hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 787

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 464/23, Beschluss v. 08.05.2024, HRRS 2024 Nr. 787


BGH 1 StR 464/23 - Beschluss vom 8. Mai 2024 (LG Mannheim)

BGHSt; Einschleusen von Ausländern (Erlangen eines Vermögensvorteils: Ersparnis von Steuern und Sozialabgaben durch die Arbeitstätigkeit eingeschleuster Personen, kein unmittelbarer Zusammenhang mit der Einschleusung erforderlich; Aufenthalt ohne erforderlichen Aufenthaltstitel als normatives Tatbestandsmerkmal: Abgrenzung zur Blankettvorschrift, keine Anwendbarkeit des lex mitior-Grundsatzes auf ausfüllende Rechtsvorschriften).

Art. 103 Abs. 2 GG; § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF; § 2 Abs. 3 StGB

Leitsätze

1. Ein kausaler und finaler Vermögensvorteil im Sinne von § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (in der Fassung vom 12. Juli 2018) kann sich auch aus der Nichtabführung von Sozialabgaben und der Nichtanmeldung von Lohnsteuer für die Arbeitstätigkeit der eingeschleusten Person im Inland ergeben. Eines unmittelbaren Zusammenhangs mit der Einschleusung bedarf es nicht. (BGHSt)

2. Bei § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF handelt es sich nicht um ein echtes Blankettgesetz. Die Norm selbst umschreibt das strafbare Verhalten - Aufenthalt im Bundesgebiet ohne erforderlichen Aufenthaltstitel - und ist für den Normadressaten schon aus sich heraus verständlich. (Bearbeiter)

3. Änderungen in Rechtsvorschriften, die das normative Tatbestandsmerkmal „ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Absatz 1 Satz 1“ aus § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF ausfüllen, stellen deshalb keine Rechtsänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB dar. Durch Verweisungen ins Leere entstandene Lücken können daher durch eine ergänzende Auslegung anhand des mutmaßlichen gesetzgeberischen Willens geschlossen werden. (Bearbeiter)

4. Bei der Beurteilung von Fehlverweisungen im strafrechtlichen Kontext ist zwischen (echten) Blanketttatbeständen und Tatbeständen mit normativen Tatbestandsmerkmalen zu unterscheiden. Allein Fehlverweisungen in (echten) Blankettgesetzen führen stets zu einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG und zur (vorübergehenden) Straffreiheit gemäß § 2 Abs. 3 StGB, während Fehlverweisungen in Ausfüllungsnormen normativer Tatbestandsmerkmale im Grundsatz einer Korrektur durch (ergänzende) Auslegung zugänglich sind. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

1. Die Revision des Angeklagten W. gegen das Urteil des Landgerichts Mannheim vom 25. Juli 2023 wird als unbegründet verworfen.

2. Die Revision des Angeklagten V. gegen das vorgenannte Urteil wird mit der Maßgabe als unbegründet verworfen, dass die Tagessatzhöhe für die gegen den Angeklagten unter II. 2. in den Fällen Ziff. 1 bis 8, 11, 12, 15, 16, 21 und 24 bis 29 der Urteilsgründe verhängten Einzelgeldstrafen auf jeweils einen Euro festgesetzt wird.

3. Die Beschwerdeführer haben jeweils die Kosten ihrer Rechtsmittel zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten W. wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 36 Fällen, wegen gewerbsmäßigen „Schleusens“ von Ausländern in 34 Fällen sowie wegen Urkundenfälschung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 1.028.284,52 Euro angeordnet. Den Angeklagten V. hat das Landgericht wegen Beihilfe zum Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 36 Fällen sowie wegen gewerbsmäßigen „Schleusens“ von Ausländern in 34 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt; seine in Polen erlittene Auslieferungshaft hat es im Maßstab 1:1 angerechnet.

Hiergegen richten sich die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen der Angeklagten.

I.

Der Senat holt in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO die versehentlich unterbliebene Festsetzung der Höhe des Tagessatzes der gegen den Angeklagten V. unter II. 2. in den Fällen 1 bis 8, 11, 12, 15, 16, 21 und 24 bis 29 der Urteilsgründe verhängten Geldstrafen nach und setzt diese auf den Mindestsatz des § 40 Abs. 2 Satz 4 StGB fest.

II.

Im Übrigen bleiben die Rechtsmittel aus den zutreffenden Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts ohne Erfolg. Die gegen beide Angeklagten ergangenen Schuldsprüche wegen gewerbsmäßigen Einschleusens von Ausländern in 34 Fällen halten einer rechtlichen Überprüfung jeweils stand. Die Feststellungen des Landgerichts tragen eine Verurteilung der Angeklagten nach § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der bis zum 26. Februar 2024 geltenden Fassung (im Folgenden: aF).

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts warben die Angeklagten im Tatzeitraum von April 2019 bis Januar 2022 aus der Ukraine stammende Arbeitskräfte an und überließen diese in Deutschland an - insbesondere im Baugewerbe auftretende - Unternehmen. Die angeworbenen Ukrainer waren zwar als sog. Positivstaatler berechtigt, sich drei Monate lang ohne Visum im Bundesgebiet aufzuhalten, eine Erwerbstätigkeit war ihnen aber untersagt. Durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erlosch ihre jeweilige Aufenthaltserlaubnis. Der Angeklagte W. meldete - zunächst als Inhaber des Einzelunternehmens S. und später als Geschäftsführer der ungarischen Gesellschaft W. - für die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer weder Sozialversicherungsbeiträge noch Lohnsteuer an. Hierdurch konnte er seine Leistungen am Markt günstiger anbieten und dadurch einen erheblichen Gewinn erwirtschaften. Der Angeklagte V. erhielt für die Vermittlung der ukrainischen Arbeiter eine Gewinnbeteiligung in Höhe von ein bis zwei Euro für jede von den Arbeitern an ihrem späteren Einsatzort geleistete Arbeitsstunde.

2. Gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF macht sich wegen Einschleusens von Ausländern unter anderem strafbar, wer einen anderen anstiftet oder ihm dazu Hilfe leistet, eine Handlung des unerlaubten Aufenthalts im Bundesgebiet ohne Aufenthaltstitel nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF zu begehen und dafür einen Vermögensvorteil erhält oder sich versprechen lässt. Diese tatbestandlichen Voraussetzungen hat das Landgericht auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen rechtsfehlerfrei bejaht.

a) Ein kausaler und finaler Vermögensvorteil im Sinne von § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF kann sich auch aus der Nichtabführung von Sozialabgaben und der Nichtanmeldung von Lohnsteuer für die Arbeitstätigkeit der eingeschleusten Person im Inland ergeben. Eines unmittelbaren Zusammenhangs mit der Einschleusung bedarf es nicht.

aa) Der Tatbestand des § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF verlangt einen Vermögensvorteil, der für die Einschleusung gewährt wird („dafür“). Ein Vermögensvorteil ist jede günstigere Gestaltung der Vermögenslage (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2022 - 6 StR 519/21 Rn. 23). Zwischen der Förderung des illegalen Verhaltens und dem Erhalten oder Sichversprechenlassen des (Vermögens-)Vorteils muss ein kausaler und finaler Zusammenhang bestehen. Hierfür genügt es, dass die Einschleusung des Ausländers als Mittel zur Erlangung des Vermögensvorteils dienen soll (vgl. BGH, Urteile vom 17. August 2022 - 2 StR 231/21 Rn. 26 f.; vom 11. Februar 2000 - 3 StR 308/99, BGHR AuslG § 92a Vermögensvorteil 1 [zu § 92a AuslG] und vom 21. Februar 1989 - 1 StR 631/88, BGHSt 36, 124, 128 [zu § 47a AuslG]; Beschluss vom 29. November 2006 - 2 StR 404/06 Rn. 8). Einen unmittelbar aus der Einschleusung folgenden Vorteil verlangt das Gesetz mithin nicht. Auch spielt es keine Rolle, von wem der Täter für seine Tätigkeit den Vermögensvorteil erhält oder zugesagt bekommt (vgl. BGH, Urteile vom 11. Februar 2000 - 3 StR 308/99, BGHR AuslG § 92a Vermögensvorteil 1 [zu § 92a AuslG] und vom 21. Februar 1989 - 1 StR 631/88, BGHSt 36, 124, 128 [zu § 47a AuslG]; vgl. auch BGH, Urteil vom 26. Januar 2021 - 1 StR 289/20 Rn. 86; Beschluss vom 12. Dezember 2017 - 3 StR 303/17 Rn. 5).

(1) Der Wortlaut des § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF („und dafür einen Vermögensvorteil erhält oder sich versprechen lässt“) steht der vorbenannten Auslegung jedenfalls nicht entgegen. Anders als etwa die Straftatbestände der § 108e Abs. 1 und 2, §§ 299, 331 Abs. 2, §§ 332, 333 Abs. 2, § 334 StGB setzt § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF danach nicht voraus, dass der Vermögensvorteil „als Gegenleistung“ für die Einschleusung gewährt wird.

(2) Die Entstehungsgeschichte des § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF, der im Wesentlichen auf den erstmals mit „Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung“ vom 15. Dezember 1981 (BGBl. I S. 1390) in das Gesetz aufgenommenen § 47a AuslG - später übernommen in § 92 Abs. 2 bzw. § 92a AuslG - zurückgeht, spricht für eine weite Auslegung des Tatbestands. Der historische Gesetzgeber wollte gerade die aus eigennützigem Gewinnstreben betriebene kommerzielle Schleppertätigkeit mit einer erhöhten Strafandrohung für täterschaftliches Handeln versehen. In der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 9/847, S. 12) heißt es hierzu auszugsweise:

„Der neu eingefügte § 47 a dient der Einführung einer Strafvorschrift zur Bekämpfung des Schlepperunwesens. Es hat sich in der Praxis gezeigt, dass Ausländer nur in den seltensten Fällen aus eigenem Antrieb illegal einreisen, sondern in der Regel von Schleppern dazu veranlasst werden und dabei auf deren Hilfe angewiesen sind. Die Organisatoren und Hintermänner befinden sich meist in den Herkunftsländern. Ihre Mittelsmänner und Gehilfen sind oft im grenznahen Bereich tätig und schleusen die Ausländer in das Bundesgebiet. In der Folge nehmen die Ausländer dann häufig eine illegale Beschäftigung auf, u. a. um die entstandenen Kosten abtragen zu können. Es gilt daher, schon vor der Aufnahme einer Beschäftigung die Unterstützung und Förderung der illegalen Einreise und des illegalen Aufenthalts zu bekämpfen.

[...Der Schlepper] nutzt nämlich die Unwissenheit und die wirtschaftliche Notsituation der illegal einreisenden Ausländer aus Eigennutz aus, die so leicht zu Opfern des Schleppers werden. [...]“ (3) Der Sinn und Zweck des von § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF geforderten Vermögensvorteils (sog. Schleusermerkmal) besteht darin, ein uneigennütziges Handeln und solches aus humanitären Gründen von der Strafbarkeit auszunehmen (vgl. Datis in BeckOK-StGB, 60. Ed., § 96 AufenthG Rn. 21; Stephan in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 15; Kabis/Fahlbusch in NK-AuslR, 3. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 46; Kretschmer, ZAR 2013, S. 278, 279). Unterfallen derartige Handlungen dem Tatbestand des § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF mangels Erlangens eines Vermögensvorteils von vornherein nicht, bedarf es auch keines engen Verständnisses des kausalen und finalen Zusammenhangs zwischen Einschleusung und Vermögensvorteil.

(4) Für ein weites Verständnis des Schleusermerkmals sprechen auch unionsrechtliche Vorgaben.

Nach Art. 1 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2002/90/EG zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. EG Nr. L 328 S. 1 [Schleuser-Richtlinie]) sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet, angemessene Sanktionen für Personen vorzusehen, die Ausländern vorsätzlich helfen, sich unerlaubt in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, wenn die Hilfeleistung „zu Gewinnzwecken“ erfolgt (vgl. hierzu auch BT-Drucks. 16/5065, S. 199). „Gewinnzwecke“ verfolgt auch derjenige Täter, der Gewinn nicht unmittelbar aus der Einschleusung, sondern erst aus einer nachfolgenden Arbeitsaufnahme der geschleusten Personen zu erlangen strebt.

(5) Dazu fügt sich, dass der Bundesgerichtshof in vergleichbaren Fällen, in denen die Einschleusung der Ausländer der Aufnahme der Prostitution in der Bundesrepublik Deutschland diente und sich der Schleuser aus der Prostitutionstätigkeit entlohnen ließ, den erforderlichen kausalen und finalen Zusammenhang zwischen Einschleusung und Vermögensvorteil bejaht (vgl. BGH, Urteile vom 17. August 2022 - 2 StR 231/21 Rn. 26 f. und vom 11. Februar 2000 - 3 StR 308/99, BGHR AuslG § 92a Vermögensvorteil 1 [zu § 92a AuslG]; Beschluss vom 29. November 2006 - 2 StR 404/06 Rn. 8).

Sowohl in den Fällen der Einschleusung von Prostituierten zur Aufnahme der Prostitution als auch in den Fällen der Einschleusung von Arbeitern aus dem Baugewerbe zwecks illegaler Arbeitsaufnahme erlangt der Schleuser den Vermögensvorteil nicht unmittelbar aus der Einschleusung, sondern erst aufgrund der (illegalen) Beschäftigung des Geschleusten im Inland. In beiden Fällen wird der Kausalzusammenhang zwischen Einschleusung und Vorteil auch nicht dadurch unterbrochen, dass der Schleuser im Rahmen der anschließenden Arbeitsaufnahme gegebenenfalls weitere Straftaten verwirklicht, bei der Einschleusung von Prostituierten möglicherweise solche nach §§ 180a, 181a und 232a StGB oder bei der Einschleusung von Arbeitern aus dem Baugewerbe etwa solche nach § 266a StGB, § 370 AO. Die Erzielung des Gewinns im Rahmen der nachgelagerten Arbeitsaufnahme wird durch die vorherige Einschleusung regelmäßig erst ermöglicht, jedenfalls aber erleichtert. Denn die eingeschleusten Ausländer befinden sich - anders als in Deutschland legal aufhältige Arbeitnehmer - aufgrund fehlender finanzieller Mittel, Unkenntnis der Gegebenheiten in Deutschland und Sprachbarrieren häufig in einer sozialen und wirtschaftlichen Abhängigkeit zum Schleuser und werden daher eher bereit sein, sich auf ungünstige Arbeitsbedingungen einzulassen.

(6) Soweit nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung der für § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF erforderliche kausale und finale Zusammenhang nicht vorliegen soll, wenn der Schleuser - wie hier - im Rahmen der illegalen Beschäftigung eines Geschleusten Vorteile durch ersparte Aufwendungen für Steuern und Sozialabgaben erhält, folgt der Senat dem nicht. Das Argument, diese Vorteile würden nicht „für“ die Einschleusung gewährt, sondern lediglich gelegentlich der Einschleusung durch die Begehung weiterer Straftaten erzielt (vgl. Gericke in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 24; Datis in BeckOK-StGB, 60. Ed., § 96 AufenthG Rn. 14 f.; Mosbacher in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 12; Westphal/Stoppa, Ausländerrecht für die Polizei, 3. Aufl., S. 746 [anders noch NJW 1999, S. 2137, 2143]; Kabis/Fahlbusch in NK-AuslR, 3. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 52; Riediger/Schilling in Wabnitz/Janovsky/Schmitt, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 5. Aufl., Kap. 20 Rn. 115c), überzeugt nach den vorstehenden Erwägungen nicht (wie hier im Ergebnis auch: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Januar 2024, § 96 AufenthG Rn. 23; Petri, Arbeitsstrafrecht, 3. Aufl., § 96 AufenthG Rn. 318).

bb) Nach Maßgabe dessen haben die Angeklagten vorliegend jeweils einen tatbestandsmäßigen Vermögensvorteil erlangt; der Angeklagte W. durch den (Mehr-)Gewinn aus der Arbeitnehmerüberlassung wegen Nichtanmeldung von Sozialversicherungsbeiträgen und Lohnsteuer und der Angeklagte V. durch die ihm zugeflossene Umsatzbeteiligung pro geleisteter Arbeitsstunde. Die Einschleusung der Arbeitskräfte war das - nicht hinwegzudenkende - Mittel zur Gewinnerzielung durch deren nachfolgende Überlassung an Betriebe aus dem Baugewerbe.

b) Die Strafbarkeit der Angeklagten nach § 96 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF entfällt nicht gemäß § 2 Abs. 3 StGB wegen einer „Ahndungslücke“. Entgegen den Ausführungen der Revision folgt eine solche im Falle des unerlaubten Aufenthalts für sog. Positivstaatler gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF nicht aus dem Verweis des § 17 Abs. 1 AufenthV in der bis zum 31. März 2020 geltenden Fassung (im Folgenden: aF) auf die zwischenzeitlich aufgehobene Verordnung (EG) Nr. 539/2001.

aa) Die Vorschrift des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF stellt den unerlaubten Aufenthalt ohne Aufenthaltstitel unter Strafe. Gemäß Art. 1 Abs. 2 VO (EG) 539/2001 in Verbindung mit Anhang II bzw. nunmehr Art. 4 Abs. 1 Verordnung (EU) Nr. 2018/1806 in Verbindung mit Anhang II sind Positivstaatler - zu welchen auch ukrainische Staatsangehörige gehören - von der Visumspflicht innerhalb der Europäischen Union für einen Aufenthalt befreit, der 90 Tage je Zeitraum von 180 Tagen nicht überschreitet. Gemäß Art. 4 Abs. 3 VO (EG) 539/2001 bzw. Art. 6 Abs. 3 VO (EU) Nr. 2018/1806 können die Mitgliedstaaten für Personen, die während ihres Aufenthalts einer Erwerbstätigkeit nachgehen, Ausnahmen von der vorgenannten Befreiung vorsehen. Hiervon hat die Bundesrepublik Deutschland in § 17 Abs. 1 AufenthV Gebrauch gemacht. Positivstaatler, die zum Zweck der Arbeitsaufnahme nach Deutschland einreisen, machen sich mithin zwar nicht wegen unerlaubter Einreise, wohl aber wegen unerlaubten Aufenthalts strafbar, sobald sie im Inland eine Arbeit aufnehmen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 12. Dezember 2023 - 3 StR 278/23 und vom 24. März 2021 - 3 StR 22/21).

bb) Die Regelung des § 17 Abs. 1 AufenthV aF enthält eine dynamische Verweisung auf die Liste der Positivstaatler in der Verordnung (EG) Nr. 539/2001. Diese Verordnung ist jedoch zum 18. Dezember 2018 außer Kraft getreten (vgl. Art. 14 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2018/1806). Die Änderung wurde in § 17 Abs. 1 AufenthV nF zwar erst zum 1. April 2020 durch Verweis auf die nunmehr geltende VO (EU) 2018/1806 nachvollzogen. Dennoch bestand im Zeitraum vom 18. Dezember 2018 bis zum 31. März 2020 keine „Ahndungslücke“ für Tathandlungen im Sinne des § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF.

(1) Bei der Beurteilung von Fehlverweisungen im strafrechtlichen Kontext ist zwischen (echten) Blanketttatbeständen und Tatbeständen mit normativen Tatbestandsmerkmalen zu unterscheiden. Bei Blanketttatbeständen umschreibt der Straftatbestand nicht selbst (vollständig) das unter Strafe gestellte Verhalten, sondern verweist diesbezüglich (teilweise) auf außerstrafrechtliche Ge- oder Verbotsnormen, die zum Verständnis des Straftatbestands erst in diesen „hineingelesen“ werden müssen. Durch normative Tatbestandsmerkmale umschreibt der Straftatbestand selbst das unter Strafe gestellte Verhalten und kann vom Normadressaten aus sich heraus verstanden und befolgt werden. Lediglich für die Befolgung im Einzelfall muss der Normadressat weitere konkretisierende außerstrafrechtliche Normen heranziehen (vgl. Bülte, JuS 2015, 769 ff. mwN). In diesem Fall unterliegt nur die Strafrechtsnorm dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG sowie § 2 Abs. 3 StGB, nicht hingegen die Ausfüllungsnorm. Demgegenüber müssen sich bei (echten) Blanketttatbeständen sowohl die Blankett- als auch die Ausfüllungsnorm an Art. 103 Abs. 2 GG messen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Oktober 2017 - 1 StR 447/14, BGHSt 63, 29 Rn. 59; Beschluss vom 10. Januar 2017 - 5 StR 532/16, BGHSt 62, 13 Rn. 14); für Änderungen der Ausfüllungsnorm gilt die lex mitior-Regelung des § 2 Abs. 3 StGB. Mithin führen allein Fehlverweisungen in (echten) Blankettgesetzen stets zu einem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG und zur (vorübergehenden) Straffreiheit gemäß § 2 Abs. 3 StGB, während Fehlverweisungen in Ausfüllungsnormen normativer Tatbestandsmerkmale im Grundsatz einer Korrektur durch (ergänzende) Auslegung zugänglich sind.

(2) Nach Maßgabe dessen handelt es sich bei § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF nicht um ein echtes Blankettgesetz. Denn die Norm selbst umschreibt das strafbare Verhalten - Aufenthalt im Bundesgebiet ohne erforderlichen Aufenthaltstitel - und ist für den Normadressaten schon aus sich heraus verständlich. Der Verweis auf § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG stellt lediglich eine gesetzestechnische Vereinfachung dar (sog. unechte Blankettnorm; vgl. zum Begriff BGH, Beschlüsse vom 28. Februar 2023 - 2 StR 371/22, BGHR ZAG § 63 Abs. 1 Nr. 4 Erlaubnispflichtiger Zahlungsdienst 1 Rn. 18 und vom 9. März 1954 - 3 StR 12/54, BGHSt 6, 30, 40 f.). Die Vorschrift des § 4 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz AufenthG in Verbindung mit § 17 Abs. 1 AufenthV, der für den erfassten Personenkreis der Positivstaatler auf die Verordnung (EG) Nr. 539/2001 bzw. Verordnung (EU) Nr. 2018/1806 verweist, normiert gerade keine Voraussetzung für die Strafbarkeit. Sie enthält lediglich für bestimmte Positivstaatler Ausnahmen von dem Grundsatz, dass Ausländer für den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels bedürfen bzw. Einzelheiten, aus denen sich die Genehmigungspflicht ergibt. Das strafbare Verhalten als solches ist bereits in § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF hinreichend bestimmt (vgl. OLG Bamberg, Urteil vom 20. September 2005 - 2 Ss 35/05 Rn. 14; Gericke in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 8; Tuengerthal/Rothenhöfer, wistra 2014, 417, 418; vgl. auch BGH, Urteil vom 27. April 2005 - 2 StR 457/04 Rn. 38; Beschluss vom 11. Mai 2005 - 5 StR 122/05 Rn. 4 f.; a.A. - jedoch ohne Begründung und zum Teil nicht zwischen den verschiedenen Straftatbeständen des AufenthG differenzierend - Hohoff in BeckOK-AuslR, 40. Ed., § 95 AufenthG Rn. 25; Stephan in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl., § 95 AufenthG Rn. 8). § 17 AufenthV dient der bloßen Ausfüllung des normativen Tatbestandsmerkmals „ohne erforderlichen Aufenthaltstitel nach § 4 Absatz 1 Satz 1“ aus § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG aF. Sein - vorübergehender - inhaltlicher Leerlauf mit anschließender Aktualisierung des Verweises auf Unionsrecht stellt sich jeweils nicht als Rechtsänderung im Sinne des § 2 Abs. 3 StGB dar (vgl. Bock in Graf/Jäger/Wittig, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 3. Aufl., § 2 StGB Rn. 38; Schmitz in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 2 Rn. 43).

cc) Die durch Verweisung ins Leere entstandene Lücke kann daher durch eine ergänzende Auslegung anhand des mutmaßlichen gesetzgeberischen Willens geschlossen werden. Eine solche Auslegung kann ergeben, dass der Gesetzgeber, wäre ihm die Lücke bewusst gewesen, die an die Stelle der aufgehobenen Norm gesetzte (im Wesentlichen unveränderte) Nachfolgevorschrift für anwendbar erklärt hätte. So liegt es hier. Die Vorschrift des § 17 Abs. 1 AufenthV in der bis zum 31. März 2020 geltenden Fassung, deren Verweisung auf die jeweils geltende Fassung des Art. 1 Abs. 2 der VO (EG) Nr. 539/2001 für den Zeitraum ab dem 18. Dezember 2018 ins Leere lief, ist dahin auszulegen, dass sich der in Bezug genommene Personenkreis nunmehr aus Art. 4 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2018/1806 in Verbindung mit deren Anhang II ergeben soll. Ein anderer Wille des Gesetzgebers liegt fern. Ersichtlich ist die rechtzeitige Anpassung des § 17 Abs. 1 AufenthV aF lediglich infolge eines Versehens unterblieben, zumal Art. 1 Abs. 2 VO (EG) Nr. 539/2001 und Art. 4 Abs. 1 VO (EU) Nr. 2018/1806 vollständig inhaltsgleich sind.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 787

Bearbeiter: Christian Becker