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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 918

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 443/18, Urteil v. 27.06.2019, HRRS 2019 Nr. 918


BGH 3 StR 443/18 - Urteil vom 27. Juni 2019 (LG Oldenburg)

Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (symptomatischer Zusammenhang zwischen Hang und Anlasstat; Erheblichkeit der Anlasstat).

§ 64 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Ein symptomatischer Zusammenhang zwischen einem Hang i.S.d. § 64 StGB und einer Anlasstat liegt im Grundsatz dann vor, wenn der Hang zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. Die konkrete Anlasstat muss in dem Hang ihre Wurzel finden, also Symptomwert für diesen haben, indem sich in ihr die hangbedingte Gefährlichkeit des Täters äußert.

2. Hat der Täter mehrere Taten begangen, so reicht es aus, wenn ein Teil von ihnen auf den Hang zurückzuführen ist. Gleiches gilt für einen abgrenzbaren Teil einer einheitlichen Tat. In diesen Fällen gilt das Erfordernis der Erheblichkeit für den jeweiligen Teil.

3. Das Erfordernis der Erheblichkeit der Anlasstat hat der Bundesgerichtshof bislang nicht näher bestimmt. In Anbetracht der präventiven Natur der Maßregel nach § 64 StGB sowie des in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachten Willen des historischen Gesetzgebers ist es insofern zwar angezeigt, an das Merkmal nur geringe Anforderungen zu stellen. Indes scheiden jedenfalls bloße Bagatellfälle (hier: Besitz von 3 g Marihuana und zwei Joints) als Grundlage für die Anordnung der Maßregel aus.

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 25. April 2018 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt, Einziehungsentscheidungen getroffen und davon abgesehen, die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt anzuordnen. Dagegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen war der Angeklagte Untermieter einer in W. gelegenen Wohnung, die er zusammen mit dem Hauptmieter, dem Mitangeklagten T., bewohnte. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt nach dem 11. September 2017 hatten beide dem Mitangeklagten M. das von ihnen gemeinschaftlich genutzte Wohnzimmer für eine Mitnutzung zur Verfügung gestellt. Am 19. September 2017 um 9 Uhr verwahrten die drei Angeklagten in dem Bettkasten des dort befindlichen Schlafsofas 12.713,9 g Marihuana mit einer Wirkstoffkonzentration von 11,1 % Tetrahydrocannabinol (THC), das der Mitangeklagte M. als Kurier des gesondert Verfolgten H. in die Wohnung verbracht hatte und das für den Verkauf bestimmt war. Des Weiteren übte der Angeklagte in der Wohnung die Sachherrschaft über ca. 3 g Marihuana und zwei Joints mit einem nicht bekannten Wirkstoffgehalt aus; diese Drogen, die auf der Fensterbank seines Schlafzimmers lagen, waren zum Eigenverbrauch vorgesehen.

2. Die Revision deckt zum Schuld- und Strafausspruch sowie zur Einziehungsentscheidung aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts dargelegten Gründen keinen dem Angeklagten nachteiligen Rechtsfehler auf.

Dahinstehen kann, ob die von der Strafkammer vorgenommene konkurrenzrechtliche Bewertung der Feststellungen, der Angeklagte habe nur eine materiellrechtliche Tat des - mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge idealkonkurrierenden - Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge begangen, weil der gleichzeitige Besitz der 12.713,9 g Marihuana sowie der etwa 3 g Marihuana zuzüglich der beiden Joints nur einen einheitlichen Verstoß gegen § 29a Abs. 1 Satz 2 BtMG darstelle, zutreffend ist oder ob der Angeklagte wegen zwei Taten, mithin wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie - in Tatmehrheit hierzu - Besitzes von Betäubungsmitteln zu verurteilen gewesen wäre (so BGH, Beschluss vom 10. November 2015 - 3 StR 357/15, NStZ 2016, 421; abweichend dagegen - für den Besitz von zwei an verschiedenen Orten aufbewahrten Betäubungsmittelmengen einerseits zum Zweck des täterschaftlichen Handeltreibens und andererseits zum Zweck des eigenen Konsums - BGH, Beschlüsse vom 12. Oktober 1990 - 1 StR 539/90 [unveröffentlicht]; vom 30. Juni 1998 - 1 StR 293/98, StV 1998, 593 f.; s. auch MüKoStGB/Kotz/O?lakc?o?lu, 3. Aufl., BtMG § 29 Rn. 1151; KPV BtMG/Patzak, 9. Aufl., § 29 Teil 4. Rn. 339; Weber, BtMG, 5. Aufl., Vor §§ 29 ff. Rn. 674). Denn insoweit ist er jedenfalls nicht beschwert; für die Entscheidung über seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ist die konkurrenzrechtliche Bewertung ohne Bedeutung.

3. Entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts begegnet es keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht von der Anordnung der Maßregel nach § 64 StPO abgesehen hat, weil deren tatbestandliche Voraussetzungen nicht vorliegen.

a) Die Strafkammer hat zwar einen Hang des Angeklagten festgestellt, Rauschmittel im Übermaß zu sich zu nehmen. Trotz seiner wahrheitswidrigen Angaben zu den konkreten Konsummengen stehe fest, dass er überhaupt regelmäßig Alkohol, Marihuana und Kokain konsumiere und aufgrund dessen bereits seine Gesundheit sowie seine Arbeits- und Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt seien. Die Strafkammer hat indes keinen symptomatischen Zusammenhang zwischen diesem Hang und der Anlasstat festzustellen vermocht. Hierzu hätten - wenngleich zu vermuten sei, dass die Tat der Finanzierung des Drogenkonsums gedient haben könnte - keine tatsächlichen Feststellungen getroffen werden können.

b) Diese Beurteilung hält rechtlicher Nachprüfung stand.

aa) Ein symptomatischer Zusammenhang liegt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. Beschlüsse vom 22. September 1999 - 3 StR 393/99, BGHR StGB § 64 Zusammenhang, symptomatischer 2; vom 5. Oktober 2000 - 4 StR 377/00, juris Rn. 7; vom 16. Juli 2002 - 4 StR 179/02, juris Rn. 5; vom 30. September 2003 - 4 StR 382/03, NStZ-RR 2004, 78, 79; vom 25. Mai 2011 - 4 StR 27/11, NStZ-RR 2011, 309; vom 6. November 2013 - 5 StR 432/13, juris Rn. 4; vom 12. Januar 2017 - 1 StR 604/16, juris Rn. 17; vom 27. November 2018 - 3 StR 299/18, NStZ 2019, 265, 266; vom 21. März 2019 - 3 StR 81/19, juris Rn. 14) vor, wenn der Hang zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln allein oder zusammen mit anderen Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft zu erwarten ist. Die konkrete Anlasstat muss in dem Hang ihre Wurzel finden, also Symptomwert für diesen haben, indem sich in ihr die hangbedingte Gefährlichkeit des Täters äußert (vgl. BGH, Urteil vom 11. September 1990 - 1 StR 293/90, NStZ 1991, 128; s. auch BGH, Beschlüsse vom 28. August 2013 - 4 StR 277/13, NStZ-RR 2014, 75; vom 12. Januar 2017 - 1 StR 604/16, aaO; LK/Schöch, StGB, 12. Aufl., § 64 Rn. 42). Hat er mehrere Taten begangen, so reicht es aus, wenn ein Teil von ihnen auf den Hang zurückzuführen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Januar 2015 - 3 StR 600/14, juris Rn. 4; Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 6. Aufl., Rn. 454).

Für die Anordnung der - den Angeklagten beschwerenden - Maßregel gemäß § 64 StGB muss der symptomatische Zusammenhang ebenso wie die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen der Vorschrift sicher feststehen. Für die Annahme der Voraussetzungen des § 64 StGB infolge der Anwendung des Zweifelssatzes ist insoweit - anders als etwa bei der Frage verminderter Schuldfähigkeit nach § 21 StGB - kein Raum (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Juni 2013 - 4 StR 145/13, juris Rn. 13; vom 12. März 2014 - 4 StR 572/13, juris Rn. 4; vom 25. September 2018 - 3 StR 621/17, juris Rn. 10, jeweils mwN).

bb) Gemessen daran hat das Landgericht den symptomatischen Zusammenhang rechtsfehlerfrei verneint.

(1) Soweit der Angeklagte und die beiden Mitangeklagten 12.713,9 g Marihuana im Bettkasten zur Förderung des Betäubungsmittelhandels H. verwahrten, hat die Strafkammer ohne Rechtsfehler einen solchen Zusammenhang nicht positiv festgestellt. Der Besitz dieses Rauschgifts kann daher mangels sicher feststehenden symptomatischen Zusammenhangs mit dem Hang die Anordnung der Maßregel nach § 64 StGB nicht rechtfertigen. Im Einzelnen:

Die Strafkammer hat sich damit befasst, ob der Angeklagte von H. für die Tat entlohnt wurde und ob sie der Finanzierung seines Drogenmissbrauchs diente. Dies hat sie nicht feststellen können, weil der Angeklagte ebenso wie die Mitangeklagten hierzu keine Angaben gemacht habe und auch sonst keine Indizien vorlägen, die einen solchen Schluss zuließen. Des Weiteren hat die Strafkammer - im Rahmen der Prüfung des § 21 StGB - erwogen, ob der Angeklagte die Tat in einem berauschten oder entzügigen Zustand beging. Dies hat sie verneint, weil im Hinblick auf das von ihm bei der Wohnungsdurchsuchung gezeigte unauffällige Verhalten bereits ausreichende tatsächliche Anhaltspunkte hierfür fehlten (s. UA S. 23 f.). Dass sich die Strafkammer von solchen einen Symptomwert der Tat belegenden tatsächlichen Umständen nicht überzeugt hat, ist nach dem eingeschränkten Maßstab der auf die Sachrüge veranlassten Nachprüfung der Beweiswürdigung (s. etwa BGH, Urteile vom 23. Januar 2014 - 3 StR 373/13, juris Rn. 6; vom 1. Dezember 2016 - 3 StR 331/16, juris Rn. 28; vom 16. November 2017 - 3 StR 315/17, NJW 2018, 1411 Rn. 5) nicht zu beanstanden.

Auf der Grundlage der Urteilsfeststellungen liegt es zudem nicht nahe, dass die intensive Neigung des Angeklagten zum Alkohol- und Betäubungsmittelmissbrauch anderweitig - etwa indirekt (s. MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl., § 64 Rn. 39 mwN; LK/Schöch, StGB, 12. Aufl., § 64 Rn. 40) - zum handelsfördernden Besitz der 12.713,9 g Marihuana mit beigetragen haben könnte, so dass insoweit weitere Darlegungen in den Urteilsgründen nicht geboten waren.

(2) Soweit der Angeklagte in seinem Schlafzimmer ca. 3 g Marihuana und zwei Joints aufbewahrte, die für den eigenen Konsum bestimmt waren, erweist es sich nicht als rechtsfehlerhaft, dass sich das Urteil diesbezüglich nicht zu einem symptomatischen Zusammenhang verhält. Denn auf den Besitz dieser Drogen hätte sich die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nicht stützen lassen.

Zwar reicht es, wie dargelegt (s. II. 3. b) aa)), grundsätzlich aus, wenn der Hang zum Missbrauch von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln lediglich zu einem Teil mehrerer Taten beigetragen hat. Gleiches gilt für einen abgrenzbaren Teil einer einheitlichen Tat. Nach der oben zitierten ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs setzt der symptomatische Zusammenhang jedoch eine gewisse Erheblichkeit der Anlasstat voraus (ebenso Schmitt, FS Bockelmann, 1979, S. 861, 864; NKStGB/Pollähne, 5. Aufl., § 64 Rn. 40; MüKoStGB/van Gemmeren, 3. Aufl., § 64 Rn. 38). Ist allein ein Teil der begangenen Tat(en) - zumindest auch - auf den Hang zurückzuführen, so gilt dieses Erfordernis für den jeweiligen Teil.

Was es bedeutet, dass der Hang zur Begehung einer „erheblichen rechtswidrigen Tat“ beigetragen haben muss, hat der Bundesgerichtshof bislang nicht näher bestimmt. In Anbetracht der präventiven Natur der Maßregel nach § 64 StGB sowie des in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachten Willen des historischen Gesetzgebers (vgl. BT-Drucks. V/4094, S. 17 [zu § 42a Abs. 2 StGB aF als Vorgängernorm des § 62 StGB]) ist es zwar angezeigt, an das Merkmal der Erheblichkeit nur geringe Anforderungen zu stellen (s. BGH, Beschluss vom 4. Juni 2019 - 3 StR 196/19 zur Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt neben einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten; generell ablehnend demgegenüber Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, § 64 Rn. 14; SSWStGB/Heine, 4. Aufl., § 64 Rn. 22; Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl., § 64 Rn. 8; LK/Schöch, StGB, 12. Aufl., § 64 Rn. 30). Indes scheiden jedenfalls bloße Bagatellfälle als Grundlage für die Anordnung der Maßregel aus (ähnlich AnwKStGB/Kilian, 2. Aufl., § 64 Rn. 8).

Der im Hang wurzelnde Besitz der für den eigenen Konsum bestimmten ca. 3 g Marihuana und zwei Joints ist in diesem Sinne unerheblich. Im Hinblick auf Unrecht und Schuld hat die Strafkammer diesem Besitz rechtsfehlerfrei überhaupt kein Gewicht beigemessen; so ist im Rahmen der Strafzumessung ausgeführt, dieser Teil der Tat habe keinerlei Einfluss auf die Strafhöhe gehabt (s. UA S. 23). In dem Besitz einer derart geringen Menge sog. weicher Drogen zum Eigenverbrauch (zur Geringfügigkeitsgrenze nach § 29 Abs. 5 BtMG vgl. Weber, BtMG, 5. Aufl., § 29 Rn. 2118 f.) konnte sich eine hangbedingte Gefährlichkeit des Angeklagten nicht äußern.

Inwieweit an die Erheblichkeit der symptomatischen Anlasstat - über den Ausschluss von Bagatellfällen hinaus - weitergehende Anforderungen zu stellen sind, braucht der Senat hier nicht zu entscheiden.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 918

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2019, 308; StV 2021, 250

Bearbeiter: Christian Becker