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HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 870

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 127/22, Beschluss v. 29.06.2022, HRRS 2022 Nr. 870


BGH 1 StR 127/22 - Beschluss vom 29. Juni 2022 (LG Stuttgart)

Heimtückemord (Arg- und Wehrlosigkeit: Voraussetzungen).

§ 211 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen.

2. Arglos ist das Tatopfer mitunter bereits dann, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung für die Frage der Arglosigkeit ist dabei, ob das Opfer gerade einen Angriff gegen das Leben erwartet oder es die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite übersieht. Besorgt das Opfer einen gewichtigen Angriff auf seine körperliche Integrität, ist es vielmehr selbst dann nicht arglos, wenn es etwa wegen fehlender Kenntnis von der Bewaffnung des Täters die Gefährlichkeit des erwarteten Angriffs unterschätzt.

3. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen.

4. Die Arglosigkeit führt zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Überraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das ist der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen oder in sonstiger Weise auch durch verbale Äußerungen auf den Täter einzuwirken, um den Angriff zu beenden.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 7. Juli 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts sah der Angeklagte am 14. Juli 1995 gegen 23.40 Uhr die ihm bisher unbekannte und gänzlich arglose J., die auf dem Gehweg im Einmündungsbereich E. straße/T. Straße in S. zu Fuß von ihrer Arbeitsstelle zur S-Bahn Haltestelle unterwegs war, und entschloss sich spontan, diese anzugreifen und möglicherweise auch zu töten. Er stellte zu diesem Zweck sein Fahrzeug in einer Parkbucht auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab und stieg aus dem Fahrzeug aus, wobei er ein nicht näher bekanntes Stichwerkzeug mit einem vierkantigen Durchschnitt und einer kurzen pyramidenförmigen Spitze sowie ein weiteres scharfkantiges Werkzeug mit sich führte. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Angeklagte entschlossen, J. in seine Gewalt zu bringen und zu töten.

Der Angeklagte überquerte die vierspurige Straße und begab sich nahezu geradlinig zu dem auf der anderen Straßenseite liegenden, mit Straßenleuchten gut ausgeleuchteten Gehweg, auf dem J. entlangging. Sodann griff er diese, die den Angeklagten nicht kannte und zu diesem Zeitpunkt nicht mit einem Angriff gerechnet hatte und daher wehrlos war, unter bewusster Ausnutzung der Arg- und Wehrlosigkeit mit direktem Tötungsvorsatz unvermittelt an, indem er sie am rechten Arm festhielt und mit dem mitgeführten vierkantigen Stichwerkzeug im Bereich des Oberkörpers bzw. ihres Brustkorbes auf sie einstach. Während er auf sie einstach, zog er an J., um sie über die Straße, möglicherweise in Richtung seines Fahrzeugs, zu zerren. J. wehrte sich mit den Armen und Händen gegen den Angriff, wodurch sie mehrere Stichverletzungen an beiden Armen sowie eine Stichverletzung an der Beugeseite des linken Handgelenks erlitt. Dem Angeklagten gelang es trotz ihrer Gegenwehr, weiter auf sie einzustechen, bis Zeugen zum Tatort hinzukamen. Insgesamt fügte der Angeklagte dem Opfer 23 Stiche zu, davon 22 mit dem vierkantigen spitz zulaufenden Gegenstand sowie einen Stich mit dem zweiten Werkzeug.

2. Das Landgericht ist vor allem auf Grund der beim Opfer aufgefundenen verschiedenen DNA-Spuren des Angeklagten sowie auf Grund weiterer Indizien von einer Täterschaft des Angeklagten überzeugt. Es konnte indes nicht klären, wie sich der Beginn des Angriffs auf das Opfer zutrug, sondern lediglich feststellen, dass der Angeklagte das Opfer unmittelbar angriff und alsbald einstach, wofür das schmale Zeitfenster spricht, innerhalb dessen der Angeklagte die Tat beging (UA S. 83). Erst der weitere Ablauf des Geschehens steht auf Grund von Zeugenaussagen fest.

II.

Der Schuldspruch wegen Mordes hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand, weil das Landgericht die Feststellungen zu den Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke nicht beweiswürdigend belegt hat.

1. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers bewusst zur Tötung ausnutzt. Wesentlich ist, dass der Mörder sein Opfer, das keinen Angriff erwartet, also arglos ist, in einer hilflosen Lage überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Heimtückisches Handeln erfordert jedoch kein „heimliches“ Vorgehen.

Arglos ist das Tatopfer mitunter bereits dann, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen Angriff rechnet. Ohne Bedeutung für die Frage der Arglosigkeit ist dabei, ob das Opfer gerade einen Angriff gegen das Leben erwartet oder es die Gefährlichkeit des drohenden Angriffs in ihrer vollen Tragweite übersieht. Besorgt das Opfer einen gewichtigen Angriff auf seine körperliche Integrität, ist es vielmehr selbst dann nicht arglos, wenn es etwa wegen fehlender Kenntnis von der Bewaffnung des Täters die Gefährlichkeit des erwarteten Angriffs unterschätzt (st. Rspr.; zuletzt BGH, Beschluss vom 5. April 2022 - 1 StR 81/22 Rn. 5 mwN).

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann das Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff zu begegnen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 9. Oktober 2019 - 5 StR 299/19 Rn. 9 und vom 15. November 2017 - 5 StR 338/17 Rn. 9; je mwN).

Die Arglosigkeit führt zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Ãœberraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das ist der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen oder in sonstiger Weise auch durch verbale Äußerungen auf den Täter einzuwirken, um den Angriff zu beenden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 21. Januar 2021 - 4 StR 337/20 Rn. 12; Beschluss vom 26. März 2020 - 4 StR 134/19 Rn. 13; jeweils mwN).

2. Die vom Landgericht zum Mordmerkmal der Heimtücke getroffenen Feststellungen werden durch die Beweiswürdigung nicht belegt. Es konnte gerade nicht aufklären, wie sich der für die Beurteilung des Mordmerkmals der Heimtücke maßgebliche erste Angriff des Angeklagten mit Tötungsvorsatz auf das Opfer zutrug (insbesondere UA S. 83). Zwar war nach den bisherigen Feststellungen des Landgerichts davon auszugehen, dass das Opfer zum Zeitpunkt des ersten Angriffs auf dem Weg von seiner Arbeitsstelle zur nahegelegenen S-Bahn-Haltestelle nicht mit einem Angriff auf sein Leben rechnete, was eine Arglosigkeit begründen kann. Es bleibt aber völlig offen, ob es zwischen Täter und Opfer vor dem ersten Angriff zu einem Gespräch gekommen ist oder ob den ersten Stichen durch den Angeklagten ein Streit zwischen beiden vorausgegangen ist, wie dies nach den Aussagen der Zeugen Th. und B. nicht auszuschließen ist (UA S. 85). Unklar bleibt auch, ob für das Opfer auf Grund der konkreten örtlichen Gegebenheiten eine Möglichkeit bestand, zu fliehen, um Hilfe zu rufen oder sonst auf den Täter einzuwirken. Das Vorbeifahren verschiedener Fahrzeuge im weiteren Verlauf des Tatgeschehens zeigt gerade, dass sich Personen in der Nähe des Tatortes befanden.

Auch wird vom Landgericht nicht näher gewürdigt, ob sich aus einer Arglosigkeit des Opfers auch eine Wehrlosigkeit ergeben hat. Allein das vom Landgericht eingestellte schmale Zeitfenster, innerhalb dessen der Angeklagte die Tat begangen haben soll, ohne dieses konkret weiter einzugrenzen, genügt zur Begründung einer Wehrlosigkeit des Opfers nicht. Die vom Landgericht beim Opfer festgestellten Abwehrverletzungen sprechen gegen eine Arg- und Wehrlosigkeit. Auch im Rahmen der rechtlichen Würdigung finden sich zum Mordmerkmal der Heimtücke keine weitergehenden Ausführungen des Landgerichts.

3. Zwar ist die Überzeugung des Landgerichts von der Täterschaft des Angeklagten ebenso wie die Ausführungen zum Härteausgleich revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Auf Grund des aufgezeigten Rechtfehlers bei der Annahme heimtückischer Begehung der Tat können jedoch die bisherigen Feststellungen des Landgerichts insgesamt nicht bestehen bleiben. Sie sind aufzuheben, um dem neuen Tatrichter widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.

4. Für die neue Verhandlung weist der Senat auf Folgendes hin: Das Schwurgericht wird die Voraussetzungen der Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe eingehend zu prüfen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 870

Bearbeiter: Christoph Henckel