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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2023
24. Jahrgang
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1. Eine Richtervorlage betreffend Strafvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zum unerlaubten Umgang mit Cannabisprodukten genügt nicht den für eine erneute Vorlage geltenden erhöhten Begründungsanforderungen, wenn sie keine rechtserheblichen Änderungen der Sach- und Rechtslage aufzeigt, auf deren Grundlage die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 (BVerfGE 90, 145 ff.), wonach der mit dem strafbe-
wehrten Cannabisverbot verbundene Eingriff in die Freiheitsrechte der Konsumenten gerechtfertigt ist, nicht mehr tragfähig sein könnte (Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2023 – 2 BvL 3/20 u. a. – [= HRRS 2023 Nr. 874]).
2. Das Konzept des Gesetzgebers, den Umgang mit Cannabisprodukten abgesehen von sehr engen Ausnahmen umfassend zu verbieten, verstößt nicht gegen das Übermaßverbot. Soweit sich die generelle, generalpräventiv begründete Strafandrohung gegen Gelegenheitskonsumenten kleiner Mengen von Cannabisprodukten richtet, ist dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausreichend dadurch Rechnung getragen, dass gemäß § 29 Abs. 5, § 31a BtMG von einer Verfolgung oder Bestrafung abgesehen werden kann.
3. Ein Verstoß der gesetzlichen Regelung gegen den allgemeinen Gleichheitssatz wird nicht durch Unterschiede in der Rechtsanwendungspraxis bei der Handhabung des § 31a BtMG begründet, weil keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass diese auf einen strukturellen Mangel der Vorschrift selbst zurückzuführen sind.
1. Die Verfassungsbeschwerde gegen eine auf Erkenntnisse aus der Überwachung der Kommunikation über den Krypto-Messengerdienst „EncroChat“ gestützte strafrechtliche Verurteilung wahrt nicht den Grundsatz der Subsidiarität und ist daher unzulässig, wenn der Beschwerdeführer die geltend gemachte Verletzung seiner Grundrechte auf Achtung seiner Kommunikation und Schutz seiner personenbezogenen Daten (Art. 7 und 8 GRCh) nicht bereits mit der Revision gerügt und insoweit eine zulässige Verfahrensrüge angebracht hat (Folgeentscheidung zu BGH, Beschluss vom 8. Februar 2022 – 6 StR 639/21 – [= HRRS 2022 Nr. 419]). Über die mit der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen ist damit in der Sache nicht entschieden.
2. Rügt ein Beschwerdeführer, das Gericht habe ein Beweismittel in rechtswidriger Weise verwertet, so muss er zumindest den die Beweiserhebung anordnenden Beschluss mitteilen, um dem Revisionsgericht die Prüfung der im Zeitpunkt der beanstandeten Beweisgewinnung bestehende Verdachts- und Beweislage zu ermöglichen. Hierzu gehört im Zusammenhang mit der Überwachung der über „EncroChat“ geführten Kommunikation insbesondere die Vorlage der diesbezüglichen richterlichen Ermittlungsanordnungen.
3. Verwirft das Revisionsgericht die Revision mangels zulässig erhobener Verfahrensrüge ohne inhaltliche Entscheidung über die Rechtmäßigkeit einer Beweisverwertung, so kann die unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union den Beschwerdeführer von vornherein nicht in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter verletzen, weil es auf die Frage nicht entscheidungserheblich ankam.
1. Die Verurteilung eines Apothekers wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz durch Herstellung, Vertrieb und Abrechnung unterdosierter Medikamente verletzt nicht den Schuldgrundsatz, wenn das Strafgericht zwar nicht mehr klären konnte, in welchen konkreten Fällen innerhalb einer großen Anzahl von Zubereitungen es tatsächlich zu einer Unterdosierung kam, wenn jedoch eine Mindestzahl von Unterdosierungen sicher feststeht und das Gericht insoweit auf der Grundlage einer gleichartigen Wahlfeststellung zu einem Schuldspruch gelangt (Folgeverfahren zu BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020 – 4 StR 503/19 – [= HRRS 2020 Nr. 1010]).
2. Mit der Behauptung, die Strafkammer habe einen von der Schuld entkoppelten Zurechnungsgrund geschaffen und ihn nur deshalb als Täter verurteilt, weil er seine Mitarbeiter unspezifisch zu den Unterdosierungen veranlasst habe, zeigt der Beschwerdeführer ebenfalls keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz auf, wenn er dabei außer Acht lässt, dass die Kammer zur Begründung der von ihr angenommenen mittelbaren Täterschaft in Gestalt der Organisationsherrschaft in einer Gesamtschau die konkrete Labororganisation, die Wirkstoffbeschaffung, die Personalauswahl, die Arbeitsorganisation und die Mitarbeiterkontrolle gewürdigt hat.
3. Die richterrechtlichen Grundsätze zur gleichartigen Wahlfeststellung sind mit dem Schuldgrundsatz vereinbar. Bei der gleichartigen Wahlfeststellung beschränken sich die Zweifel auf den deliktischen Sachverhalt und betreffen – anders als bei der ungleichartigen Wahlfeststellung – nicht auch die Gesetzesanwendung. Steht jedoch die schuld-
hafte Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes zur Überzeugung des Gerichts fest und beziehen sich verbleibende Zweifel allein auf den Zeitpunkt oder darauf, welche von mehreren Handlungen den Erfolg tatsächlich herbeigeführt hat, so wäre ein Freispruch mit der aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Idee materieller Gerechtigkeit unvereinbar, welche die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs verlangt.
4. Die Grundsätze der Wahlfeststellung verstoßen auch nicht gegen das Bestimmtheitsgebot in Gestalt des Verbots strafbegründender Analogie. Sie greifen nicht korrigierend in die Entscheidung des Gesetzgebers über strafwürdiges Verhalten ein, weil sie nicht – über den Inhalt gesetzlicher Strafnormen hinausgehend – die Voraussetzungen bestimmen, unter denen ein Verhalten als strafbar anzusehen ist. Vielmehr kommt das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung in erst zur Anwendung, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung zwar über den konkreten Geschehensablauf Zweifel bestehen, aber sicher feststeht, dass sich der Angeklagte – nach einem bestimmten oder einem von mehreren bestimmten Tatbeständen – strafbar gemacht hat.
1. Die Verfahrensweise einer Strafvollstreckungskammer begegnet vor dem Hintergrund des Rechts auf effektiven Rechtsschutz erheblichen Bedenken, wenn der zuständige Richter den Eilantrag des in einer Entziehungsanstalt Untergebrachten gegen eine vierwöchige Kontaktsperre erstmals eine Woche nach Eingang der Sache bearbeitet und der Maßregelvollzugseinrichtung sodann eine weitere Woche zur Stellungnahme einräumt, so dass eine gerichtliche Entscheidung allenfalls noch kurz vor dem Auslaufen der Anordnung möglich ist.
2. Angesichts der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Art. 19 Abs. 4 GG darf sich der Rechtsschutz auch im Eilverfahren nicht in der bloßen Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts erschöpfen, sondern muss zu einer wirksamen Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht führen.
3. Wo die Dringlichkeit eines Eilantrages es erfordert, muss das angerufene Gericht, wenn es eine Stellungnahme der Gegenseite einholt, die für eine rechtzeitige Entscheidung erforderliche Zügigkeit der Kommunikation sicherstellen. Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu erfolgen.
1. Der Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen, der die Gestattung regelmäßiger Telefongespräche mit seiner Mutter begehrte, fehlt es an einem Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Landesgesetzgeber die strafvollzugsrechtliche Vorschrift, auf welche die Versagung gestützt wurde und welche vorsah, dass Telefongespräche nur in dringenden Fällen gestattet werden können, durch eine weitergehende Ermessensvorschrift ersetzt hat, welche die Bewilligung von Telefonaten – unter Berücksichtigung der Sicherheit und Ordnung, der räumlichen, personellen und organisatorischen Verhältnisse der Anstalt sowie der Belange des Opferschutzes – auch allein zur Aufrechterhaltung sozialer Kontakte ermöglicht.
2. Eine vollzugsrechtliche Vorschrift, welche die akustische Überwachung von Telefonaten Gefangener zulässt, ist von Verfassungs wegen dahingehend auszulegen, dass im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte für einen Missbrauch vorhanden sind, der eine Gefährdung des Behandlungszwecks oder der Sicherheit oder Ordnung der Anstalt mit sich brächte. Allein der Umstand, dass ein möglicher Missbrauch nicht völlig auszuschließen ist, reicht demgegenüber nicht aus.
3. Die verdachtsunabhängige Überwachung sämtlicher Telefongespräche aller Gefangenen begegnet erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken, weil sie schwerwiegend in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Gesprächsteilnehmer eingreift. Dieses garantiert dem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung zur Entwicklung seiner Individualität und erkennt einen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung an.