Bearbeiter: Rocco Beck
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 528/93, Urteil v. 29.04.1994, HRRS-Datenbank, Rn. X
1. Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Dresden vom 23. April wird verworfen.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil aufgehoben; die Angeklagte wird freigesprochen.
3. Die Kosten des Verfahrens und die der Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen einer in der früheren DDR begangenen politischen Verdächtigung nach § 241 a StGB in drei rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagte hat drei Fluchtwillige angezeigt, die daraufhin von einem DDR-Gericht wegen versuchten schweren ungesetzlichen Grenzübertritts zu Freiheitsstrafen verurteilt wurden.
Gegen das Urteil richten sich die jeweils auf die Sachrüge gestützten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Angeklagten. Die Staatsanwaltschaft erstrebt die zusätzliche Verurteilung der Angeklagten wegen Freiheitsberaubung nach § 239 StGB, die Angeklagte ihren Freispruch. Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg, weil auf die DDR-Taten der Angeklagten zur Tatzeit zwar § 241 a StGB, nicht aber § 239 StGB anwendbar war. Die Revision der Angeklagten dringt durch, weil die für eine Verurteilung erforderliche innere Tatseite einer politischen Verdächtigung nach § 241 a StGB nicht festgestellt werden kann.
Nachdem die 1965 geborene Angeklagte eine Lehre als Handelskauffrau angetreten hatte, gewann das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sie 1984 als inoffizielle Mitarbeiterin. Sie informierte es auch über S., mit dem sie eine intime Beziehung unterhielt. Im März 1986 berichtete die Angeklagte dem MfS über kleinere von S. begangene kriminelle Machenschaften, woraufhin er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Nach der Haftentlassung meldete er sich im November 1988 bei der Angeklagten, um die Beziehung zu ihr wieder aufzunehmen und sie zu einer gemeinsamen Ausreise in die Bundesrepublik zu bewegen. Als die Angeklagte erfuhr, daß er gemeinsam mit seinen Freunden W. und H. mit dem Auto oder der Eisenbahn die Elbe bei Magdeburg erreichen und diese schwimmend überqueren wollte, informierte sie das MfS. Gegenüber den Überredungsversuchen S., mit ihnen gemeinsam zu fliehen, verhielt sie sich abwartend. Einerseits war sie ihm emotional zugetan, andererseits wollte sie mit Rücksicht auf ihr Kind in der DDR bleiben. Sie versuchte, S. von seinen Fluchtplänen abzubringen, und setzte ihn daher davon in Kenntnis, daß sie "gewisse Verbindungen zur Staatssicherheit" unterhalte und diese bereits Verdacht geschöpft habe. Er drohte ihr für den Fall, daß sie nicht mit fliehe und sie "geschnappt" würden, damit, sie bei den DDR-Behörden wegen Unterlassens der in § 225 DDR-StGB vorgeschriebenen Anzeige eines schweren ungesetzlichen Grenzübertritts anzuzeigen. Sie glaubte ihm nicht, daß er die Drohung wahrmachen würde. Am Morgen des 19. Dezember 1988 erschien S., für sie überraschend, mit H. in ihrer Wohnung und forderte sie auf, jetzt mitzufliehen. W. wurde später abgeholt. Der Angeklagten gelang es, von den anderen unbemerkt, das MfS telefonisch zu verständigen; sodann stieg sie in den Fluchtwagen ein. Dieser wurde noch im Stadtgebiet von Chemnitz von der Polizei gestellt. In dem sich anschließenden Strafverfahren, in dem die Angeklagte als Zeugin auftrat, wurde W. wegen versuchten schweren ungesetzlichen Grenzübertritts nach § 213 Abs. 3 und 4 DDR-StGB ("§ 213 Abs. 2, Abs. 3" auf UA S. 10 ist ersichtlich ein Fehlzitat) zu einer Freiheitsstrafe von 14 Monaten verurteilt, von der er 11 Monate verbüßte. Gegen H. wurde auf eine Freiheitsstrafe von 16 Monaten erkannt, von der er ebenfalls 11 Monate verbüßte. S. erhielt unter Einbeziehung einer anderweit verhängten Freiheitsstrafe von einem Jahr eine Freiheitsstrafe von 34 Monaten.
I. Revision der Staatsanwaltschaft
Die zuungunsten der Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet. Die von der Staatsanwaltschaft erstrebte Bestrafung der Angeklagten auch wegen Beteiligung an einer Freiheitsberaubung nach § 239 StGB wäre möglich, wenn für den durch die Angeklagte verursachten Freiheitsentzug der Angezeigten zur Tatzeit das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gegolten hätte (Art. 315 Abs. 4 EGStGB). Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Senat gibt seine entgegenstehende Rechtsprechung in BGHSt 32, 293 auf (nachfolgend unter Ziff. 1). Der Freiheitsentzug der von der Angeklagten Angezeigten muß daher nach dem zur Tatzeit geltenden Strafrecht der DDR beurteilt werden (Art. 315 Abs. 1 EGStGB, § 2 StGB). Danach kommt eine Bestrafung der Angeklagten wegen Beteiligung an einer Freiheitsberaubung nach § 131 DDR-StGB nicht in Betracht (nachfolgend unter Ziff. 2).
1. Der Senat hat in BGHSt 32, 293 die Anwendbarkeit des § 239 StGB in Fällen der vorliegenden Art mit im wesentlichen folgender Begründung bejaht: Wie der Senat bereits in BGHSt 30, 1 entschieden habe, gelte das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland auch für eine in der DDR begangene politische Verdächtigung (§ 241 a StGB) zum Nachteil eines Bürgers der DDR, der dort seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort habe. Das folge aus der Entstehungsgeschichte des § 241 a StGB und dem für diese Vorschrift geltenden Universalitätsgrundsatz des § 5 Nr. 6 StGB. Der vom Gesetzgeber der Bundesrepublik auch für DDR-Bürger gewollte umfassende Schutz gegen die in § 241 a StGB umschriebene Gefährdung durch rechtsstaatswidrige Gewalt- oder Willkürmaßnahmen müsse gemäß § 7 Abs. 1 StGB auch dann gelten, wenn die Gefährdung des DDR-Bürgers sich durch dessen Inhaftierung verwirkliche und damit den Tatbestand der Freiheitsberaubung erfülle.
Die Überprüfung dieser in BGHSt 30, 1 und 32, 293 vertretenen Auffassungen erfordert eine Stellungnahme zum innerdeutschen Strafanwendungsrecht.
a) Art. 315 Abs. 4 EGStGB ordnet an, daß das Übergangsrecht der Absätze 1 bis 3 keine Anwendung findet, soweit für die in der DDR begangene Tat das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland schon vor dem Wirksamwerden des Beitritts gegolten hat. Die Frage, für welche allein in der DDR begangenen Taten zur Tatzeit das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gelten sollte, wird weder vom StGB noch vom EGStGB ausdrücklich geregelt. Der Gesetzgeber wollte die Lösung der Rechtsprechung überlassen (Nachw. in BGHSt 30, 1, 3/4; 32, 293, 296). Welche Taten das sind, läßt sich nicht daraus ermitteln, daß in den Rechtsanwendungsvorschriften der §§ 3 ff. StGB die DDR durchweg wie Ausland und die Bundesrepublik wie Inland behandelt wird. Denn die Rechtsbegriffe "Inland" und "Ausland" passen nicht auf das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu der früheren DDR. Auch der Abschluß des Grundlagenvertrags vom 21. Dezember 1972 zwischen beiden deutschen Staaten hat nichts daran geändert, daß Deutschland als Ganzes trotz der Organisation der deutschen Staatsgewalt in zwei Teilstaaten fortbestand, so daß die DDR aus verfassungsrechtlicher Sicht zu Deutschland gehört hat und im Verhältnis zur Bundesrepublik nicht als Ausland angesehen werden durfte (BVerfGE 36, 1, 16 f., 23; 77, 137, 151; 82, 316, 320). Andererseits war die DDR ein selbständiges Völkerrechtssubjekt, dessen Unabhängigkeit und Selbständigkeit in inneren und äußeren Angelegenheiten zu respektieren war (BVerfGE 36, 1, 22, 27 f.). Das vor der Wiedervereinigung geltende Strafanwendungsrecht der Bundesrepublik muß daher der besonderen Situation der beiden "Teilstaaten Deutschlands" Rechnung tragen. Dies kann nur durch eine den jeweiligen Gesetzeszweck berücksichtigende lediglich sinngemäße Anwendung der in Betracht kommenden Vorschriften des Strafanwendungsrechts des StGB geschehen.
b) Die sinngemäße Anwendung des § 3 StGB vor der Wiedervereinigung führt zu der Auslegung, daß Inland im Sinne dieser Vorschrift lediglich den damaligen räumlichen Geltungsbereich des StGB erfaßt hat, weil der Gebietsgrundsatz des § 3 StGB an das Funktionieren der Staatsgewalt anknüpft und die Bundesrepublik auf dem Gebiet der DDR keine Staatsgewalt ausübte (BGHSt 30, 1, 4). Die Geltung der §§ 241 a, 239 StGB für die Tat der Angeklagten kann daher nicht auf eine sinngemäße Anwendbarkeit des § 3 StGB gestützt werden. Sie ergibt sich auch nicht aus der sinngemäßen Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 StGB (Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten gegen Deutsche) oder des § 7 Abs. 2 Nr. 1 StGB (Geltung des deutschen Strafrechts für Auslandstaten von Tätern, die zur Zeit der Tat Deutsche waren oder es nach der Tat geworden sind). Denn dies würde im Ergebnis auf eine umfassende Geltung des Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland auf Straftaten in der DDR hinauslaufen, weil die meisten Straftaten in der DDR von Deutschen gegen Deutsche begangen worden sind. Mit der sinngemäßen Anwendung des § 7 StGB auf DDR-Taten würde die Beschränkung des § 3 StGB auf in der Bundesrepublik begangene Straftaten de facto wieder aufgehoben. Sie wäre im übrigen mit der Übergangsregelung des Art. 315 EGStGB nicht vereinbar, die davon ausgeht, daß auf "DDR-Alttaten" grundsätzlich das zur Tatzeit geltende Strafrecht der DDR Anwendung findet (vgl. BGHSt 39, 54, 60 f.; 39, 317, 319).
c) Von der Unanwendbarkeit des § 7 Abs. 1 StGB auf Straftaten gegen DDR-Bürger in der DDR sind entgegen BGHSt 32, 293 keine Ausnahmen für Taten anzuerkennen, durch die DDR-Bürger infolge einer in der DDR begangenen politischen Verdächtigung Opfer von rechtsstaatswidrigen Gewalt- oder Willkürmaßnahmen geworden sind.
aa) Um § 241 a StGB in diesen Fällen anwenden zu können, bedarf es des Rückgriffs auf § 7 Abs. 1 StGB nicht. Denn die Anwendbarkeit des § 241 a StGB auch auf DDR-Taten folgt aus dem Universalitätsgrundsatz des § 5 Nr. 6 StGB. Danach gilt das deutsche Strafrecht, unabhängig vom Recht des Tatorts, für eine im Ausland begangene Verschleppung oder politische Verdächtigung (§§ 234 a, 241 a StGB), wenn die Tat sich gegen einen Deutschen richtet, der im Inland seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort hat. Die Anwendung dieser Vorschrift auf DDR-Taten hält allerdings der Generalbundesanwalt, einer in der Literatur weit verbreiteten Meinung folgend, deswegen nicht für möglich, weil die DDR bei der Anwendung ein und derselben Vorschrift nicht, was den Tatort angehe, wie Ausland und, was den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort des Tatopfers angehe, wie Inland behandelt werden könne. Diese Betrachtungsweise berücksichtigt aber nicht die der sinngemäßen Anwendung des § 5 Nr. 6 StGB auf das innerdeutsche Strafanwendungsrecht zugrundezulegenden Kriterien. Wie oben dargelegt, muß Ausgangspunkt der Auslegung die Erkenntnis sein, daß die Reichweite des Geltungsanspruchs des StGB für nur in der DDR begangene Taten sich nicht unmittelbar aus den §§ 3 ff. StGB ergibt, sondern von der Rechtsprechung unter Beachtung des besonderen Verhältnisses der beiden Teilstaaten Deutschlands zueinander aus den (unterschiedlichen) Prinzipien zu entwickeln ist, die den einzelnen Strafanwendungsvorschriften zugrunde liegen. Dieser normbezogenen Herausarbeitung des jeweiligen Gesetzeszwecks entzieht sich, wer schematisch die Bundesrepublik mit "Inland" und die DDR mit "Ausland" gleichsetzt.
Aus § 5 Nr. 6 StGB ergibt sich, daß Täter einer politischen Verdächtigung nach § 241 a StGB nicht nur ein Bürger der Bundesrepublik, sondern jedermann sein kann. Aus der Ergänzung des Gebietsgrundsatzes des § 3 StGB durch den Universalitätsgrundsatz des § 5 Nr. 6 StGB folgt weiter, daß Tatort einer politischen Verdächtigung sowohl das Inland als auch das Ausland, also auch das Gebiet der früheren DDR, sein kann, ohne daß es in diesem Zusammenhang notwendig wäre, zu entscheiden, ob die DDR insoweit wie Inland oder wie Ausland zu behandeln war. Zweifelhaft kann demnach allein sein, ob die in § 5 Nr. 6 StGB angeordnete Beschränkung der möglichen Tatopfer auf Deutsche, die im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben, die Bürger der früheren DDR bei sinngemäßer Anwendung des Universalitätsgrundsatzes als Tatopfer ausgeschlossen hat. Daß diese Deutsche waren und das Gebiet der DDR im Verhältnis zur Bundesrepublik staatsrechtlich als Inland angesehen werden kann, folgt aus dem Grundgesetz (BVerfGE 36, 1, 17, 31; 82, 316, 320). Darauf, daß auch strafrechtlich das in § 5 Nr. 6 StGB verwendete Merkmal "Inland" schon zur Tatzeit einen über das frühere Gebiet der Bundesrepublik hinausreichenden Inhalt hatte, deutet der Umstand, daß § 5 StGB in Nr. 3 Buchst. a, in Nr. 5 Buchst. b und in Nrn. 7 bis 10 nicht, wie in Nr. 6, vom Inland, sondern vom "räumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes" sprach, wenn nur das frühere Gebiet der Bundesrepublik gemeint war (zum Sprachgebrauch nach der Wiedervereinigung vgl. § 5 Nr. 8 StGB i.d.F. des 27. StrÄndG vom 23.7.1993, BGBl. I S. 1346). Eine die DDR erfassende Auslegung des Merkmals "Inland" in § 5 Nr. 6 StGB wird schließlich nicht dadurch ausgeschlossen, daß die DDR bei der sinngemäßen Anwendung des § 3 StGB nicht wie Inland behandelt wird. Denn die §§ 3 und 5 Nr. 6 StGB regeln unterschiedliche Bereiche. Bei dem Merkmal "Inland" in § 3 StGB geht es um die Begrenzung der strafrechtlichen Inanspruchnahme von Deutschen, die außerhalb des Bundesgebiets handeln, während das Merkmal "Inland" in § 5 Nr. 6 StGB lediglich den Kreis der Tatopfer beschreiben soll.
Weder der Wortlaut des § 5 Nr. 6 StGB noch rechtssystematische Gründe sprechen daher dagegen, in der DDR ansässige Bürger in den geschützten Personenkreis einzubeziehen. Ihre Einbeziehung hängt vielmehr allein davon ab, ob sie vom Normzweck des § 5 Nr. 6 StGB gedeckt ist. Dies ist nach der Entstehungsgeschichte des § 241 a StGB unbezweifelbar (vgl. die Nachw. in BGHSt 30, 1, 2). Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, daß der Gesetzgeber des Zweiten Strafrechtsreformgesetzes, auf den die geltende Fassung des § 5 Nr. 6 StGB zurückzuführen ist, davon hat abgehen wollen (vgl. BGHSt 30, 1, 2/3; 32, 293, 296). Dieser Schutzzweck ist schließlich auch nicht durch den Grundlagenvertrag entfallen. Das Bundesverfassungsgericht hat die trotz dessen Abschlusses fortbestehende Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland hervorgehoben, den Bürgern der DDR "Schutz und Fürsorge angedeihen zu lassen" (BVerfGE 36, 1, 31).
Es wäre daher eine normzweckwidrige Verkürzung des Universalitätsgrundsatzes der §§ 241 a, 5 Nr. 6 StGB, den durch diese Vorschriften allen nicht im Ausland ansässigen Deutschen - und zwar auch im Ausland und vor ausländischen Tätern - gewährten Schutz gegen rechtsstaatswidrige Verschleppung und politische Verdächtigung gerade den in der DDR ansässigen Deutschen vorzuenthalten. Der Senat hält daher an seiner in BGHSt 30, 1 ausgesprochenen Auffassung fest, daß für eine in der DDR zum Nachteil eines - dort ansässigen - DDR-Bürgers begangene politische Verdächtigung (§ 241 a StGB) das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland gegolten hat. Dieses ist gemäß Art. 315 Abs. 4 EGStGB auch nach der Wiedervereinigung maßgebend.
bb) Für eine in der DDR zum Nachteil eines DDR-Bürgers durch eine politische Verdächtigung begangene Freiheitsberaubung hat dagegen zur Tatzeit das Strafrecht der DDR gegolten (Aufgabe von BGHSt 32, 293). Die Anwendung des § 239 StGB auf DDR-Taten, in denen die politische Verdächtigung zur Freiheitsentziehung geführt hat, läßt sich weder auf die sinngemäße Anwendbarkeit des § 7 Abs. 1 StGB (vgl. oben unter B I 1 b) noch auf den Universalitätsgrundsatz des § 5 Nr. 6 StGB stützen.
§ 5 Nr. 6 StGB betrifft nur die Verschleppung und die politische Verdächtigung (§§ 234 a, 241 a StGB), nicht aber die Freiheitsberaubung (§ 239 StGB) und ist als Ausnahme von der Strafanwendungsregel des § 3 StGB grundsätzlich keiner Erweiterung auf dort nicht genannte Delikte zugänglich. Im übrigen ist die Regelung des § 5 Nr. 6 i.V.m. § 241 a StGB allein kein sachgerechter Anknüpfungspunkt für die Anwendbarkeit des § 239 StGB. Denn die Frage, ob das Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland oder das der DDR anzuwenden ist, wenn in der DDR deren Bürger aus politischen Gründen an Leib oder Leben geschädigt oder ihrer Freiheit beraubt worden sind, sollte einheitlich beantwortet werden. Es entständen Wertungswidersprüche, wenn das StGB nur auf solche Freiheitsberaubungen durch rechtsstaatswidrige Inhaftierungen in der DDR angewendet würde, die sich aus einer politischen Verdächtigung ergeben haben, nicht aber auf solche - unter Umständen viel schwerwiegendere - Freiheitsberaubungen, die sich aus von Amts wegen eingeleiteten Strafverfahren ergeben haben. Auch können politische Verdächtigungen gegenüber DDR- Organen nicht nur Freiheitsberaubungen, sondern infolge der rechtsstaatswidrigen Haft zusätzlich Körperverletzungs- oder - bei Verurteilungen zum Tode oder bei Todesfällen während der Haft - Tötungsdelikte zur Folge haben. Dafür, daß auch für deren Ahndung der Universalitätsgrundsatz des § 5 Nr. 6 StGB gelten solle, fehlt im Gesetz jeder Anhalt. Eine solche Annahme wäre auch nicht damit zu vereinbaren, daß andere rechtsstaatswidrige Gewalt- oder Willkürmaßnahmen zum Nachteil von DDR-Bürgern - z.B. Todesschüsse im Grenzgebiet - nach dem Tatzeitrecht der DDR beurteilt werden (BGHSt 39, 1; 39, 168).
Schließlich führt es auch nicht zu unzuträglichen Ergebnissen, das Tatzeitstrafrecht für eine in der DDR begangene politische Verdächtigung nach dem StGB und für eine dadurch verursachte Freiheitsberaubung nach dem DDR-StGB zu bestimmen. Denn das DDR-StGB kannte den Tatbestand der Freiheitsberaubung (§ 131), der bei offensichtlichen schweren Menschenrechtsverletzungen auch rechtsstaatswidrige Inhaftierungen erfaßte (vgl. das zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmte Urteil vom 13. Dezember 1993 - 5 StR 76/93 - S. 22 ff., MDR 1994, 395, 398), während dem DDR-StGB ein der politischen Verdächtigung vergleichbarer Straftatbestand fremd war.
2. Es ist daher nach § 131 DDR-StGB zu prüfen, ob sich die Angeklagte wegen Beteiligung an einer Freiheitsberaubung zum Nachteil der von ihr Angezeigten strafbar gemacht hat. Dies ist nach den Feststellungen nicht der Fall.
Nach § 131 DDR-StGB wurde u.a. mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft, wer einen Menschen einsperrt oder auf andere Weise rechtswidrig der persönlichen Freiheit beraubt. Prüfungsmaßstab für das Merkmal der Rechtswidrigkeit ist das Recht der DDR. § 131 DDR-StGB erfaßt daher in Fällen der vorliegenden Art nicht solche Handlungen, die das Recht der DDR den ihm unterworfenen Bürgern zur Pflicht gemacht und deren Unterlassung § 225 Abs. 1 DDR-StGB sogar mit Strafe bedroht hat. Bei Unterlassen der Anzeige eines gemeinschaftlichen ungesetzlichen Grenzübertritts sah § 225 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 3 i.V.m. § 213 Abs. 3 Nr. 5 DDR-StGB Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, in besonders schweren Fällen bis zu zehn Jahren vor. Daraus folgt, daß ein DDR-Bürger sich jedenfalls dann nicht nach § 131 DDR-StGB strafbar gemacht hat, wenn er von einer sog. Republikflucht vor deren Beendigung glaubhaft Kenntnis erlangt und sich in Befolgung des Gebots des § 225 Abs. 1 und 4 DDR-StGB darauf beschränkt hat, dies bei einer Dienststelle der Sicherheitsorgane der DDR zur Anzeige zu bringen und in einem späteren DDR-Strafverfahren als Zeuge zu bekunden. So lag es hier. Dafür, daß die Angeklagte über das durch das DDR-Recht gebotene Maß hinaus im Strafverfahren zum Nachteil der von ihr Angezeigten mitgewirkt hat, bestehen keine Anhaltspunkte.
Der Senat hat nicht über einen Fall zu entscheiden, in dem gegenüber dem Angezeigten schwere und offensichtliche Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind und der Anzeigeerstatter dies billigend in Kauf genommen hat. Bei solchen Sachverhalten wäre § 131 DDR-StGB grundsätzlich anwendbar (vgl. oben unter B I 1 c bb a.E.). Hier kommt eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen Beteiligung an einer Freiheitsberaubung nach § 131 DDR-StGB schon deswegen nicht in Betracht, weil der Senat aufgrund der Besonderheiten des vom Landgericht festgestellten Sachverhalts ausschließen kann, daß die Angeklagte schwere und offensichtliche Menschenrechtsverletzungen an den von ihr Angezeigten in ihren Vorsatz aufgenommen hat. So hatte die Angeklagte S., dem sie emotional zugetan war, vor der Tat darüber informiert, daß sie gewisse Verbindungen zum MfS unterhalte und daß dieses bereits Verdacht geschöpft habe. Sie hat auf diese Weise versucht, ihn von weiteren Fluchtvorbereitungen abzuhalten. Im Falle einer Nichtanzeige hat sie - unwiderlegt - geglaubt, seitens der "Stasi" Repressalien befürchten zu müssen oder sich nach § 225 DDR-StGB strafbar zu machen; im übrigen hatte ihr S. seinerseits angedroht, er werde sie wegen eines Verstoßes gegen § 225 DDR-StGB anzeigen, falls sie sich an seinem Fluchtvorhaben nicht beteilige und er gefaßt werde. Sie ging bei der Unterrichtung des MfS davon aus, daß die Polizei rechtzeitig eingreifen werde. Entsprechend ihrer Annahme wurden die Fluchtwilligen bereits nach kurzer Fahrt noch innerhalb des Stadtgebiets von Chemnitz gestellt. Die Angeklagte glaubte, daß ihnen bei einer solchen Festnahme am Ausgangsort der Flucht keine Bestrafung drohe, weil sie meinte, ungesetzlicher Grenzübertritt im Sinne des § 213 DDR-StGB beginne erst im Grenzgebiet. Eine über die Verhinderung der Flucht hinausgehende Schädigung der Angezeigten war ihr unerwünscht.
II. Revision der Angeklagten
Die Revision der Angeklagten führt zu deren Freispruch, weil die Anforderungen, die an die innere Tatseite einer von einem DDR-Bürger begangenen politischen Verdächtigung (§ 241 a StGB) gestellt werden müssen, nicht erfüllt sind.
1. Das Landgericht hat zu Recht angenommen, daß § 241 a StGB auf das Verhalten der Angeklagten anwendbar ist (vgl. oben unter B I 1 c aa). Die von ihm zum objektiven Tatgeschehen getroffenen Feststellungen reichen jedoch nicht aus, um überprüfen zu können, ob die Angeklagte durch ihre Anzeige an das MfS die Angezeigten der in § 241 a StGB umschriebenen Gefahr ausgesetzt hat, nämlich aus politischen Gründen verfolgt zu werden und hierbei im Widerspruch zu rechtsstaatlichen Grundsätzen durch Gewalt- oder Willkürmaßnahmen Schäden an Leib oder Leben zu erleiden, der Freiheit beraubt oder in ihren beruflichen oder wirtschaftlichen Stellungen empfindlich beeinträchtigt zu werden.
Durch die Anzeige an das MfS hat die Angeklagte die Angezeigten der Gefahr ausgesetzt, wegen vorbereiteten oder versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in schweren Fällen zu erheblichen Freiheitsstrafen verurteilt zu werden. Solche Verurteilungen sind in der Regel rechtsstaatswidrig (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. e StrRehaG). Zur Erfüllung des Tatbestandes des § 241 a StGB reicht es jedoch nicht aus, daß dem Angeklagten eine rechtsstaatswidrige Verurteilung droht. Es muß hinzukommen, daß die zu erwartenden Folgen als Gewalt- oder Willkürmaßnahmen i.S.d. § 241 a StGB zu werten sind. Dies war bei einer drohenden Verurteilung aufgrund eines in der DDR geltenden Strafgesetzes dann der Fall, wenn mit einer Bestrafung gerechnet werden mußte, die in einem unerträglichen Mißverhältnis zur Tat steht, so daß sie als grob ungerecht und als schwerer, offensichtlicher Verstoß gegen die Menschenrechte erscheinen muß, oder wenn in dem Ermittlungs- oder Strafverfahren sonst mit schweren Verstößen gegen die Menschenrechte zu rechnen war. Daraus folgt, daß nicht jede Anzeige einer noch nicht beendeten sog. Republikflucht, durch die ein DDR-Bürger der in § 225 DDR-StGB normierten Anzeigepflicht nachgekommen ist, den Tatbestand des § 241 a StGB erfüllt. Tatbestandserheblich ist vielmehr nur eine Anzeige, die den Angezeigten der Gefahr aussetzte, solche rechtsstaatswidrigen Gewalt- oder Willkürmaßnahmen zu erleiden, die wegen ihrer offensichtlichen, schweren Menschenrechtsverletzungen auch eine Strafbarkeit der dafür verantwortlichen DDR-Organe begründen können.
Der Senat hält diese einschränkende Auslegung für notwendig, um nicht den Anzeigeerstatter in einem DDR-Ermittlungs- oder Strafverfahren wegen ungesetzlichen Grenzübertritts einem höheren Strafbarkeitsrisiko auszusetzen als die DDR-Amtspersonen, die die Verhängung der vom Anzeigeerstatter in Kauf genommenen Gewalt- oder Willkürmaßnahmen unmittelbar zu vertreten haben. Ein Richter, der eine Freiheitsstrafe wegen Republikflucht verhängt hat, kann wegen Freiheitsberaubung an dem Verurteilten nur dann bestraft werden, wenn er durch seine Mitwirkung Rechtsbeugung begangen hat (Sperrwirkung der Rechtsbeugung, vgl. BGHSt 32, 357, 364; 10, 294, 298; zur Rechtsbeugung durch DDR-Richter vgl. das zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmte Urteil vom 13. Dezember 1993 - 5 StR 76/93 - S. 23, MDR 1994, 395). Der Bundesgerichtshof hat für politische Verdächtigungen unter der NS-Herrschaft ausgesprochen, daß die Frage, ob die durch den Vollzug eines Strafurteils herbeigeführte Folge rechtmäßig oder rechtswidrig ist, für alle Beteiligten - den Anzeigenden, den Polizeibeamten, den Staatsanwalt und den Richter - nur einheitlich entschieden werden kann, wenn der Anzeigende einen wahren Sachverhalt angezeigt und der Richter den wahren Sachverhalt in einem ordnungsmäßigen Verfahren zutreffend ermittelt hat (BGHSt 3, 110 f.). Dieser Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtswidrigkeit wird bei der vom Senat für geboten erachteten Auslegung in dem oben umschriebenen Sinn gewahrt.
Für die Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 241 a StGB kommt es allerdings nicht darauf an, daß tatsächlich grob menschenrechtswidrige Maßnahmen infolge der Anzeige verhängt worden sind. Es reicht, daß durch die politische Verdächtigung eine entsprechende konkrete Gefahr begründet worden ist. Auch der - gegebenenfalls bedingte - Vorsatz muß sich aufgrund einer "Parallelwertung in der Laiensphäre" auf ein solches exzessives Vorgehen der DDR-Untersuchungs- oder Justizorgane erstrecken (vgl. auch BGHSt 3, 110, 127 f.). Dies bedarf der tatrichterlichen Feststellung.
Ist der in dieser Weise einschränkend ausgelegte äußere und innere Tatbestand des § 241 a StGB erfüllt, so wird die politische Verdächtigung nicht dadurch gerechtfertigt, daß die Anzeige durch das DDR-Recht vorgeschrieben war. Denn aus der vom Bundesgesetzgeber gewollten Geltung des § 241 a StGB auch und gerade für Taten in der DDR folgt zwangsläufig, daß die tatbestandserheblichen Verdächtigungen und Bespitzelungen nicht deshalb rechtmäßig im Sinne des StGB sein können, weil sie von der formalen Gesetzeslage des DDR-Strafrechts und Verfahrensrechts gedeckt waren (vgl. BGHSt 14, 104, 106). Einer konkreten Zwangslage, der sich ein DDR-Bürger durch die insoweit einander widersprechenden Anforderungen des StGB und des DDR-StGB im Einzelfall ausgesetzt sah, muß vielmehr im Rahmen der Vorschriften über den rechtfertigenden und entschuldigenden Notstand (§§ 34, 35 StGB) Rechnung getragen werden.
2. Ob die Voraussetzungen des § 241 a StGB in der beschriebenen Weise erfüllt waren, läßt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Trotzdem sieht der Senat von einer Zurückverweisung der Sache ab. Denn im Hinblick auf die rechtsfehlerfrei festgestellten Besonderheiten des Sachverhalts (vgl. oben unter B I 2) schließt er jedenfalls aus, daß eine neue Hauptverhandlung zum Nachweis führen würde, daß die Angeklagte über das in jeder Inhaftierung wegen ungesetzlichen Grenzübertritts liegende Unrecht hinaus mit schweren Menschenrechtsverletzungen an den von ihr Angezeigten gerechnet oder wenigstens eine derartige Gefahr billigend in Kauf genommen hat. Sie war daher freizusprechen.
Externe Fundstellen: BGHSt 40, 125; NJW 1994, 3174; NStZ 1994, 426; NStZ 1995, 83
Bearbeiter: Rocco Beck