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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 820

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 426/23, Urteil v. 30.04.2024, HRRS 2024 Nr. 820


BGH 1 StR 426/23 - Urteil vom 30. April 2024 (LG Stade)

Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt (Bindungswirkung einer Entsendebescheinigung nach neuem Recht auch bei missbräuchlich erlangter Bescheinigung: Bestimmtheitsgrundsatz, rückwirkende Aufhebung begründet keine Strafbarkeit).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 266a Abs. 1 StGB; Art. 5 Abs. 1 VO 987/2009

Leitsätze des Bearbeiters

1. Der Senat hält auch nach neuem Recht daran fest, dass eine von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilte Entsendebescheinigung A 1 auch die deutschen Organe der Strafrechtspflege bindet. Die Bindungswirkung entfällt grundsätzlich auch bei missbräuchlich oder betrügerisch erwirkte Bescheinigungen andere Mitgliedstaaten.

2. Strafrechtlich entfaltet vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen die Verwaltungsentscheidung, hier in Form der Entsendebescheinigung, grundsätzlich Tatbestandswirkung. Es kommt allein auf die formelle Wirksamkeit der Entscheidung, nicht auf ihre materielle Rechtmäßigkeit an (vgl. BGHSt 65, 257 Rn. 49 ff.). Da die Tatbestandswirkung auf dem Bestimmtheitsgrundsatz beruht, kann sie strafrechtlich nicht rückwirkend entfallen, unabhängig davon, ob eine solche Rückwirkung verwaltungsrechtlich möglich wäre.

Entscheidungstenor

1. Die Revisionen des Angeklagten S. und der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Stade vom 20. März 2023 werden verworfen.

2. Die Angeklagten haben die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen. Die Kosten der Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und die den Angeklagten hierdurch jeweils entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten D. wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in 23 rechtlich zusammentreffenden Fällen, Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 134 Fällen sowie Steuerhinterziehung in 25 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn im Übrigen freigesprochen. Ferner hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 3.215 Euro angeordnet. Den Angeklagten S. hat die Strafkammer wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt [von Ausländern] in 23 rechtlich zusammentreffenden Fällen sowie Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 72 rechtlich zusammentreffenden Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt und ihn im Übrigen freigesprochen.

Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihren zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten, vom Generalbundesanwalt vertretenen und auf die Rüge der Verletzung formellen und sachlichen Rechts gestützten Revisionen die Verurteilung der Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt (§ 266a StGB) in weiteren Fällen beziehungsweise wegen Beihilfe hierzu. Der Angeklagte S. wendet sich mit seinem Rechtsmittel gegen seine Verurteilung. Sowohl die Revisionen der Staatsanwaltschaft als auch diejenige des Angeklagten S. sind unbegründet.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte D. Inhaber eines Bauunternehmens in der Rechtsform einer GmbH, der Angeklagte S. im Inland ansässiger Prokurist der nach litauischem Recht gegründeten UAB K. Diese und die ebenfalls nach litauischem Recht gegründete UAB L. arbeiteten für den Angeklagten D. als Subunternehmer. Zur Erfüllung der Aufträge bedienten sie sich neben anderen Arbeitnehmern auch Drittstaatlern ohne Aufenthaltstitel, die in Wohnungen des Angeklagten D. lebten und diesem dafür Miete zahlten. Zudem ermöglichten die UAB K. und die UAB L. dem Angeklagten D. durch Abdeckrechnungen Schwarzlohnzahlungen an Arbeitnehmer seines eigenen Unternehmens. Für den überwiegenden Teil der Beschäftigten der UAB K. und der UAB L. lagen im verfahrensgegenständlichen Zeitraum litauische Entsendebescheinigungen vor, die erst später widerrufen wurden.

2. Die Verurteilungen der Angeklagten wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer beziehen sich - abweichend von der rechtlichen Wertung der Anklage - ausschließlich auf die nicht abgeführten Beiträge und Steuern hinsichtlich der Arbeitnehmer der D. GmbH. Nach der Würdigung des Landgerichts war der Angeklagte D. nicht Arbeitgeber der Beschäftigten der UAB K. und der UAB L. Denn die Strafkammer ist davon ausgegangen, die UAB K. und die UAB L. seien wirksam gegründete Unternehmen mit einer eigenen Rechtspersönlichkeit, die mit ihren Beschäftigten rechtsgültige Arbeitsverträge geschlossen hätten. Zudem hat sie angenommen, den Entsendebescheinigungen komme eine Tatbestandswirkung zu, die eine Behandlung als in Deutschland sozialversicherungspflichtig ausschließe. Demgemäß hat das Landgericht die Angeklagten von weiteren Vorwürfen des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt freigesprochen, die sich allein auf die Beschäftigten der UAB K. und der UAB L. bezogen haben. Auch von dem Tatvorwurf der Urkundenfälschung hat sich die Strafkammer keine Überzeugung bilden können und die Angeklagten deswegen freigesprochen. Gleiches gilt, soweit dem Angeklagten D. in der Anklageschrift die Hinterziehung von Kapitalertragsteuer im Zusammenhang mit verdeckten Gewinnausschüttungen seiner GmbH zur Last gelegt worden war.

II.

1. Die Revision des Angeklagten S. greift aus den Erwägungen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts nicht durch. Der Angeklagte D. hat sein Rechtsmittel in der Hauptverhandlung rechtswirksam zurückgenommen. Er hat die Kosten seiner Revision zu tragen (§ 473 Abs. 1 Satz 1 StPO).

2. Auch den Rechtsmitteln der Staatsanwaltschaft bleibt der Erfolg versagt.

a) Ungeachtet dessen, dass die Anklagebehörde das Urteil des Landgerichts „vollumfänglich zur Überprüfung“ gestellt hat, ergibt eine an Nr. 156 Abs. RiStBV orientierte Auslegung der Revisionsbegründungsschrift (vgl. z.B. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2023 - 1 StR 263/23 Rn. 5) zweifelsfrei, dass sich die Staatsanwaltschaft nur insoweit gegen die Entscheidung des Landgerichts wendet, als dieses die Arbeitgebereigenschaft des Angeklagten D. hinsichtlich der Beschäftigten der UAB K. und der UAB L. verneint hat. Da diese Würdigung nur die Einzelstrafaussprüche betreffend die Delikte des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer beziehungsweise der Beihilfe hierzu sowie daraus resultierend die Gesamtstrafenaussprüche betrifft, ist der verurteilende Teil der Entscheidung auch nur insoweit angefochten. Gleiches gilt für die Teilfreisprüche. Die Rechtsmittel beziehen sich hierauf nur, soweit die Angeklagten wegen weiterer Fälle des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt sowie der Hinterziehung von Lohnsteuer beziehungsweise der Beihilfe hierzu freigesprochen worden sind.

b) Die Verfahrensrüge der Staatsanwaltschaft ist unzulässig, weil sie nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

aa) Die Staatsanwaltschaft rügt, das Landgericht habe zu Unrecht den Inhalt einer im Selbstleseverfahren in die Hauptverhandlung eingeführten Urkunde im Urteil nicht erörtert. Sie teilt aber weder den Inhalt der von der Verteidigung herbeigeführten Entscheidung des Gerichts (§ 238 Abs. 2 StPO) über die Selbstleseanordnung noch eine gegen diese Entscheidung erhobene Gegenvorstellung und die Entscheidung hierüber mit. Vortrag hierzu war nicht etwa, wie die Revision meint, deswegen entbehrlich, weil die Rüge nicht die Durchführung des Selbstleseverfahrens, sondern die Frage der gebotenen Verwertung einer durch das Selbstleseverfahren eingeführten Urkunde betraf. Die Verwertung setzt die ordnungsgemäße Anordnung und Durchführung des Selbstleseverfahrens voraus.

bb) Unabhängig davon wäre die Rüge auch unbegründet. Nach dem Inhalt der Urkunde musste sich eine Erörterung im Urteil nicht aufdrängen (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juni 2021 - 1 StR 287/20 Rn. 12 mwN; siehe auch BGH, Urteil vom 19. Mai 2021 - 1 StR 442/20, BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 53 Rn. 24 f.). Die aus Sicht der Staatsanwaltschaft belastenden Ausführungen des Angeklagten D. können zwanglos dahingehend verstanden werden, dass dieser annahm, eine zulässige Gestaltung zu nutzen. Eine Auslegung zu seinen Lasten ist daher keinesfalls zwingend.

c) Die Sachrüge deckt keinen Rechtsfehler zugunsten der Angeklagten auf.

aa) Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer eine Arbeitgeberstellung der UAB K. und der UAB L. angenommen sowie hinsichtlich deren Beschäftigten eine solche des Angeklagten D. abgelehnt. Das hiergegen gerichtete Revisionsvorbringen erschöpft sich im Kern in einer revisionsrechtlich unbeachtlichen eigenen Beweiswürdigung.

bb) Im Übrigen käme eine Verurteilung wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt betreffend die Arbeitnehmer, für die Entsendebescheinigungen vorlagen, auch deshalb nicht in Betracht, weil eine von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilte Entsendebescheinigung A 1 auch die deutschen Organe der Strafrechtspflege bindet.

(1) Der Senat hat in Anlehnung an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (zuletzt etwa EuGH, Urteil vom 6. Februar 2018 - C-359/16, mwN) eine Bindungswirkung schon für die Entsendebescheinigung E 101 nach der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 (ABl. L 149 vom 5. Juli 1971, S. 2; fortan: VO 1408/71) in Verbindung mit der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vom 21. März 1972 (ABl. L 74 vom 27. März 1972, S. 1; fortan: VO 574/72) angenommen (grundlegend BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06, BGHSt 51, 124 unter II.3. mwN). Er hält daran für die Entsendebescheinigung A 1 nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung: ABl. 2004, L 200, S. 1; fortan: VO 883/2004) in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 vom 16. September 2009 (ABl. 2009, L 284, S. 1; fortan: VO 987/2009) fest. Der Übergang von der VO 1408/71 und der VO 574/72 zu der VO 883/2004 und der VO 987/2009 hat unter dem Gesichtspunkt der Bindungswirkung zu keiner wesentlichen Veränderung geführt. Art. 5 Abs. 1 VO 987/2009, wonach vom Träger eines Mitgliedstaats ausgestellte Dokumente, in denen der Status einer Person für die Zwecke der Anwendung der Grundverordnung und der Durchführungsverordnung bescheinigt wird, sowie Belege, auf deren Grundlage die Dokumente ausgestellt wurden, für die Träger der anderen Mitgliedstaaten so lange verbindlich sind, wie sie nicht von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurden, widerrufen oder für ungültig erklärt werden, kodifiziert die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu Art. 11 Abs. 1 VO 574/72 (vgl. EuGH, Urteile vom 11. Juli 2018 - C-356/15 Rn. 84 ff. und vom 6. September 2018 - C-527/16 Rn. 40 ff.).

(2) Unionsrechtlich binden nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union selbst missbräuchlich oder betrügerisch erwirkte Bescheinigungen andere Mitgliedstaaten (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06, BGHSt 51, 124, Rn. 26 ff.). Aus dem allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des Verbots von Betrug und Rechtsmissbrauch ergibt sich insofern zunächst nur, dass der Träger, der die Entsendebescheinigungen A 1 ausgestellt hat, ihm von dem Träger des Mitgliedstaats, in den Arbeitnehmer entsendet wurden, vorgelegte Beweise, die den Schluss zulassen, dass diese Bescheinigungen betrügerisch erlangt wurden, gemäß dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu prüfen und zu Unrecht ausgestellte Bescheinigungen gegebenenfalls zurückzuziehen hat. Erst wenn der ausstellende Träger dieser Verpflichtung nicht nachkommt und der Mitgliedstaat, in den der Arbeitnehmer entsendet wurde, einen Betrug ordnungsgemäß festgestellt hat, kann er die Bescheinigungen außer Acht lassen (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2018 - C-356/15 Rn. 97 ff.; zuvor schon EuGH, Urteil vom 6. Februar 2018 - C-359/16 Rn. 48 ff. zu Entsendebescheinigungen E 101).

(3) Strafrechtlich entfaltet vor dem Hintergrund des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG) bei verwaltungsakzessorischen Straftatbeständen die Verwaltungsentscheidung grundsätzlich Tatbestandswirkung. Es kommt allein auf die formelle Wirksamkeit der Entscheidung, nicht auf ihre materielle Rechtmäßigkeit an (vgl. BGH, Urteile vom 27. April 2005 - 2 StR 457/04, BGHSt 50, 105, 114 f.; vom 26. Januar 2021 - 1 StR 289/20, BGHSt 65, 257 Rn. 49 ff. und vom 6. September 2022 - 1 StR 389/21 Rn. 16). Da die Tatbestandswirkung auf dem Bestimmtheitsgrundsatz beruht, kann sie strafrechtlich nicht rückwirkend entfallen, unabhängig davon, ob eine solche Rückwirkung verwaltungsrechtlich möglich wäre oder ob dem namentlich sozialversicherungsrechtlich die Grundsätze der Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit gerade für die betroffenen Arbeitnehmer (vgl. EuGH, Urteil vom 11. Juli 2018 - C-356/15 Rn. 88) entgegenstehen.

(4) Von der strafrechtlichen Tatbestandswirkung nicht berührt ist allerdings bei betrügerischer Erwirkung von Entsendebescheinigungen eine mögliche Strafbarkeit nach § 263 StGB, da der Tatbestand des § 263 StGB, anders als derjenige des § 266a StGB, insofern nicht verwaltungsakzessorisch ist. Der Taterfolg besteht gerade darin, die Tatbestandswirkung herbeizuführen und so die Inanspruchnahme durch die Sozialversicherungsträger zu umgehen. Insofern ist daher nach Wegfall der unionsrechtlichen Bindungswirkung eine Strafverfolgung möglich (vgl. BGH, Urteil vom 24. Oktober 2006 - 1 StR 44/06 Rn. 31 ff.). Materiellrechtlich und prozessual liegt jedoch - wie hier - regelmäßig eine eigene, von dem (vermeintlichen) Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt verschiedene Tat vor.

cc) Das Landgericht hat auch nicht gegen seine Kognitionspflicht verstoßen (§ 264 StPO).

(1) Diese gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlichrechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 16. August 2023 - 2 StR 308/22 Rn. 13 mwN).

(2) Zwar könnte auf der Basis der durch die Strafkammer getroffenen Feststellungen, nach denen der Angeklagte D. nicht Arbeitgeber der bei den litauischen Gesellschaften UAB L. und UAB K. geführten Arbeitnehmer ist, grundsätzlich eine Strafbarkeit beider Angeklagter wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO, § 41a EStG) der Verantwortlichen der UAB L. und UAB K. in Betracht kommen, für den Angeklagten S. auch eine Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung als Verfügungsberechtigter (Prokurist, § 35 AO) der UAB K. Denn die Tatbestandswirkung der Entsendebescheinigung betrifft nur die Sozialversicherung und lässt eine etwaige Lohnsteuerpflicht unberührt. Soweit keine Entsendebescheinigungen vorlagen, stünde auch eine Strafbarkeit wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt beziehungsweise der Beihilfe hierzu inmitten.

Jedoch ist dies nicht von der Anklage umfasst. Hinsichtlich des Delikts der Steuerhinterziehung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO regelmäßig durch die unrichtige oder unvollständige (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO; BGH, Beschluss vom 27. Mai 2009 - 1 StR 665/08 Rn. 5; Urteil vom 14. Juni 2023 - 1 StR 209/22 Rn. 10) oder pflichtwidrig unterlassene (§ 370 Abs. 1 Nr. 2 AO; BGH, Urteil vom 14. Oktober 2020 - 1 StR 213/19 Rn. 15) Steuererklärung eines bestimmten Steuerpflichtigen für eine bestimmte Steuerart und einen bestimmten Besteuerungszeitraum abgegrenzt, nicht durch den zugrunde liegenden Sachverhalt, der einen oder mehrere Steuertatbestände verwirklicht. Unrichtige, unvollständige oder pflichtwidrig unterlassene Lohnsteueranmeldungen der UAB K. und der UAB L. sind in der Anklage nicht angesprochen. Gleiches gilt für unterlassene Meldungen der UAB K. und der UAB L. zur Sozialversicherung. Hierauf bezog sich auch ersichtlich nicht der Verfolgungswille der Staatsanwaltschaft (vgl. BGH, Urteil vom 8. November 2016 - 1 StR 492/15 Rn. 55).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 820

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede