HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 809
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 421/22, Urteil v. 11.05.2023, HRRS 2023 Nr. 809
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 31. März 2022 mit Ausnahme des Adhäsionsausspruchs mit den Feststellungen aufgehoben; hiervon ausgenommen sind die Feststellungen zur Vorgeschichte der Tat und zum äußeren Tathergang, die bestehen bleiben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision der Staatsanwaltschaft und die Revision des Angeklagten werden verworfen.
3. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels, die insoweit entstandenen besonderen Kosten des Adhäsionsverfahrens und die der Neben- und Adhäsionsklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt. Zudem hat es dem Angeklagten die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und eine Sperre für die Neuerteilung der Fahrerlaubnis von zwei Jahren festgesetzt. Zugunsten der Neben- und Adhäsionsklägerin hat das Landgericht darüber hinaus Adhäsionsentscheidungen getroffen. Mit ihrer auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten und vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft insbesondere, dass der Angeklagte nicht auch wegen schwerer Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 StGB verurteilt worden ist. Der Angeklagte wendet sich gegen seine Verurteilung mit der auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel des Angeklagten bleibt erfolglos, während die Revision der Staatsanwaltschaft weitgehend Erfolg hat.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Am 24. März 2021 befuhr der Angeklagte um kurz vor 6.30 Uhr eine zweispurige Bundesstraße mit Standstreifen auf der linken Fahrbahn mit seinem Kraftfahrzeug Toyota Auris. Seine Ehefrau, die dem Angeklagten zwei Wochen zuvor ihre Trennung von ihm eröffnet und sich seinem Willen zuwider einem anderen Mann zugewandt hatte, saß auf dem Beifahrersitz. Sie döste wie üblich während der Fahrt, die dem Aufsuchen der gemeinsamen Arbeitsstätte diente. Auf dem nahezu geradlinig verlaufenden Straßenabschnitt beschleunigte der Angeklagte den Pkw und lenkte diesen „zielgerichtet und konstant“ bei durchgetretenem Gaspedal („Kickdown“) in einem Winkel von ca. 40 Grad unvermittelt und ohne verkehrsbedingten Anlass über die rechte Fahrspur und den Standstreifen mit einer Geschwindigkeit von mindestens 96 km/h gegen einen Baum mit einem Stamm von etwa 40 Zentimetern Durchmesser, der an dem Grünstreifen auf der rechten Seite neben der Fahrbahn stand.
Der Angeklagte nahm hierbei den durch die Wucht des Aufpralls bedingten Tod seiner Ehefrau sowie den Eintritt schwerer Gesundheitsbeeinträchtigungen bei ihr zumindest billigend in Kauf. Er nutzte zudem bewusst aus, dass sich die Nebenklägerin keines Angriffs auf ihre körperliche Unversehrtheit versah, um zu verhindern, dass sie sich durch Eingreifen in das Unfallgeschehen verteidigen kann.
Der Pkw kollidierte mit seiner Front auf Höhe der Beifahrerseite mit dem Baum, dessen Stamm bis zur Spritzwand des Motorraums in das Fahrzeug eindrang. Dieses drehte sich sodann um die Hochachse im Uhrzeigersinn um den Baum, bis es entgegen der Fahrtrichtung zum Stillstand kam. Die Nebenklägerin wurde nach der Bergung aus dem Fahrzeug durch Rettungskräfte intubiert und beatmet in ein Klinikum eingeliefert, wo mehrere operative Eingriffe erfolgten. Sie befand sich zwei Wochen im Koma. Die Geschädigte erlitt u. a. eine Subarachnoidalblutung, eine Joch- und Nasenbeinfraktur, den Verlust der oberen Schneidezähne, Querfortsatzfrakturen rechtsseitig von vier und linkseitig von zwei Lendenwirbelkörpern, eine Wirbelkörpersinterung eines Lendenwirbelkörpers, eine Sprunggelenks-, eine Wadenbein- und eine Unterarmfraktur, eine beidseitige Rippenserienfraktur sowie Lungen- und Milzkontusionen.
Bis Oktober 2021 wurde die Nebenklägerin durchgängig stationär behandelt. Sie befindet sich weiterhin in physio-, ergo- und schmerztherapeutischer Behandlung. Zudem leidet die auch psychologisch betreute Geschädigte seit der Tat an Depressionen und fortwährend an erheblichen Schmerzen, welche die Einnahme hochdosierter Schmerzmittel erforderlich machen. Sie kann schmerzbedingt nicht länger als zehn Minuten am Stück stehen und nicht länger als eine Stunde sitzen. Ferner ist sie auf unabsehbare Zeit arbeitsunfähig. Insbesondere aufgrund des fortbestehenden Querschnittssyndroms wurde bei ihr mit Bescheid vom 18. November 2021 eine Behinderung vom Grad 80 festgestellt. Der weitere Heilungsverlauf ist unabsehbar.
Der Angeklagte musste ebenfalls aus dem beschädigten Fahrzeug geborgen und in das Klinikum verbracht werden. Er trug Arm- und Beinbrüche, mehrere Rippenbrüche und einen Pneumothorax davon.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten über die neben den weiteren Delikten bejahte gefährliche Körperverletzung mittels des Pkw als gefährlichem Werkzeug und mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB) hinaus nicht auch wegen schwerer Körperverletzung verurteilt. Eine solche hat es mit der Begründung abgelehnt, eine schwere Folge im Sinne dieses erfolgsqualifizierten Delikts sei nicht feststellbar. Auch ein „Siechtum“ der Nebenklägerin scheide insbesondere deshalb aus, weil trotz ihrer schweren Verletzungen eine Heilung nicht ausgeschlossen sei.
Die Revision des Angeklagten ist unbegründet. Die Nachprüfung des Urteils hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO). Insbesondere liegt dem von den Feststellungen getragenen Schuldspruch eine nicht zu beanstandende Beweiswürdigung zugrunde (vgl. zum revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstab nur BGH, Urteil vom 21. März 2013 ? 3 StR 247/12, BGHSt 58, 212 Rn. 6 mwN).
1. Die Strafkammer hat entgegen dem Revisionsvorbringen nicht gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstoßen. Vielmehr hat sie gestützt auf die Aussagen mehrerer Zeugen und die Ausführungen eines Sachverständigen, der aus den gerade verlaufenden Reifenspuren im Grünstreifen auf ein Zurückstellen des Lenkrads in die Ausgangsposition durch den Fahrzeugführer geschlossen hat, mit nachvollziehbarer Begründung eine andere Ursache für die Kollision des Pkw mit dem Baum als ein vom Angeklagten gezielt herbeigeführtes Ereignis ausgeschlossen. Ergänzend wird Bezug genommen auf die zutreffenden Ausführungen des Generalbundesanwalts zur Revision des Angeklagten.
2. Darüber hinaus trägt die Beweiswürdigung auch die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Heimtückemordes gemäß § 211 Abs. 2 StGB. Insoweit hat das Landgericht nicht nur einen zumindest bedingten Tötungsvorsatz des Angeklagten belegt. Zugleich hat es rechtsfehlerfrei begründet, dass er die Arg- und die Wehrlosigkeit der Nebenklägerin, die nicht einmal verbal auf ihn einwirken konnte (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Juni 2022 - 1 StR 127/22 Rn. 9; Urteil vom 21. Januar 2021 - 4 StR 337/20 Rn. 12 mwN), bewusst ausnutzte. Das Landgericht hat erkannt, dass die Spontaneität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein kann, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein gefehlt hat (vgl. BGH, Urteil vom 4. Februar 2021 - 4 StR 403/20 Rn. 26; Urteil vom 31. Juli 2014 - 4 StR 147/14 Rn. 8 mwN). Über den Umstand einer (möglichen) Spontantat hinaus hat es daher ausdrücklich die trennungs-bedingte Belastung des Angeklagten sowie dessen mit der Tat verbundene Eigengefährdung bedacht. Letzteres umfasst auch eine vom Landgericht nicht ausgeschlossene versuchte Selbsttötung, mit der - nach der nicht zu beanstandenden Schuldfähigkeitsprüfung - keine tiefgreifende Bewusstseinsstörung aufgrund einer schweren affektiven Erschütterung einherging. Dass die Strafkammer angesichts der neben ihm „dösenden“ Nebenklägerin angenommen hat, dem Angeklagten sei bewusst gewesen, einen durch seine Ahnungslosigkeit schutzlosen Menschen zu überraschen, hält sich damit im Rahmen der dem Tatgericht vorbehaltenen Würdigung.
Das unbeschränkt zum Nachteil des Angeklagten eingelegte Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft, das den Adhäsionsausspruch nicht erfasst (vgl. BGH, Urteil vom 9. März 2023 - 3 StR 246/22 Rn. 11; Beschluss vom 11. Mai 2016 - 5 StR 456/15, BGHR StPO § 404 Abs. 5 Prozeßkostenhilfe 2 Rn. 5 f. mwN), hat weitgehend Erfolg. Der Schuldspruch weist Rechtsfehler zum Vorteil des Angeklagten auf.
1. Das Landgericht hat mit rechtsfehlerhafter Begründung eine Verurteilung des Angeklagten auch wegen schwerer Körperverletzung infolge eines tatbedingten „Siechtums“ der Nebenklägerin gemäß § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB abgelehnt.
a) Im Sinne dieses Qualifikationsmerkmals bezeichnet „Siechtum“ einen chronischen Krankheitszustand, der den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft zieht, ein Schwinden der körperlichen und geistigen Kräfte sowie allgemeine Hinfälligkeit zur Folge hat (vgl. BGH, Urteil vom 29. April 2021 - 5 StR 498/20 Rn. 11; Urteil vom 31. Januar 2007 - 1 StR 429/06 Rn. 20; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 226 Rn. 7 mwN). Aus dem Tatbestandsmerkmal „verfällt“ folgt, dass die schwere Folge von längerer Dauer sein muss. Eine längere Dauer ist dabei nicht mit Unheilbarkeit gleichzusetzen. Es genügt, wenn die Behebung bzw. nachhaltige Verbesserung des - länger währenden - Krankheitszustands nicht abzusehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 2019 - 5 StR 677/18 Rn. 22 mwN).
b) Hieran gemessen ist das Landgericht von einem zu engen Begriff des Siechtums im Sinne von § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB ausgegangen, indem es den Tatbestand mit der Begründung verneint hat, eine Heilung der Nebenklägerin sei nicht ausgeschlossen. Die Feststellungen legen nach den vorstehenden Maßgaben vielmehr nahe, dass die Nebenklägerin in „Siechtum“ im Sinne von § 226 StGB verfallen ist. Ihr Gesundheitszustand ist infolge der erlittenen schweren Frakturen trotz der seit der Tat vergangenen Zeit weiter beeinträchtigt; sie leidet bei Einnahme hochdosierter Schmerzmittel an starken Schmerzen. Insbesondere aufgrund des fortbestehenden Querschnittssyndroms wurde ihr ein Grad der Behinderung von 80 zuerkannt. Die Geschädigte ist arbeitsunfähig und bezieht Pflegegeld. Ein Schwinden auch ihrer geistigen Kräfte wird zumindest durch die tatbedingten Depressionen nahegelegt. Nach den Gutachten zweier Sachverständiger ist der weitere Heilungsverlauf unabsehbar. Nach den bisherigen Feststellungen kann dem Angeklagten daher auch nicht zugutekommen, dass eine zumindest teilweise Wiederherstellung der Nebenklägerin konkret wahrscheinlich wäre (vgl. hierzu allgemein BGH, Urteil vom 23. Oktober 2019 - 5 StR 677/18 Rn. 22).
2. Infolge der rechtsfehlerhaften Begründung, mit der das Landgericht ein „Siechtum“ der Nebenklägerin abgelehnt hat, hat es sich zudem den Blick darauf verstellt, dass der Angeklagte sich auch wegen einer absichtlichen oder wissentlichen schweren Körperverletzung gemäß § 226 Abs. 2 StGB strafbar gemacht haben könnte. Diese bei einem zu bejahenden „Siechtum“ der Nebenklägerin von den Feststellungen zur Vorgeschichte und zum Tatbild nahegelegte Prüfung hat das Landgericht daher rechtsfehlerhaft nicht vorgenommen.
3. Auf den Rechtsfehlern beruht das Urteil (§ 337 StPO). Die durch sie bedingte Aufhebung des Schuldspruchs, die auch die tateinheitlich ausgeurteilten Delikte erfasst (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Mai 2022 - 5 StR 464/21 Rn. 26), entzieht dem Straf- und dem Maßregelausspruch die Grundlage. Auf die gegen die Strafzumessung erhobenen Einwendungen der Revisionsführerin kommt es nicht mehr an.
Die Feststellungen zur Vorgeschichte und zum äußeren Tathergang, zu dem auch das mit der Kollision beendete Führen des Kraftfahrzeugs durch den Angeklagten im Wachzustand zählt, sind von den aufgezeigten Rechtsfehlern nicht betroffen (§ 353 Abs. 2 StPO) und können bestehen bleiben. Der Senat hebt die Feststellungen zu den Tatfolgen ebenfalls auf, um dem neuen Tatgericht eine insgesamt widerspruchsfreie Beurteilung des Gesundheitszustands der Nebenklägerin unter Berücksichtigung der weiteren Entwicklung bis zur neuen Hauptverhandlung zu ermöglichen.
Sollte sich das nun zur Entscheidung berufene Tatgericht - erneut - von Tötungsvorsatz überzeugen, wird es eingehender als bisher geschehen zu begründen haben, ob der Angeklagte bedingt vorsätzlich handelte oder ob es ihm auf die Herbeiführung des Todes der Nebenklägerin ankam. Sollte es sich von Tötungsabsicht überzeugen, wird es weiter zu prüfen haben, ob hierin unter Berücksichtigung aller insoweit aussagekräftigen Umstände des Einzelfalls ein straferschwerender Umstand zu sehen ist (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2018 - 2 StR 150/15, BGHSt 63, 54; Beschluss vom 7. Juni 2017 - 4 ARs 22/16 mwN).
Des Weiteren wird dann zu bedenken sein, dass auch bei Feststellung von Tötungsabsicht die Annahme nicht ausgeschlossen wäre, dass der Angeklagte - alternativ für den Fall, dass der (nur) für möglich gehaltene Tod des Opfers ausbleiben sollte - in der Absicht oder mit dem sicheren Wissen handelte, eine schwere Körperverletzung (§ 226 Abs. 2 StGB) herbeizuführen (vgl. hierzu näher BGH, Beschluss vom 3. Juli 2012 - 4 StR 126/12 Rn. 4 mwN; Urteil vom 14. Dezember 2000 - 4 StR 327/00 Rn. 13 f.; Urteil vom 22. Januar 1997 - 3 StR 522/96 Rn. 8, zu §§ 224, 225 StGB aF). Dem neuen Tatgericht ist es ferner vorbehalten, im Bedarfsfall den Adhäsionsausspruch zu modifizieren (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Februar 2023 - 4 StR 442/22 Rn. 12 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 809
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede