet (s. BGH, Urteile vom 22. Januar 1986 - 3 StR 472/85, BGHSt 34, 1; vom 29. April 1994 - 3 StR 528/93, BGHSt 40, 125, 132 f.; Beschlüsse vom 17. Mai 1991 - 2 StR 183/90, NJW 1991, 3104; vom 23. April 2019 - 4 StR 41/19, BGHR StGB § 7 Abs. 2 Nr. 2 Auslieferung 4 Rn. 5 ff. mwN; zu Ausnahmen BGH, Urteil vom 30. April 1999 - 3 StR 215/98, BGHSt 45, 65, 69 ff.). Während im juristischen Schrifttum unter der Tat im Sinne des § 3 StGB vielfach das konkrete Tatgeschehen unter allen rechtlichen Gesichtspunkten verstanden wird (vgl. etwa LK/Werle/Jeßberger, StGB, 13. Aufl., Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 338; MüKoStGB/Ambos, 4. Aufl., § 3 Rn. 6; Schönke/Schröder/Eser/Weißer, StGB, 30. Aufl., § 3 Rn. 4; SSW-StGB/Satzger, 5. Aufl., § 3 Rn. 2; Duesberg, Der Tatbegriff in §§ 3 und 9 Abs. 1 StGB, 2017, S. 251 f.), halten andere eine für jeden einzelnen Tatbestand gesondert vorzunehmende Prüfung für erforderlich (s. beispielsweise NK-StGB/Böse, 5. Aufl., Vorbem. §§ 3 ff. Rn. 53; AnwK-StGB/Zöller, 3. Aufl., § 3 Rn. 4; Walther, JuS 2012, 203, 204).

bb) Ein derartiges rein tatbestandsbezogenes Verständnis ist nicht geboten.

Der Wortlaut des § 3 StGB, der allein von „Taten“ spricht, enthält keinen Anhaltspunkt zur Auslegung. Der den Tatort näher konkretisierende § 9 Abs. 1 StGB stellt zwar unter anderem auf einen „zum Tatbestand“ gehörenden Erfolg ab und ließe sich somit für einen Tatbestandsbezug heranziehen. Allerdings liegt eine solche weitgehende Bedeutung der den Tatbestandserfolg aufgreifenden Normvariante bereits deshalb nicht nahe, weil sie lediglich Erfolgsdelikte betrifft und damit keine allgemeine Bestimmung zum Verständnis des Tatbegriffs enthält. Soweit in systematischer Hinsicht die §§ 5 und 6 StGB die Geltung deutschen Strafrechts auf Auslandstaten lediglich bei bestimmten Tatbeständen erweitert, ermöglicht diese Ausnahmevorschrift keinen Rückschluss auf den allgemeinen Tatbegriff in § 3 StGB. Die Erwägung im Gesetzgebungsentwurf, „die Auslandstaten, für die das deutsche Strafrecht ausnahmsweise gelten soll, sind tatbestandlich bestimmt“ (BT-Drucks. IV/650 S. 105), deutet vielmehr darauf hin, dass der Tatbegriff für Inlandstaten nicht derart verstanden wird, da ansonsten ein solcher auf die genannten Auslandstaten bezogener Hinweis entbehrlich wäre.

Hinzu kommt, dass eine rein tatbestandsbezogene Betrachtungsweise einer konsistenten Beurteilung des Tatgeschehens entgegenstünde. Im Anwendungsbereich des Schengener Durchführungsübereinkommens dürfen nach § 54 SDÜ Personen, die durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden sind, unter weiteren Voraussetzungen durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden. Für den hiernach maßgeblichen, autonom nach unionsrechtlichen Maßstäben auszulegenden Tatbegriff kommt es auf die Identität der materiellen Tat an, verstanden als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter, in zeitlicher und räumlicher Hinsicht sowie nach ihrem Zweck unlösbar miteinander verbundener Tatsachen (s. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2013 - 3 StR 531/12, BGHSt 59, 120 Rn. 15; Beschluss vom 2. Februar 2021 - 2 StR 302/19, wistra 2021, 208 Rn. 4 mwN; EuGH, Urteil vom 18. Juli 2007 - C 367/05 - Kraaijenbrink - Slg. 2007, I-6640 Rn. 26 ff. mwN). Ähnlich enthält Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden (s. EuGH, Urteil vom 20. März 2018 - C-537/16 - Garlsson Real Estate SA u.a. gegen Commissione Nazionale per le Società e la Borsa - NJW 2018, 1233 Rn. 37 f. [zur selben Straftat], Rn. 66 ff. [zur unmittelbaren Anwendbarkeit]). Die Anwendung dieser Regelungen hätte bei einer rein tatbestandsbezogenen Auslegung der Tat im Sinne des § 3 StGB zur Konsequenz, dass bei einer inländischen Aburteilung ausgewählter Tatbestände aus einem einheitlichen Tatkomplex eine spätere Ahndung der übrigen im Ausland ausgeschlossen und mithin das Tatunrecht nicht vollständig erfasst sein könnte.

cc) Einer weitergehenden Abgrenzung, inwieweit der Begriff der Inlandstaten in § 3 StGB materiell oder prozessual zu verstehen ist, bedarf es hier nicht; denn die Geiselnahme und die übrigen Delikte stellen sowohl im sachlich- als auch im verfahrensrechtlichen Sinne eine Tat dar.

3. Schließlich weisen die Rechtsfolgenaussprüche - entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts - keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten auf.

a) Es berührt nicht den Bestand des Urteils, dass das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung zu Lasten der Angeklagten unter anderem eine erhebliche kriminelle Energie gewertet hat, „die deutlich wurde durch das äußerst planvolle Vorgehen, das stundenlange Festhalten des Geschädigten […], dessen Verbringung über die Landesgrenze ins Ausland und durch die Tatmotivation, die darin bestand, zivilrechtliche Ansprüche unter Missachtung des Gewaltmonopols des Staates im Wege der Selbstjustiz durchzusetzen“. Die Heranziehung des zuletzt aufgeführten Gesichtspunkts verstößt nicht gegen das Doppelverwertungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB. Eine Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ist nicht Merkmal des gesetzlichen Tatbestandes der Geiselnahme gemäß § 239b StGB, den das Landgericht seiner Strafzumessung zugrunde gelegt hat. Damit hat es nicht die Tatbegehung als solche (vgl. in anderem Zusammenhang einerseits BGH, Beschluss vom 5. Mai 2020 - 4 StR 84/20, NStZ 2020, 542 Rn. 4; andererseits BGH, Beschluss vom 25. Mai 2022 - 4 StR 36/22, juris Rn. 21), sondern einen zur bloßen Tatbestandsverwirklichung hinzukommenden, den Unrechtsgehalt kennzeichnenden Umstand herangezogen (s. auch BGH, Urteil vom 17. März 1987 - 1 StR 15/87, juris Rn. 44). Die Bewertungsrichtung und das Gewicht der Strafzumessungstatsachen bestimmt in erster Linie das Tatgericht, dem hierbei von Rechts wegen ein weiter Entscheidungs- und Wertungsspielraum eröffnet ist (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 14. März 2018 - 2 StR 416/16, NJW 2018, 2210 Rn. 24 mwN). Eine verminderte Schuldfähigkeit (§ 21 StGB), bei der gegebenenfalls eine strafschärfende Berücksichtigung nicht ohne Abstriche zulässig ist (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Mai 2022 - 4 StR 36/22, juris Rn. 21), liegt bei keinem der Angeklagten vor.

b) Die Erwägungen, mit denen das Landgericht die Unterbringung des Angeklagten Z. gemäß § 64 StGB abgelehnt hat, halten revisionsrechtlicher Prüfung im Ergebnis ebenfalls Stand. Es hat unter Heranziehung eines Sachverständigen angenommen, bei dem Angeklagten liege zwar ein Hang vor, Cannabis und Kokain im Übermaß zu sich zu nehmen. Allerdings fehle es an einem symptomatischen Zusammenhang zwischen dem Hang und der Tat. Zugleich ist die Strafkammer aufgrund eines - im Umfang nicht näher feststellbaren - Kokainkonsums zugunsten des Angeklagten von einer gewissen Enthemmung ausgegangen. Obschon eine danach in Betracht kommende Mitursächlichkeit für die Annahme des Zusammenhangs ausreichen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 27. August 2019 - 4 StR 330/19, StV 2021, 91 Rn. 14 mwN), ist aus dem Kontext der Urteilsgründe ersichtlich, dass das Landgericht eine solche aufgrund einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung nicht hat feststellen können, sondern einen „Kokainkonsum in erheblichem Ausmaß am Tattag, den der Angeklagte […] nicht konkret vorgetragen hat," lediglich zu seinem Vorteil unterstellt hat. Für die Anordnung der - den Angeklagten beschwerenden - Maßregel gemäß § 64 StGB muss der symptomatische Zusammenhang indes ebenso wie die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift sicher feststehen (BGH, Urteil vom 27. Juni 2019 - 3 StR 443/18, NStZ-RR 2019, 308 mwN).

c) Bei der Zumessung der gegen den Angeklagten A. verhängten Strafe ist auszuschließen, dass das Landgericht im Rahmen der Ablehnung eines minder schweren Falles nach § 239b Abs. 2, § 239a Abs. 2 StGB den vertypten Milderungsgrund der Beihilfe (§ 27 Abs. 2 Satz 2 StGB) aus dem Blick verloren hat. So hat es in Verbindung mit der Prüfung des minder schweren Falles ausdrücklich auf die Beihilfehandlung Bezug genommen und alsdann den Strafrahmen nach § 27 Abs. 2 Satz 2, § 49 Abs. 1 StGB gemildert.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 164

Bearbeiter: Fabian Afshar