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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 8

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 222/23, Beschluss v. 18.10.2023, HRRS 2024 Nr. 8


BGH 1 StR 222/23 - Beschluss vom 18. Oktober 2023 (LG Konstanz)

BGHSt; Verwertbarkeit früherer Aussagen eines Zeugen, der sich auf sein Zeugnisverweigerungsrecht beruft (Gestattung der Verwertung: keine Beschränkung auf einzelne Vernehmungen).

§ 52 Abs. 1 StPO; § 252 StPO

Leitsätze

1. Gestattet ein Zeuge trotz Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO die Verwertung früherer Aussagen, so kann er dies nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken. Ein Teilverzicht führt vielmehr dazu, dass sämtliche früheren Angaben - mit Ausnahme richterlicher Vernehmungen nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht - unverwertbar sind. (BGHSt)

2. Der Zeuge kann entscheiden, ob er sich als Beweismittel zur Verfügung stellen will oder nicht. Darüber hinaus hat er kein schützenswertes Interesse daran, den Umfang der Verwertbarkeit der von ihm bereits vorliegenden Angaben zu bestimmen, weshalb insoweit im Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit an der Wahrheitserforschung seinem Einfluss auf das Strafverfahren Grenzen zu ziehen sind. (Bearbeiter)

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Konstanz vom 30. Januar 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in fünf Fällen, gefährlicher Körperverletzung in zehn Fällen sowie „vorsätzlicher“ Körperverletzung in 40 Fällen zu einer Einheitsjugendstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt auf eine Verfahrensbeanstandung hin zur Aufhebung des Urteils (§ 349 Abs. 4 StPO). Der Beschwerdeführer rügt zu Recht eine Verletzung von § 252 StPO in Verbindung mit § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO.

1. Der Rüge liegt folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde:

Die Nebenklägerin ist die Schwester des Angeklagten. Nachdem sie zunächst im Rahmen einer polizeilichen Vernehmung, bei der aussagepsychologischen Sachverständigen und vor dem Ermittlungsrichter ausgesagt hatte, erklärte sie noch vor der Hauptverhandlung, künftig von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch zu machen. Sie gestattete jedoch, dass ihre Angaben „bei der Frau aus S.“ - gemeint war die aussagepsychologische Sachverständige - verwertet werden dürften. Die Jugendkammer legte daraufhin die ermittlungsrichterliche Vernehmung der Nebenklägerin und deren Angaben bei der Sachverständigen ihrer Beweiswürdigung zugrunde. Explizit nicht berücksichtigt - auch nicht im Rahmen der Gutachtenerstattung - wurde die polizeiliche Vernehmung, da diese aus der Sicht des Landgerichts nicht von dem Einverständnis der Zeugin umfasst war (§§ 252, 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO).

2. a) Der Angeklagte hat die Rüge in zulässiger Weise erhoben (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Die den gerügten Verfahrensmangel begründenden Tatsachen können dem Revisionsvorbringen im Wesentlichen entnommen werden. Dass die Nebenklägerin neben ihren Aussagen bei der Sachverständigen und dem Ermittlungsrichter auch polizeilich vernommen worden ist, ergibt sich aus den Urteilsgründen.

b) Die Rüge ist begründet. Die Jugendkammer durfte die Angaben der Nebenklägerin bei der aussagepsychologischen Sachverständigen nicht verwerten.

aa) Gestattet ein Zeuge trotz Ausübung seines Zeugnisverweigerungsrechts aus § 52 Abs. 1 StPO die Verwertung früherer Aussagen, so kann er dies nicht auf einzelne Vernehmungen beschränken. Ein Teilverzicht führt vielmehr dazu, dass sämtliche früheren Angaben - mit Ausnahme richterlicher Vernehmungen nach Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht - unverwertbar sind.

(a) Das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 StPO dient dem Schutz des Zeugen, durch seine der Wahrheitspflicht unterliegende Aussage nicht zur Belastung eines Angehörigen beitragen zu müssen (BGH, Urteile vom 8. Mai 1952 - 3 StR 1199/51, BGHSt 2, 351, 354 und vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207). Der Zeuge kann bis zur Hauptverhandlung frei entscheiden, ob seine frühere, vielleicht voreilige oder unbedachte Aussage verwertet werden darf, und hat das Recht, in der Hauptverhandlung das Zeugnis zu verweigern sowie seine frühere Entscheidung zu ändern (BGH, Urteile vom 11. April 1973 - 2 StR 42/73, BGHSt 25, 176, 177 ff. und vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 208). Beruft er sich auf sein Recht aus § 52 Abs. 1 StPO, unterliegen daher sämtliche früheren Aussagen grundsätzlich einem Beweisverwertungsverbot (§ 252 StPO; BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99). Ausgenommen hiervon sind lediglich richterliche Vernehmungen nach Belehrung des Zeugen über sein Zeugnisverweigerungsrecht (st. Rspr.; BGH, Urteil vom 15. Januar 1952 - 1 StR 341/51, BGHSt 2, 99; Beschluss vom 15. Juli 2016 - GSSt 1/16, BGHSt 61, 221, 229 mwN).

(b) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann der sich auf sein Recht aus § 52 Abs. 1 StPO berufende Zeuge darüber hinaus auf die Sperrwirkung seiner Zeugnisverweigerung verzichten, sodass frühere Angaben durch die Vernehmungsperson oder den Sachverständigen (zur Anwendbarkeit des § 252 StPO bei Befragungen durch Sachverständige vgl. BGH, Urteil vom 3. November 2000 - 2 StR 354/00, BGHSt 46, 189, 193 mwN) in die Hauptverhandlung eingeführt werden können (BGH, Beschluss vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207). Denn das Beweisverwertungsverbot aus § 252 StPO dient allein der Sicherung des mit der Gewährung des Rechts zur Zeugnisverweigerung verfolgten Zwecks und ist daher für den Zeugen insoweit disponibel, als er hierauf verzichten und durch die Gestattung der Verwertung früherer Angaben zur Sachaufklärung beitragen kann. Dem Umstand, dass sich der Zeuge hierdurch einer konfrontativen Befragung entzieht, ist durch eine entsprechend vorsichtige Beweiswürdigung Rechnung zu tragen (BGH, Beschluss vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207 ff.).

(c) Ob der Zeuge seine Gestattung - wie vorliegend - auf einzelne Vernehmungen beschränken kann, hat der Bundesgerichtshof bislang nicht entschieden (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2020 - 3 StR 377/18 Rn. 13 ff.; vgl. auch Urteil vom 28. Mai 2003 - 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 297 ff.).

Ein solcher Teilverzicht ist unzulässig. Denn ein Zeuge kann nur in dem Rahmen über das Beweisverwertungsverbot verfügen, in dem es seinem Schutz dient. Schutzzweck des § 252 StPO in Verbindung mit § 52 Abs. 1 StPO ist es indes ausschließlich, die Entscheidungsfreiheit des Zeugen dahin zu gewährleisten, ob er in einem Strafprozess gegen einen Angehörigen aussagen und so gegebenenfalls zu dessen Belastung beitragen möchte (vgl. BGH, Urteile vom 8. Mai 1952 - 3 StR 1199/51, BGHSt 2, 351, 354 und vom 23. September 1999 - 4 StR 189/99, BGHSt 45, 203, 207). Das bedeutet: Der Zeuge kann entscheiden, ob er sich als Beweismittel zur Verfügung stellen will oder nicht (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 - 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 298 mwN). Darüber hinaus hat er kein schützenswertes Interesse daran, den Umfang der Verwertbarkeit der von ihm bereits vorliegenden Angaben zu bestimmen (Cirener/Sander in Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 252 Rn. 25), weshalb insoweit im Interesse des Angeklagten und der Allgemeinheit an der Wahrheitserforschung seinem Einfluss auf das Strafverfahren Grenzen zu ziehen sind (vgl. BGH, Urteil vom 28. Mai 2003 - 2 StR 445/02, BGHSt 48, 294, 299).

bb) Gemessen an diesen Grundsätzen durfte das Landgericht die Angaben der Nebenklägerin bei der aussagepsychologischen Sachverständigen seiner Beweiswürdigung nicht zugrunde legen. Denn der Verzicht der Zeugin auf das Verwertungsverbot aus § 252 StPO war - wenngleich möglicherweise nur aus Unachtsamkeit - auf diese Vernehmung beschränkt und damit unwirksam. Die Jugendkammer hätte ausschließlich die Angaben der Nebenklägerin vor dem Ermittlungsrichter zur Entscheidungsfindung heranziehen dürfen.

cc) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Es ist insgesamt - trotz des bezüglich eines zentralen Teils der Körperverletzungen rechtsmedizinisch dokumentierten Verletzungsbildes - nicht auszuschließen, dass das Landgericht ohne die Angaben der Zeugin bei der Sachverständigen zu einem anderen Beweisergebnis gelangt wäre.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 8

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede