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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1232

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 325/24, Beschluss v. 11.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1232


BGH 5 StR 325/24 - Beschluss vom 11. September 2024 (LG Berlin)

Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt bei aus dem Ausland entsandten Arbeitnehmern (Reichweite und Grenzen der Bindungswirkung von Entsendebescheinigungen aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat); Einschleusen von Ausländern; Beschäftigung von Ausländern ohne Aufenthaltstitel und zu ungünstigen Arbeitsbedingungen.

§ 266a StGB; § 10 Abs. 1 SchwarzArbG; § 97 AufenthG; Art. 2 VO [EG] 883/2004

Leitsätze des Bearbeiters

1. Entsendebescheinigungen (sog. „A1-Bescheinigungen“), die in einem anderen Mitgliedsstaat erstellt wurden, können bei der Arbeitnehmerentsendung Bindungswirkung bezüglich der deutschen Sozialversicherungspflicht entfalten. Dies gilt selbst, wenn diese Bescheinigungen betrügerisch oder missbräuchlich erlangt worden sind. Eine solche Bindungswirkung setzt indes voraus, dass die entsandten Arbeitnehmer in den persönlichen Anwendungsbereich der einschlägigen Verordnung fallen (vgl. Art. 2 VO [EG] 883/2004). Ist dies nicht der Fall (hier: da es sich um Drittstaatsangehörige ohne rechtmäßigen Aufenthalt und rechtmäßige Arbeit in einem Mitgliedsstaat handelte) kann eine A1-Bescheinigung auch keine Bindungswirkung entfalten (teilweise Abgrenzung zu BGH HRRS 2024 Nr. 820).

2. Die tatbestandliche Bindungswirkung einer „A1-Bescheinigung“ ist auf die darin genannte Person beschränkt. Handelt es sich bei dem Beschäftigten aufgrund wesentlich abweichender Personalien aber um eine andere, real nicht existierende Person, geht die Tatbestandswirkung ins Leere und die Bindungswirkung entfällt.

3. Ein auffälliges Missverhältnis im Sinne von § 10 Abs. 1 SchwarzArbG liegt vor, wenn die Arbeitsbedingungen des ausländischen Arbeitnehmers so beträchtlich schlechter sind als die Arbeitsbedingungen vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer, dass für einen mit den Gepflogenheiten der jeweiligen Branche vertrauten Dritten ein augenfälliger Unterschied besteht. Erforderlich ist danach zunächst, dass die Arbeitsbedingungen des ausländischen Arbeitnehmers nicht nur unerheblich negativ von denjenigen der Vergleichsgruppe abweichen. Die bestehende Diskrepanz von Leistung und Gegenleistung hinsichtlich des ausländischen Arbeitnehmers im Vergleich zu dem deutschen Arbeitnehmer muss darüber hinaus auffällig, also offensichtlich sein.

4. Die Feststellung eines auffälligen Missverhältnisses der Arbeitsbedingungen Missverhältnis im Sinne von § 10 Abs. 1 SchwarzArbG erfordert in der Regel eine Gesamtschau aller Arbeitsbedingungen wie Lohn, Urlaub, soziale Absicherung, Schutz vor Arbeitsunfällen und Kündigung. Das bloße Nichtanmelden zur Sozialversicherung reicht hierfür nicht.

Entscheidungstenor

Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 28. Juli 2023 werden verworfen, diejenige des Angeklagten A. Z. mit der Maßgabe, dass gegen ihn die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 2.765.548,37 Euro als Gesamtschuldner angeordnet wird und die weitergehende Einziehung entfällt.

Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Der Antrag der Einziehungsbeteiligten auf Entscheidung des Revisionsgerichts gegen den Beschluss des Landgerichts Berlin vom 24. Januar 2024, mit dem die Revision der Einziehungsbeteiligten gegen das vorgenannte Urteil als unzulässig verworfen worden ist, wird als unbegründet verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten wie folgt verurteilt: den Angeklagten Za. wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung sowie mit Beschäftigung von Ausländern ohne Aufenthaltstitel und zu ungünstigen Arbeitsbedingungen sowie wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 128 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten; die Angeklagten A. Z., K. Z. und S. jeweils wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung, mit Beihilfe zur Beschäftigung von Ausländern ohne Aufenthaltstitel und zu ungünstigen Arbeitsbedingungen sowie mit Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt zu Freiheitsstrafen von vier Jahren und acht Monaten, drei Jahren und elf Monaten und vier Jahren und sechs Monaten; den Angeklagten K. wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten und den Angeklagten Sc. wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Zudem hat es gegen alle Angeklagten außer den Angeklagten Sc. und gegen die Einziehungsbeteiligte die Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet (Beträge zwischen 64.575 und 7 Mio. Euro). Die von den Angeklagten und der Einziehungsbeteiligten eingelegten Rechtsmittel bleiben überwiegend ohne Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen der Strafkammer gründete der Angeklagte Za. in Estland, Litauen und Lettland eine Vielzahl von Firmen, mit denen er in ganz Deutschland im Leiharbeitsgeschäft im Logistikbereich tätig war. Die bei den Unternehmen von ihm angestellten Arbeitskräfte kamen zu mindestens 90 % aus Nicht-EU-Staaten (Drittstaaten) wie der Ukraine oder der Republik Moldau; sie verfügten weder über die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates noch über die erforderliche Arbeitserlaubnis für Deutschland oder die langfristige Arbeitserlaubnis in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union; zudem verfügten sie nicht über ein Visum. Sie konnten nur mit gefälschten ID-Karten in Deutschland arbeiten, die teils falsche Namen, jedenfalls aber unzutreffend die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaates auswiesen. Um eine Entsendung von Leiharbeitern aus einem baltischen EU-Staat vorzutäuschen und um in Deutschland keine Sozialabgaben zahlen zu müssen, wurden ab Herbst 2019 mit den gefälschten ID-Karten „A1-Bescheinigungen“ erschlichen, nachdem zunächst noch ohne diese vorgegangen worden war. Diese dienen dem Nachweis, dass der nur vorübergehend nach Deutschland entsandte Leiharbeitnehmer dem Sozialversicherungsrecht seines Entsende-Mitgliedsstaates unterliegt und deshalb das deutsche Sozialversicherungsrecht keine Anwendung auf ihn findet. Um die Gewinnmargen zu erhöhen, wurden die entsandten Arbeitnehmer durch schlechte Arbeitsbedingungen und Abzüge vom Lohn ausgebeutet. Im Tatzeitraum Dezember 2017 bis Dezember 2021 erzielte der Angeklagte Za. mit seinen Firmen auf diese Weise einen Umsatz in Höhe von knapp 29 Mio. Euro. Pro Monat waren in ganz Deutschland an bis zu 40 Einsatzorten bis zu 400 Leiharbeitnehmer beschäftigt, im ganzen Tatzeitraum mehr als 1.000. Sozialversicherungsbeiträge für die Beschäftigten wurden lediglich in geringem Umfang in den baltischen Staaten entrichtet (wo zudem regelmäßig nur der dortige Mindestlohn gemeldet war); dies führte in Deutschland zur Hinterziehung von Sozialversicherungsabgaben in Höhe von mehreren Millionen Euro.

Der Angeklagte Za. war Ideengeber des kriminellen Systems und gründete die baltischen Gesellschaften, baute sie auf und kontrollierte sie als faktischer Geschäftsführer unter Einsatz von Strohleuten für die formelle Geschäftsführung. Die Angeklagten Z. waren damit betraut, in B. und Br. Logistiklager großer Handelsunternehmen wie R., P. oder Za. als Kunden zu gewinnen und das operative Geschäft in der Region zu leiten, wobei die Angeklagte K. Z. das Büro leitete und der Angeklagte A. Z. als Partner von Za. 50 % der Einnahmen aus den von ihm betrauten Geschäften erhielt. Unterstützt wurden die beiden von dem Angeklagten K. als Vorarbeiter. Außerhalb von B. und Br. führte der Angeklagte Za. das operative Geschäft mit Hilfe des Angeklagten S. ; dieser sorgte für die reibungslose Zusammenarbeit mit den Kunden und die Organisation der Leiharbeit. Der Angeklagte Sc. beantragte unter anderem als Steuerberater und Geschäftsführer der Einziehungsbeteiligten für die Gesellschaften von Za. die erforderlichen Erlaubnisse für die Arbeitnehmerüberlassung bei der Bundesagentur für Arbeit.

Allen Angeklagten war bei ihren Tatbeiträgen bewusst, dass 90 % der beschäftigten Leiharbeiter Drittstaatsangehörige und mit gefälschten ID-Karten beschäftigt waren; dies war gerade Teil des Geschäftskonzepts. Ebenso wussten sie, dass die Leiharbeiter unter Umgehung des Sozialversicherungssystems und zu ungünstigen Arbeitsbedingungen tätig waren, was die Basis für ihren jeweiligen finanziellen Profit war.

2. Das Landgericht hat sich seine Überzeugung auf der Grundlage überwiegender Geständnisse der Angeklagten A. und K. Z. und des Angeklagten K. sowie eines im Rahmen einer Verständigung abgegebenen Geständnisses des Angeklagten Sc. und von Geständnissen dreier früherer Mitangeklagter (die für die praktische Arbeitnehmerüberlassung vor Ort und die Beschaffung der gefälschten ID-Karten zuständig waren) verschafft. Diese Geständnisse hat es durch die Auswertung von Chats, Inhalten von Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen (insbesondere zur Staatsangehörigkeit der Leiharbeiter) sowie umfangreiche Ermittlungen zu den eingesetzten Leiharbeitnehmern bestätigt gesehen und hierauf auch von den Einlassungen abweichende Feststellungen gestützt.

II.

Die mit Verfahrens- und Sachrügen geführten Revisionen bleiben erfolglos.

1. Die Revision der Einziehungsbeteiligten ist unzulässig, was bereits das Landgericht mit Beschluss vom 24. Januar 2024 zutreffend ausgesprochen hat. Der dagegen gerichtete Antrag auf Entscheidung des Revisionsgerichts nach § 346 Abs. 2 StPO bleibt ohne Erfolg. Das angegriffene Urteil ist der Einziehungsbeteiligten am 30. November 2023 zugestellt worden (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts). Die Revisionsbegründung der Einziehungsbeteiligten ist erst am 4. Januar 2024 bei Gericht eingegangen. Damit ist die hier maßgebliche Frist des § 345 Abs. 1 Satz 1, 3 StPO nicht eingehalten worden. Einen Antrag auf Wiedereinsetzung hat die Einziehungsbeteiligte nicht gestellt. Im Übrigen zeigt die mit der allgemeinen Sachrüge geführte Revision der Einziehungsbeteiligten auch keinen Rechtsfehler zu ihrem Nachteil auf.

2. Die Revisionen der Angeklagten bleiben ebenfalls weitgehend ohne Erfolg. Über die Ausführungen des Generalbundesanwalts in seinen Antragsschriften hinaus bedarf nur Folgendes der Erörterung:

a) Die auf einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen tragen die Schuldsprüche.

aa) Dies gilt namentlich hinsichtlich der Verurteilung wegen gewerbs- und bandenmäßigen Einschleusens von Ausländern nach § 97 Abs. 2 iVm § 96 Abs. 1 AufenthG in der vom 1. August 2018 bzw. 1. Juli 2017 jeweils bis zum 26. Februar 2024 geltenden Fassung.

Es handelte sich bei den in Deutschland beschäftigten Leiharbeitnehmern um Staatsangehörige der Ukraine, der Republik Moldau, von Georgien, Tadschikistan, Kasachstan oder der Russischen Föderation. Keiner der Betroffenen verfügte über eine Aufenthaltserlaubnis, obwohl spätestens mit der Aufnahme einer Beschäftigung im Bundesgebiet etwaige Ausnahmen von der Visumspflicht für „Positivstaatsangehörige“ (vgl. Art. 4 Abs. 1 der Verordnung [EU] 2018/1806 vom 14. November 2018, Abl. L 303, 39 iVm Anlage II) entfallen und sie damit vollziehbar ausreisepflichtig waren (§ 17 Abs. 1 AufenthV; vgl. hierzu nur BGH, Beschlüsse vom 12. Dezember 2023 - 3 StR 278/23, wistra 2024, 301; vom 24. März 2021 - 3 StR 22/21, NStZ-RR 2021, 190; Urteil vom 8. März 2017 - 5 StR 333/16 Rn. 9). Indem sie die Tätigkeit der Beschäftigten im Bundesgebiet organisierten, leisteten die Angeklagten den betreffenden Ausländern Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt (vgl. MüKoStGB/Gericke, 4. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 23; Mosbacher in Achenbach/Ransiek/Rönnau, Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 6. Aufl., 14. Teil, Kapitel 5, Rn. 107 ff.) und erhielten hierfür entweder unmittelbar Erlöse aus den Einnahmen der als Entsender auftretenden Gesellschaften oder vermittelt in Form von Gehaltszahlungen als Vermögensvorteile. Die Einschleusung in Form der zum unerlaubten Aufenthalt führenden Beschäftigung im Bundesgebiet diente als Mittel zur Erlangung des Vermögensvorteils; von wem der Täter diesen erhält, ist unerheblich (vgl. BGH, Urteil vom 11. Februar 2000 - 3 StR 308/99, StV 2000, 357, 360).

Es kann daher dahinstehen, ob als Vermögensvorteil in diesem Sinne auch das Ersparen von Aufwendungen für Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuer gelten kann (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Mai 2024 - 1 StR 464/23, NJW 2024, 2196; ebenso Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2024, § 96 AufenthG Rn. 23; Petri, Arbeitsstrafrecht, 3. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 318) oder es sich dabei um Vorteile handelt, die nicht „für“ das Einschleusen, sondern aus gesondert begangenen Straftaten erlangt werden (so MüKoStGB/Gericke, 4. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 24; BeckOKStGB/Datis, 60. Ed., § 96 AufenthG Rn. 14 f.; Mosbacher in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 12; Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3. Aufl., S. 746; Kabis/Fahlbusch in NKAuslR, 3. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 52; Riediger/Schilling in Wabnitz/Janovsky/Schmitt, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 5. Aufl., Kap. 20 Rn. 115c). Das Landgericht hat auf die Erlangung dieser Vorteile nicht abgestellt.

Die Voraussetzungen einer womöglich anderen Regeln folgenden Entsendung von Leiharbeitnehmern aus Drittstaaten durch einen Mitgliedstaat im Rahmen der europäischen Dienstleistungsfreiheit (grundlegend EuGH, Urteil vom 9. August 1994 - C-43/93, InfAuslR 1994, 388 [„VanderElst“]; vgl. hierzu auch BVerwG, Beschluss vom 20. Juni 2019 - 1 B 10/19, InfAuslR 2019, 371; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. April 2021 - 7 B 312/21; Klaus, InfAuslR 2022, 41) lagen - wie die Strafkammer zutreffend ausgeführt hat - nicht vor. Denn die betreffenden Leiharbeitnehmer waren in keinem Mitgliedsstaat ordentlich beschäftigt (vgl. § 21 Beschäftigungsverordnung - BeschV), sondern wurden plangemäß lediglich im Bundesgebiet eingesetzt. Ebenso wenig lag der Ausnahmetatbestand des § 30 Nr. 3 BeschV vor, weil die Leiharbeitnehmer nach den Feststellungen in keinem Mitgliedsstaat eine langfristige Aufenthaltsberechtigung innehatten; nur wenn dies der Fall gewesen wäre, hätten sie für die Erbringung von Dienstleistungen in Deutschland für ihren EU-Arbeitgeber kein nationales Visum mehr benötigt.

bb) Auch die Schuldsprüche wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB oder der Beihilfe hierzu sind rechtsfehlerfrei.

(1) Die im Bundesgebiet Beschäftigten unterlagen der Sozialversicherungspflicht (vgl. § 2 Abs. 2, § 3 Nr. 1, § 9 SGB IV). An den Voraussetzungen einer Ausnahme hiervon nach § 5 SGB IV fehlt es schon deshalb, weil die Leiharbeiter nur für eine Tätigkeit in Deutschland angeworben wurden, eine anschließende Beschäftigung im Ausland hingegen zu keinem Zeitpunkt beabsichtigt war. Damit lag keine „Entsendung“ ausländischer Beschäftigter für einen vorübergehenden Einsatz im Bundesgebiet vor (vgl. hierzu auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. September 2019 - L 9 KR 184/15 Rn. 42).

(2) Die Sozialversicherungspflicht entfiel auch nicht aufgrund der mit gefälschten ID-Karten in Estland erlangten Entsendebescheinigungen („A1-Bescheinigungen“).

Zwar können solche Bescheinigungen in einem anderen Mitgliedsstaat bei der Arbeitnehmerentsendung Bindungswirkung bezüglich der deutschen Sozialversicherungspflicht entfalten (vgl. BGH, Urteil vom 30. April 2024 - 1 StR 426/23 Rn. 13 ff. mwN; grundlegend BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06, BGHSt 51, 124; näher hierzu Radtke, GmbHR 2009, 915; Rübenstahl, NJW 2007, 3538; Heger, JZ 2008, 369; vgl. auch Wilde, NZS 2016, 48). Dies gilt selbst, wenn diese Bescheinigungen betrügerisch oder missbräuchlich erlangt worden sind (BGH, aaO; EuGH, Urteil vom 2. März 2023 - C-410/21, C-661/21, NZA 2023, 564; vgl. auch Art. 5 Abs. 1 der Verordnung [EG] 987/2009 vom 16. September 2009, ABl. L 284, S. 1, zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung [EG] 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29. April 2004, ABl. L 166, 1).

Die Beschäftigten fielen aber - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - unter den festgestellten Umständen als Drittstaatsangehörige nicht in den Anwendungsbereich der einschlägigen Verordnungen (vgl. Art. 2 VO [EG] 883/2004). Die Voraussetzungen für eine Ausweitung des Anwendungsbereichs nach Art. 1 VO [EU] 1231/2010 (vom 24. November 2010, ABl. L 344, 1) lagen nicht vor, weil es an einem rechtmäßigen Aufenthalt und rechtmäßiger Arbeit in einem Mitgliedsstaat mangelte (vgl. EuGH, Urteil vom 24. Januar 2019 - C-477/17; Beschluss vom 3. März 2021 - C-523/20 Rn. 29 und 32). Ist aber der persönliche Anwendungsbereich der genannten Verordnungen nicht eröffnet, kann eine A1-Bescheinigung auch keine Bindungswirkung entfalten (vgl. Devetzi in Hauck/Noftz, EUSozialrecht, 13. Ergänzungslieferung, Art. 12 Rn. 32 mwN; Schreiber in BeckOGK, Art. 12 VO [EG] 883/2004 Rn. 40; für die Vorgänger-Bescheinigung E 101 zu „Rheinschiffern“ ausdrücklich EuGH, Urteil vom 9. September 2015 - C-72/14 und C-197/14 Rn. 44 ff.).

Der Generalbundesanwalt hat zudem zutreffend darauf hingewiesen, dass Bescheinigungen, die - wie hier - unter falschen Personalien ausgestellt werden, keine Bindungswirkung entfalten können. Die Tatbestandswirkung der A1-Bescheinigung ist auf die darin genannte Person beschränkt. Handelt es sich bei dem Beschäftigten aufgrund wesentlich abweichender Personalien aber um eine andere, real nicht existierende Person, geht die Tatbestandswirkung ins Leere. Die zur Erlangung der A1-Bescheinigungen eingesetzten gefälschten ID-Karten enthielten zunächst erfundene Namen, stets aber falsche Angaben zur Staatsangehörigkeit und damit zu einem für die Identifizierung der Person - gerade im vorliegenden Regelungskontext - wesentlichen Merkmal.

Dass die Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 30. April 2024 (1 StR 426/23) dieser Auslegung tragend entgegenstünde, vermag der Senat den dortigen Entscheidungsgründen nicht zu entnehmen. Klärungsbedürftige Fragen der Anwendung europäischen Rechts im Sinne von Art. 267 AEUV ergeben sich insoweit nicht. Es geht vorliegend nicht um die Gültigkeit einer von einem anderen Mitgliedsstaat ausgestellten A1-Bescheinigung, sondern um deren Anwendungsbereich. Dass eine für eine drittstaatsangehörige Person, auf die die genannten Verordnungen überhaupt keine Anwendung finden, unter anderen Personalien ausgestellte A1-Bescheinigung die Behörden eines anderen Mitgliedsstaates nicht zu binden vermag, ist angesichts der genannten Entscheidung des EuGH zur Vorgängerbescheinigung E 101 (EuGH, Urteil vom 9. September 2015 - C-72/14 und C-197/14) derart offenkundig, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt („acte claire-Doktrin“; vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 - 283/81, NJW 1983, 1257, 1258; BGH, Urteil vom 15. Mai 2018 - 1 StR 159/17 Rn. 194, wistra 2019, 63 mwN).

(3) Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer schließlich festgestellt, dass die baltischen Gesellschaften, die der Angeklagte Za. allein als faktischer Geschäftsführer leitete, nach einer Gesamtbetrachtung aller maßgeblichen tatsächlichen Umstände die Arbeitgeber der in Deutschland eingesetzten Beschäftigten waren. Damit traf Za. iVm § 14 StGB die gemäß § 266a StGB strafbewehrte Pflicht, die in Deutschland tätigen Arbeitnehmer zur Sozialversicherung anzumelden (§ 28a SGB IV) und die Arbeitgeberanteile sowie die bei den Arbeitnehmern vom Lohn einzubehaltenden Beitragsanteile im jeweiligen Beschäftigungsmonat an die gesetzlichen Krankenkassen abzuführen (vgl. §§ 28e, 28g, 23 SGB IV). Die Tatsache, dass er als faktischer Geschäftsführer ausländischer Gesellschaften handelte, rechtfertigt keine andere Betrachtung (vgl. BGH, Urteil vom 11. Juni 2013 - II ZR 389/12, NZG 2013, 937). Dass diese zur Erfüllung der Beitragspflicht aufgrund erheblicher Einkünfte aus den Arbeitnehmerüberlassungsverträgen ohne weiteres in der Lage waren, hat die Strafkammer rechtsfehlerfrei angenommen. Zu den im Einzelnen von der Strafkammer festgestellten Taten des Angeklagten Za. haben die übrigen Angeklagten jeweils im Rahmen ihrer Tatbeiträge Beihilfe geleistet.

cc) Die Urteilsfeststellungen tragen auch die Schuldsprüche wegen Beschäftigung von Ausländern ohne Aufenthaltstitel und zu ungünstigen Bedingungen nach § 10 SchwarzArbG oder der Beihilfe dazu.

(1) Der Angeklagte Za. war als faktischer Geschäftsführer der baltischen Gesellschaften, die ihrerseits Arbeitgeber der ausländischen Beschäftigten waren, nach § 14 StGB tauglicher Täter (vgl. MüKoStGB/Mosbacher, 4. Aufl., § 10 SchwarzArbG Rn. 29 mwN). Das Landgericht hat nach entsprechender Verfahrensbeschränkung in Bezug auf vier ausländische Arbeitnehmer der baltischen Gesellschaften rechtsfehlerfrei dargelegt, dass diese nicht über die für die Beschäftigung im Bundesgebiet erforderliche Genehmigung verfügten (vgl. zu den Voraussetzungen näher MüKoStGB/Mosbacher, 4. Aufl., § 10 SchwarzArbG Rn. 7 ff. mwN) und - entgegen den Vereinbarungen mit den Entleihfirmen - zu ungünstigen Bedingungen beschäftigt wurden.

(2) Die konkreten Arbeitsbedingungen der ausländischen Beschäftigten standen in einem auffälligen Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen deutscher Arbeitnehmer, welche die gleiche oder eine vergleichbare Tätigkeit ausübten.

Insoweit gilt (BGH, Beschluss vom 25. Oktober 2017 - 2 StR 50/17, NStZ 2018, 546 m. Anm. Mosbacher; vgl. auch MüKoStGB/Mosbacher, 4. Aufl., § 10 SchwarzArbG Rn. 22 ff. mwN): Ein auffälliges Missverhältnis im Sinne dieser Vorschrift liegt vor, wenn die Arbeitsbedingungen des ausländischen Arbeitnehmers so beträchtlich schlechter sind als die Arbeitsbedingungen vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer, dass für einen mit den Gepflogenheiten der jeweiligen Branche vertrauten Dritten ein augenfälliger Unterschied besteht. Erforderlich ist danach zunächst, dass die Arbeitsbedingungen des ausländischen Arbeitnehmers nicht nur unerheblich negativ von denjenigen der Vergleichsgruppe abweichen. Die bestehende Diskrepanz von Leistung und Gegenleistung hinsichtlich des ausländischen Arbeitnehmers im Vergleich zu dem deutschen Arbeitnehmer muss darüber hinaus auffällig, also offensichtlich sein. Die Feststellung eines auffälligen Missverhältnisses der Arbeitsbedingungen im Sinne von § 10 Abs. 1 SchwarzArbG erfordert in der Regel eine Gesamtschau aller Arbeitsbedingungen wie Lohn, Urlaub, soziale Absicherung, Schutz vor Arbeitsunfällen und Kündigung. Das bloße Nichtanmelden zur Sozialversicherung reicht hierfür nicht.

Die Strafkammer hat als Vergleichsgruppe sowohl die bei den Unternehmen beschäftigten Festangestellten als auch dort eingesetzte Leiharbeitnehmer in den Blick genommen. Bei ihrem Vergleich der Arbeitsbedingungen hat sie im Rahmen der erforderlichen Gesamtwürdigung insbesondere auf das Fehlen einer Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, eines Urlaubsanspruchs und eines Krankenversicherungsschutzes, das Verhängen von Strafen mit Einbehalten vom Lohn bis hin zur Versagung der Lohnzahlung am Tätigkeitsende und den Abschluss bloß mündlicher Arbeitsverträge ohne reale Möglichkeit der Gegenwehr abgestellt. Damit ist ein auffälliges Missverhältnis zu den Arbeitsbedingungen vergleichbarer deutscher Arbeitnehmer belegt.

dd) Auch die Schuldsprüche wegen gewerbs- und bandenmäßiger Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 4 StGB) haben Bestand.

Entgegen der Auffassung der Revision des Angeklagten Za. handelt es sich dabei nicht um Auslandstaten. Denn dem gemeinsamen Tatplan entsprechend wurden die gefälschten ID-Karten von den mittäterschaftlich eingebundenen und in Deutschland handelnden (vgl. § 9 StGB) Angeklagten Z. und S. zur Täuschung im Rechtsverkehr gebraucht, indem diese Kopien oder Scans der in körperlicher Form vorhandenen Fälschungen zur Täuschung der estnischen Behörden zwecks Erlangung von A1-Bescheinigungen über den Mittäter B. dort einreichten (vgl. hierzu auch BGH, Beschluss vom 4. Mai 2023 - 5 StR 38/23, NStZ 2023, 542). Bezüglich anderer Formen des Gebrauchsmachens im Inland hat die Strafkammer nach § 154a StPO die Verfolgung beschränkt.

b) Der Einziehungsausspruch gegenüber dem Angeklagten A. Z. bedarf der Korrektur. Wie bereits das Landgericht in den Urteilsgründen ausgeführt hat, ist ihm insoweit ein Übertragungsfehler unterlaufen. Dieser Angeklagte hat aus den Taten lediglich 2.765.548,37 Euro statt der versehentlich tenorierten 3.315.648,53 Euro erlangt. Der weitergehende Betrag hatte entsprechend § 354 Abs. 1 StPO zu entfallen. Der insgesamt lediglich geringfügige Erfolg der Revision lässt es nicht unbillig erscheinen, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).

c) Soweit der Angeklagte K. Zahlungserleichterungen hinsichtlich des gegen ihn angeordneten Einziehungsbetrages in Höhe von 64.575 Euro begehrt, ist er auf das Vollstreckungsverfahren zu verweisen (vgl. § 459g StPO), denn entgegen der Auffassung der Revision findet § 42 StGB weder nach seinem Wortlaut noch analog auf Einziehungsentscheidungen Anwendung (vgl. BGH, Beschluss vom 28. März 2019 - 4 StR 45/19, NStZ-RR 2019, 252).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1232

Bearbeiter: Christian Becker