HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 948
Bearbeiter: Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 44/06, Urteil v. 24.10.2006, HRRS 2006 Nr. 948
1. Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 14. Juli 2005 aufgehoben. Die Angeklagten werden freigesprochen.
2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
3. Die Entscheidung über die Entschädigung der Angeklagten wegen der erlittenen Strafverfolgungsmaßnahmen bleibt dem Landgericht vorbehalten.
Das Landgericht München I hat den Angeklagten F. durch Urteil vom 14. Juli 2005 wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt in 11 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Den Angeklagten H. hat es wegen Beihilfe zu diesen Taten unter Einbeziehung von Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt; daneben hat es eine Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen zu jeweils 10,-- € verhängt.
Die Vollstreckung beider Gesamtfreiheitsstrafen hat das Landgericht zur Bewährung ausgesetzt.
Die Angeklagten machen mit ihren auf die Sachrüge gestützten Revisionen geltend, dass den Angeklagten F. wegen Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes keine Pflicht zur Abführung von Beiträgen zur deutschen Sozialversicherung treffe, eine Strafbarkeit nach § 266a StGB daher für beide Angeklagte ausscheide. Die Rechtsmittel haben Erfolg.
1. Das Landgericht hat festgestellt: Der Angeklagte F. war Geschäftsführer der "A. GmbH" mit Sitz in M. (fortan: A. GmbH), die auf Baustellen in Deutschland als Subunternehmerin Aufträge im Bereich der Fassadenmontage ausführte und dabei portugiesische Arbeiter einsetzte. Um die Arbeiter der deutschen Sozialversicherungspflicht zu entziehen, wurden sie auf Veranlassung des Angeklagten F. zum Schein bei zwei portugiesischen Bauunternehmen angestellt. Die portugiesischen Unternehmen traten formell auch in die Bauaufträge der A. GmbH ein. Tatsächlich hatten die portugiesischen Firmen keinerlei Geschäftsbeziehungen nach Deutschland, insbesondere weder Kontakt zu den Auftraggebern der A. GmbH noch zu den portugiesischen Arbeitnehmern. Diese blieben faktisch bei der A. GmbH beschäftigt, von der sie auch ihren - auf Konten der portugiesischen Unternehmen überwiesenen und von dort ausgezahlten - Arbeitslohn erhielten. Der Angeklagte H., ein ehemaliger Rechtsanwalt, hatte zusammen mit dem Angeklagten F. die Verhandlungen mit den portugiesischen Firmen geführt, die abgeschlossenen Scheinarbeitsverträge entworfen und die Organisation der umgeleiteten Lohnzahlungen übernommen.
Die Angeklagten beabsichtigten, durch die angeblichen Arbeitsverhältnisse in Portugal den Anschein einer nur vorübergehenden Entsendung der Arbeiter von Portugal nach Deutschland zu erwecken. Das deutsche und das europäische Sozialversicherungsrecht sehen für einen derartigen Fall vor, dass die entsandten Arbeitnehmer nur in ihrem Herkunftsstaat zu versichern sind, im Gastland dagegen beitragsfrei beschäftigt werden können. Die Geschäftsführer der portugiesischen Gesellschaften stellten nach Absprache mit den Angeklagten daher bei den portugiesischen Sozialversicherungsträgern Anträge auf Erteilung so genannter E 101-Bescheinigungen, welche daraufhin auch ausgestellt wurden. In den Bescheinigungen bestätigten die portugiesischen Behörden, dass die eingesetzten Arbeiter nach der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 aufgrund von Werkverträgen für nicht länger als ein Jahr ins Ausland entsandt wurden mit der rechtlichen Folge, dass sie in Portugal sozialversicherungspflichtig blieben. Tatsächlich lagen die Voraussetzungen hierfür - wie das Landgericht feststellt - nicht vor, da die Arbeitnehmer bereits zum Zeitpunkt ihrer angeblichen Entsendung durch die portugiesischen Unternehmen länger als ein Jahr in Deutschland tätig und vollständig in den Betrieb der A. GmbH eingegliedert waren.
Bei den deutschen Sozialversicherungsbehörden meldeten die Angeklagten die Arbeiter nicht an und führten auch keine Beiträge für sie ab. Nach der Berechnung des Landgerichts entzogen sie dadurch im Zeitraum zwischen Juli 2001 und Juni 2002 in Deutschland Beiträge in Höhe von insgesamt 112.132,40 €. In Portugal sollten Beiträge nach Vorstellung der Angeklagten aus dem an die dortigen Unternehmen überwiesenen Arbeitslohn entrichtet werden. Ob dies tatsächlich geschah, hat das Landgericht nicht festgestellt.
Zur behördlichen Handhabung der E 101-Bescheinigungen teilt das Urteil mit, dass die deutschen Sozialversicherungsträger aufgrund von Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes darin übereingekommen seien, den Bescheinigungen bindende Wirkung beizumessen. Die Landesversicherungsanstalt Oberbayern hob daher in einem das Vorgängerunternehmen der A. GmbH betreffenden Verfahren mit ähnlichem Sachverhalt - die Arbeitnehmer wurden bei zu diesem Zweck eigens gegründeten portugiesischen Briefkastenfirmen angestellt und erlangten auf diesem Weg E 101-Bescheinigungen - einen bereits ergangenen Leistungsbescheid wieder auf, nachdem die portugiesischen Behörden die Richtigkeit der von ihnen ausgestellten Bescheinigungen bestätigt hatten. Im laufenden, gegen den Angeklagten F. gerichteten sozialversicherungsrechtlichen Verfahren wurden Beitragsforderungen gar nicht erst erhoben. Nach Aussage von Mitarbeitern der befassten deutschen Sozialbehörden ist dies auch für die Zukunft nicht beabsichtigt, sofern die vorliegenden Bescheinigungen Bestand haben.
2. Das Landgericht ist der Auffassung, dass die portugiesischen Arbeiter ungeachtet der vorgelegten E 101-Bescheinigungen in Deutschland sozialversicherungspflichtig waren, da die Voraussetzungen für eine versicherungsfreie Tätigkeit nicht gegeben waren. Den Bescheinigungen misst es eine nur formale Bedeutung zu. Sie entfalten nach Auffassung des Landgerichts bindende Wirkung nur im Sozialversicherungsrecht, begründen auch dort aber nur eine widerlegbare Vermutung dafür, dass der betroffene Arbeitnehmer in das Sozialversicherungssystem eines anderen Landes eingebunden ist. Die deutschen Sozialversicherungsträger seien bis zur Rücknahme der auf falschen Annahmen beruhenden Bescheinigungen durch die ausstellende Behörde zwar gehindert, Beiträge einzuziehen. Am Bestehen eines darauf gerichteten materiellen Anspruches und an der strafrechtlichen Bedeutung unterlassener Beitragsabführung ändere dies aber nichts.
Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Nach den Kollisionsvorschriften des europäischen Sozialversicherungsrechtes in der ihnen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zukommenden Reichweite und Wirkung findet deutsches Sozialversicherungsrecht auf die dem Urteil des Landgerichts zugrunde liegenden Beschäftigungsverhältnisse keine Anwendung. Eine Strafbarkeit der Angeklagten nach § 266a StGB scheidet infolgedessen aus.
1. Gegenstand einer Beitragsstraftat nach § 266a StGB sind fällige Arbeitnehmerbeiträge, die aufgrund einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuches geschuldet sind. § 266a StGB ist insoweit sozialrechtsakzessorisch ausgestaltet (vgl. BGHSt 47, 318 f.; Tröndle/ Fischer StGB 53. Aufl. § 266a Rdn. 9a, 10; Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 202). Auch das Landgericht geht zutreffend davon aus, dass eine sozialversicherungsrechtliche Beitragspflicht die Voraussetzung für eine Beitragsstraftat bildet.
2. In Fällen mit Auslandsbezug ist daher von vorrangiger Bedeutung, ob der betroffene Arbeitnehmer der inländischen Sozialversicherungspflicht unterliegt oder davon ausgenommen ist. § 266a StGB knüpft hierbei nicht allein an die deutschen Sozialgesetze, sondern auch an zwischen- und überstaatliche Bestimmungen an, soweit sie in Deutschland gelten und das anzuwendende Sozialversicherungsrecht bestimmen. Danach ergibt sich Folgendes:
a) Nach den Bestimmungen des deutschen Sozialgesetzbuches führt eine inländische Beschäftigung zur Sozialversicherungspflicht des Arbeitnehmers (§ 2 Abs. 2, § 3 Nr. 1 SGB IV); maßgeblich ist dabei der Ort, an dem die Beschäftigung tatsächlich ausgeübt wird (§ 9 Abs. 1 SGB IV). Die Versicherungspflicht entfällt gem. § 5 Abs. 1 SGB IV bei Personen, die im Rahmen eines ausländischen Beschäftigungsverhältnisses in das Inland entsandt werden, sofern die Entsendung im Voraus zeitlich begrenzt ist.
Nach diesem Maßstab unterlagen die portugiesischen Arbeiter in der zugrunde liegenden Fallkonstellation der deutschen Sozialversicherungspflicht. An einer zur Versicherungsfreiheit führenden Entsendung fehlte es bereits deshalb, weil ein ausländisches Beschäftigungsverhältnis im Sinne des § 5 Abs. 1 SGB IV nicht bestand, die Arbeiter vielmehr allein von der inländischen A. GmbH beschäftigt wurden. Sie waren insbesondere weder an Weisungen der nur nach außen als Arbeitgeber auftretenden portugiesischen Unternehmen gebunden noch in deren Arbeitsorganisation eingegliedert (vgl. § 7 Abs. 1 SGB IV).
b) Die Vorschriften der §§ 2 ff. SGB IV stehen jedoch unter dem Vorbehalt über- und zwischenstaatlichen Rechtes (§ 6 SGB IV). Als derartige, nach Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag mit unmittelbarem Geltungsvorrang ausgestattete Regelung enthält die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 (sog. "Wanderarbeitnehmerverordnung", ABl. L 149 vom 5. Juli 1971 S. 2; fortan: VO 1408/71) für Fälle grenzüberschreitender Beschäftigung in Ländern der europäischen Union Kollisionsvorschriften, die das anwendbare nationale Sozialversicherungsrecht bestimmen.
Nach der Grundregel des Art. 13 Abs. 1 der VO 1408/71 sollen grenzüberschreitend beschäftigte Personen dem Sozialversicherungsrecht nur eines Mitgliedstaates unterliegen. Art. 13 Abs. 2 lit. a) der VO 1408/71 bestimmt insoweit, dass auf einen Arbeitnehmer, der im Gebiet eines Mitgliedstaates beschäftigt ist, unabhängig von seinem Wohnsitz und dem Sitz seines Arbeitgebers das Recht dieses Staates Anwendung findet. Als Ausnahme hierzu findet im Falle einer Entsendung von voraussichtlich nicht mehr als zwölf Monaten nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 1 a) der VO 1408/71 weiterhin das Sozialversicherungsrecht des Herkunftsstaates Anwendung, aus dem der Arbeitnehmer entsandt wird, sofern der Arbeitnehmer einem dortigen Unternehmen gewöhnlich angehört und für Rechnung dieses Unternehmens entsandt wird. Voraussetzung für die Anwendung dieser Ausnahmeregelung ist eine auch während der Entsendung fortbestehende arbeitsrechtliche Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer, die sich in der Zahlung des Entgeltes, der Erhaltung eines Abhängigkeitsverhältnisses, der Verantwortung für Anwerbung, Arbeitsvertrag, Entlassung und der Entscheidungsgewalt über die Art der Arbeit ausdrückt (vgl. die Beschlüsse der - nach Art. 80, 81 der VO 1408/71 zu Fragen der Auslegung und Durchführung der Verordnung eingesetzten - Verwaltungskommission Nr. 128 vom 17. Oktober 1985, ABl. C 141 vom 7. Juni 1986, S. 6; Nr. 162 vom 31. Mai 1996, ABl. L 241 vom 21. September 1996, S. 28; Nr. 181 vom 13. Dezember 2000, ABl. L 329 vom 14. Dezember 2001, S. 73).
Auch nach diesem Maßstab lagen die Voraussetzungen einer zur inländischen Versicherungsfreiheit führenden Entsendung auf Grundlage der Feststellungen des Landgerichts nicht vor; denn die portugiesischen Arbeitnehmer befanden sich in keiner arbeitsrechtlichen Bindung zu den portugiesischen Unternehmen.
Sie waren auch nicht für deren Rechnung tätig, da ihre Arbeitskraft allein zur Durchführung der tatsächlich bei der A. GmbH verbliebenen Bauaufträge diente und sie faktisch auch ihren Lohn von der GmbH bezogen.
3. Dem Landgericht war es gleichwohl verwehrt, seiner Beurteilung die Anwendung deutschen Sozialversicherungsrechtes zugrunde zu legen. Nach den zur Durchführung der VO 1408/71 ergangenen europäischen Rechtsvorschriften war es an die Bescheinigung des portugiesischen Sozialversicherungsträgers gebunden, wonach die Arbeiter der A. GmbH portugiesischem Sozialversicherungsrecht unterliegen. Die Strafkammer war daher gehindert, entgegen der Bewertung der portugiesischen Behörde dennoch zu einer bestehenden Sozialversicherungspflicht in Deutschland zu gelangen.
a) Die VO 1408/71 wird ergänzt durch Durchführungsvorschriften in der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vom 21. März 1972 (ABl. L 74 vom 27. März 1972, S. 1; fortan: VO 574/72). Für die Fälle einer Entsendung nach Art. 14 Abs. 1 der VO 1408/71 sieht Art. 11 der VO 574/72 ein Verfahren vor, in dem der zuständige Sozialversicherungsträger des Herkunftsstaates auf Antrag des betroffenen Arbeitnehmers oder Arbeitgebers die Entsendung bestätigt und für einen begrenzten Zeitraum bescheinigt, dass der Beschäftigte den Rechtsvorschriften des Herkunftsstaates unterstellt bleibt. Die Bescheinigung erfolgt auf einem gemäß Art. 2 der VO 574/72 von der Verwaltungskommission entworfenen einheitlichen Formblatt mit der Bezeichnung "E 101".
Über die Rechtsnatur und Wirkung einer derartigen E 101-Bescheinigung verhält sich die VO 574/72 nicht unmittelbar. Ihr ist insbesondere nicht zu entnehmen, welche Wirkung der Bescheinigung in einem das Sozialversicherungsverhältnis eines entsandten Arbeitnehmers betreffenden Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren im Gastland zukommt, ob sie dort etwa nur verfahrensrechtliche Bedeutung im Sinne einer Beweiserleichterung oder widerleglichen Vermutung für das Vorliegen des bescheinigten Entsendetatbestandes erlangt, oder ob sie materielle Bindungswirkung dahingehend entfaltet, dass sie die sich aus der bescheinigten Entsendung ergebende Anwendung des Sozialversicherungsrechtes des Entsendestaates verbindlich festschreibt.
b) Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Entscheidungen, denen Vorlagefragen aus arbeits- und sozialgerichtlichen Verfahren der Mitgliedsstaaten zugrunde lagen, zur Wirkung einer E 101-Bescheinigung ausgesprochen, dass die nationalen Behörden des Gastlandes und dessen Gerichte an die bescheinigte Anwendbarkeit des Sozialversicherungsrechtes des Herkunftslandes gebunden sind (Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, EuZW 2000, 380; Urteil vom 30. März 2000 - Rs. C-178/97, Slg. 2000 I, 2005, 2040 ff.; Urteil vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05, AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13.).
Der Gerichtshof begründet seine Auffassung mit dem Zweck der Verordnungen, dass ein Arbeitnehmer nur an ein einziges System der sozialen Sicherheit angeschlossen werden soll, der damit verbundenen Rechtssicherheit und der mit der Verordnung und der Bescheinigung beabsichtigten Förderung von Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit. Er führt darüber hinaus aus, dass der Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach Art. 10 (alt: Art. 5) EG-Vertrag den ausstellenden Träger verpflichte, den Sachverhalt ordnungsgemäß zu beurteilen und damit die Richtigkeit der Bescheinigung zu gewährleisten. Umgekehrt würde der zuständige Träger des Aufnahmestaates seine Verpflichtung zur Zusammenarbeit verletzen, wenn er sich nicht an die Angaben in der Bescheinigung gebunden sähe und den Betroffenen (zusätzlich) seinem eigenen Sozialversicherungssystem unterstellen würde.
In Konfliktfällen habe der Träger des Aufnahmestaates sich vielmehr zunächst an den Träger des Entsendestaates zu wenden, dann an die Verwaltungskommission. Gelinge dieser keine Vermittlung, könne der Träger des Aufnahmestaates im Entsendestaat klagen oder ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 227 (alt: Art. 170) EG-Vertrag einleiten.
Zur Reichweite der Bindung führt der Europäische Gerichtshof aus, dass eine E 101-Bescheinigung notwendig zur Folge habe, dass das System der sozialen Sicherheit des anderen Mitgliedstaates nicht angewandt werden kann. Hieran seien auch die nationalen Gerichte gebunden (Urteil vom 26. Januar 2006 - Rs. C-2/05; AP EWG-Verordnung Nr. 1408/71 Nr. 13). Der Gerichtshof hatte insoweit über die Vorlagefrage zu befinden, ob ein Gericht des Gaststaates das Fortbestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem entsandten Arbeitnehmer prüfen darf, weiterhin, ob es die E 101-Bescheinigung unbeachtet lassen darf, wenn nach den ihm vorliegenden tatsächlichen Umständen feststeht, dass während des Entsendungszeitraums eine solche Bindung nicht bestand. Der Europäische Gerichtshof hat dies abgelehnt und ausgeführt, ein Gericht des Gaststaates sei "nicht befugt, die Gültigkeit einer Bescheinigung E 101 im Hinblick auf die Bestätigung der Tatsachen, auf deren Grundlage eine solche Bescheinigung ausgestellt wurde, insbesondere das Bestehen einer arbeitsrechtlichen Bindung im Sinne von Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (...) zu überprüfen" (EuGH aaO Rdn. 33).
c) Der Senat sieht vor diesem Hintergrund auch die an einem innerstaatlichen Strafverfahren beteiligten Behörden und Gerichte an eine von einem ausländischen Sozialversicherungsträger ausgestellte E 101-Bescheinigung gebunden, soweit sich das Strafverfahren auf eine Verletzung der Beitragspflicht des Arbeitgebers bezieht.
Er hält zunächst für nicht zweifelhaft, dass der Europäische Gerichtshof trotz einzelner Formulierungen, die der Bescheinigung lediglich Beweiskraft oder die Wirkung einer Vermutung zuschreiben (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Februar 2000 - Rs. C-202/97, EuZW 2000, 380, 384), eine behördliche oder gerichtliche Auseinandersetzung über die tatsächlichen Verhältnisse, aufgrund derer die Bescheinigung erteilt wurde, im Gastland für ausgeschlossen hält. Die seitens des Gerichtshofes betonte Bindung lässt sich nicht anders verstehen, als dass eine derartige Sachprüfung durch dortige Behörden nicht stattfinden darf.
Dies betrifft auch die Organe der Strafrechtspflege. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner - erst nach dem Urteil des Landgerichts ergangenen - Entscheidung vom 26. Januar 2006 (Rs. C-2/05) bereits die Vorlagefragen weitreichend im Hinblick auf eine Bindung der "innerstaatlichen Rechtsordnung des Gaststaates" verstanden und eine Bindung der nationalen Gerichte ohne Unterscheidung nach Gerichtsbarkeit ausgesprochen. Ein solches Verständnis entspricht dem Zweck der europäischen Kollisionsvorschriften und der Entsendebescheinigung. Denn ein strafrechtliches Urteil, das sich auf von der Bescheinigung abweichende Feststellungen stützt, hätte wegen der einschneidenden Sanktionsfolge tiefergreifende Auswirkungen als eine von der Bescheinigung abweichende Beitragserhebung durch die Sozialversicherungsbehörden des Gastlandes.
Im Hinblick auf § 266a StGB ergibt sich eine Bindung auch mittelbar aus der sozialrechtsakzessorischen Natur der Strafvorschrift. Da die strafrechtliche Beitragsvorenthaltung eine sozialrechtlich begründete Beitragspflicht voraussetzt, lässt eine Unanwendbarkeit deutschen Sozialversicherungsrechtes infolge der bindenden Bewertung der Entsendebehörde zugleich die Strafbarkeit nach § 266a StGB entfallen (zutreffend Ignor/Rixen, wistra 2001, 201, 204; a.A. Heitmann in Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht 4. Aufl. § 36 Rdn. 70 f., 76, der einer Entsendebescheinigung allerdings auch für das sozialrechtliche Verfahren nur eine Beweisfunktion zuschreibt). Dies zeigt auch die Struktur von § 266a StGB als echtes Unterlassungsdelikt. Dem Unterlassen steht bei Vorliegen einer Entsendebescheinigung eine erfüllbare Rechtspflicht nicht gegenüber; da mangels eines Sozialversicherungsverhältnisses kein Anspruch eines inländischen Sozialversicherungsträgers besteht, ist dem Täter die von § 266a StGB abverlangte Handlung - rechtzeitige Beitragsabführung - rechtlich und tatsächlich unmöglich. Eine strafrechtliche Feststellung fehlender Entsendungsvoraussetzungen, wie von dem Landgericht vorgenommen, vermag hieran nichts zu ändern, da sie eine Sozialversicherungspflicht nicht begründen kann.
d) Der Senat hat erwogen, ob die Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung in Fallgestaltungen wie der vorliegenden in Frage steht, in denen die Bescheinigung durch Manipulation erschlichen worden ist. Der Europäische Gerichtshof hat insoweit in anderem Zusammenhang mehrfach ausgesprochen, dass das Gemeinschaftsrecht die missbräuchliche oder betrügerische Anwendung von Vorschriften nicht gestatte (vgl. Urteil vom 2. Mai 1996 - Rs. C-206/94, BB 1996, 1116, 1117 m.w.N.).
Sollte der Verdacht von Manipulationen eine Überprüfungsmöglichkeit des Entsendetatbestandes durch die Behörden und Gerichte des Gaststaates eröffnen, würde dies allerdings die von den Verordnungen bezweckte und in der Rechtsprechung des Gerichtshofes als wesentliche Zielsetzung betonte eindeutige Rechtszuordnung unterlaufen, da eine auf den Missbrauchsverdacht gestützte Ermittlungs- und Eingriffsbefugnis keine trennscharfen Konturen aufweist und zu Konflikten zwischen den Versicherungsträgern der beteiligten Mitgliedstaaten Anlass geben würde.
Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof eine Ausnahme von der Bindungswirkung nicht vorgesehen und an der Richtigkeit der Bescheinigung zweifelnde Gastlandbehörden ausnahmslos auf eine Überprüfungsanregung bei der Ausstellungsbehörde verwiesen. Dies betrifft auch das vom Gerichtshof mit Urteil vom 30. März 2000 (- Rs. C-178/97, Slg. 2000 I, 2005) entschiedene Vorlageverfahren, dem die Problematik einer Scheinselbständigkeit zugrunde lag. In den im Verfahren eingeholten Stellungnahmen der deutschen und niederländischen Regierungen wurde der Befürchtung Ausdruck verliehen, dass mit einer allzu großzügigen Handhabung der Verordnungen und der auf ihrer Grundlage ergangenen Bescheinigungen einem Missbrauch durch erschlichene Rechtswahl der Sozialrechtsordnung eines Mitgliedsstaates, dessen Sozialabgaben niedriger als jene im tatsächlichen Beschäftigungsstaat ausfallen, Vorschub geleistet würde (vgl. Slg. 2000 I, 2005, 2016). Der Gerichtshof hat gleichwohl auch in diesem Fall keine Veranlassung gesehen, die Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung unter einen Missbrauchsvorbehalt zu stellen. Nach Auffassung des Senats liegt daher eine gesicherte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes vor, die vernünftige Zweifel an der Auslegung des Gemeinschaftsrechtes im vorliegenden Fall nicht zulässt; hiermit entfällt zugleich eine Vorlagepflicht nach Art. 234 Abs. 3 EG-Vertrag, § 1 Abs. 2 EuGHG zur Klärung der Rechtsfrage (vgl. hierzu Kokott, JZ 2006, 633).
4. Eine Beitragsvorenthaltung zu Lasten der portugiesischen Sozialbehörden kommt nach den Feststellungen des Landgerichts gleichfalls nicht in Betracht. Angesichts des durch die Entsendebescheinigung festgestellten Arbeitsverhältnisses trifft eine Beitragspflicht allein die portugiesischen Unternehmen und ihre Organe. Darüber hinaus ergeben die Feststellungen des Landgerichts, dass nach Absicht der Angeklagten aus den von ihnen an die portugiesischen Firmen überwiesenen Lohnzahlungen Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden sollten. Es kann daher dahinstehen, ob § 266a StGB allein die Nichtabführung von Beiträgen aufgrund einer inländischen Sozialversicherungspflicht betrifft oder aufgrund der Verknüpfung der europäischen Sozialsysteme auch das gesamteuropäische Beitragsaufkommen schützt.
Der Senat hat weiterhin erwogen, ob das Landgericht - gegebenenfalls nach einem Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO - der Frage hätte nachgehen müssen, ob sich die Angeklagten aufgrund der Beantragung der Entsendebescheinigungen eines Beitragsbetruges nach § 263 StGB schuldig gemacht haben.
Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen legen nahe, dass die E 101-Bescheinigungen von den portugiesischen Sozialversicherungsbehörden infolge einer - von den Angeklagten zumindest veranlassten - Täuschung über die tatsächlichen Voraussetzungen des Entsendetatbestandes ausgestellt worden sein könnten. Die Ausstellung der Bescheinigungen könnte in diesem Fall eine irrtumsbedingte Verfügung darstellen, da sie aufgrund ihrer Bindungswirkung die Erhebung höherer Sozialversicherungsbeiträge in Deutschland hindern.
Eine Zurückverweisung der Sache zur ergänzenden Sachaufklärung war gleichwohl nicht veranlasst. Unabhängig davon, ob die einem etwaigen Beitragsbetrug zugrunde liegenden Tathandlungen von der zugelassenen Anklage und damit der Kognitionspflicht des Landgerichts umfasst sind, steht einer solchen Prüfung gleichfalls die Bindungswirkung der erteilten Entsendebescheinigungen entgegen. Nach der - für den Senat bindenden - Auffassung des Europäischen Gerichtshofes sind die Gerichte des Gaststaates nicht befugt, die der Entsendebescheinigung zugrunde liegenden Tatsachen einer eigenständigen Überprüfung zu unterziehen (vgl. Urteil vom 26. Januar 2006, Rs. C-2/05 Rdn. 32 f.). Die Annahme eines Beitragsbetruges widerspräche einer solchen Bindung. Denn sie setzt die Bewertung voraus, dass es an den tatsächlichen Voraussetzungen einer Entsendung fehlt, diese dem ausländischen Versicherungsträger vielmehr nur vorgetäuscht wurden und die von ihm ausgestellte Bescheinigung auf einer fehlerhaften Tatsachengrundlage beruht.
Der Senat braucht vorliegend nicht zu entscheiden, welche Rechtsfolgen ein möglicher Widerruf der erteilten E 101-Bescheinigungen durch die ausstellende Behörde hätte, doch könnte bei erschlichenen Bescheinigungen Betrug zum Nachteil deutscher Sozialversicherungsträger nahe liegen.
Da mithin lediglich ein Mangel der rechtlichen Würdigung vorliegt und weitergehende Feststellungen ausscheiden, kann der Senat in der Sache selbst entscheiden. Die Entscheidung über die Verpflichtung zur Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (§ 8 StrEG) ist vom Landgericht zu treffen, weil Art und Umfang der entschädigungspflichtigen Maßnahmen ohne weitere Feststellungen und ohne weitere Anhörung der Beteiligten nicht zu bestimmen sind (vgl. BGH StV 2002, 422, 423). Der Senat weist im übrigen klarstellend darauf hin, dass die in die Gesamtstrafe gegenüber dem Angeklagten H. gem. § 55 StGB einbezogenen Einzelstrafen aus einer früheren Verurteilung von dem Freispruch nicht berührt werden. Insoweit verbleibt es bei der in dem früheren Erkenntnis gebildeten Gesamtstrafe, deren Auflösung mit Aufhebung des landgerichtlichen Urteils entfallen ist.
HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 948
Externe Fundstellen: BGHSt 51, 124; NJW 2007, 233; NStZ 2007, 218; StV 2007, 32
Bearbeiter: Karsten Gaede