HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1081
Bearbeiter: Holger Mann
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 1373/20, Beschluss v. 09.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1081
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen seine Verurteilung durch das Landgericht Essen sowie gegen die Verwerfung seiner Revision durch den Bundesgerichtshof.
Er war Inhaber einer Apotheke mit Reinraumlabor und hatte mehrere Angestellte. Teil seiner Tätigkeit war die Herstellung parenteraler Arzneimittel. Hierbei kam es zu Unregelmäßigkeiten. Am 6. Juli 2018 verurteilte ihn das Landgericht Essen wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in 14.537 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen und 27 weiteren, tatmehrheitlichen Fällen sowie wegen Betruges in 59 Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwölf Jahren. Im Übrigen sprach das Landgericht den Beschwerdeführer frei.
Nach den Feststellungen des Landgerichts stellte der Beschwerdeführer entsprechend seines zuvor gefassten Tatplans zwischen dem 1. Januar 2012 und dem 29. November 2016 in 14.564 Fällen unterdosierte Arzneimittel her, die er auslieferte und bei den gesetzlichen Krankenkassen und anderen öffentlich-rechtlichen Kostenträgern monatsweise, im Tatzeitraum also insgesamt 59 Mal, unter Vorgabe einer ordnungsgemäßen Dosierung abrechnete. Durch das verordnungswidrige und heimliche Einsparen von Wirkstoffen wollte der Beschwerdeführer den Gewinn der Apotheke steigern, um seinen privaten Finanzbedarf zu decken.
Hierzu stellte die Strafkammer fest, dass in mindestens 14.564 der im Tatzeitraum hergestellten Arzneimittelzubereitungen die tatsächlich enthaltene Wirkstoffmenge von der ärztlich verschriebenen Wirkstoffdosis abwich. Hinsichtlich 66 Zubereitungen, die von der Staatsanwaltschaft vor Auslieferung sichergestellt wurden, konnte der exakte, zu niedrig enthaltene Wirkstoffgehalt ermittelt werden. Im Hinblick auf die weiteren 14.498 bereits ausgelieferten Zubereitungen vermochte das Landgericht die Unterdosierung nur rechenweise festzustellen. Nach Durchführung der Beweisaufnahme stellte das Landgericht 25 Wirkstoffe fest, bei denen die eingekaufte Wirkstoffmenge nicht für die im Tatzeitraum hergestellten Zubereitungen ausreichen konnte. Insgesamt bereitete der Beschwerdeführer im Tatzeitraum 28.285 Arzneimittel - mit (mindestens) einem dieser Wirkstoffe - zu. Hiervon enthielten 14.498 Arzneimittelzubereitungen überhaupt keinen Wirkstoff.
Das Landgericht verurteilte den Beschwerdeführer in allen nachgewiesenen Fällen als Täter. Hierzu stellte die Strafkammer fest, dass der Beschwerdeführer die unterdosierten Zubereitungen ganz überwiegend eigenhändig vornahm, unterdosierte Arzneimittel in Einzelfällen aber auch durch ausgewählte Mitarbeiter hergestellt wurden. Dies geschah „auf Veranlassung oder Anweisung und mit zumindest generellem Wissen und Billigung“ des Beschwerdeführers. Zur Rolle des Beschwerdeführers im Verhältnis zu seinen Mitarbeitern traf die Strafkammer umfangreiche Feststellungen. In welchen Fällen der Beschwerdeführer selbst und in welchen Fällen seine Mitarbeiter handelten, vermochte die Strafkammer allerdings nicht festzustellen. Sie konnte auch nicht aufklären, ob die Veranlassung oder Anweisung ganz allgemein gehalten war oder spezifisch auf einzelne Zubereitungen, einzelne Herstellungstage oder einzelne Wirkstoffe bezogen war.
Zum Vorstellungsbild des Beschwerdeführers stellte die Strafkammer ein zielgerichtetes Vorgehen entsprechend seinem zuvor gefassten Tatplan fest. Der Beschwerdeführer handelte demnach während des Herstellens aller 14.498 Arzneimittelzubereitungen absichtlich in dem Sinne, dass er die Medikamente entweder eigenhändig absichtlich unterdosierte oder seine Mitarbeiter hierzu absichtlich veranlasste oder anwies. Sowohl das Herstellen als auch das Ausliefern der unterdosierten parenteralen Arzneimittel war zu jedem Zeitpunkt von dem Willen getragen, den Gewinn der Apotheke zu maximieren, um seinen luxuriösen Lebensstil zu finanzieren.
In rechtlicher Hinsicht würdigte das Landgericht das Handeln des Beschwerdeführers als vorsätzlichen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz. Im Hinblick auf 14.498 Fälle ging das Landgericht dabei von einer gleichartigen Wahlfeststellung aus. Die gleichartige Wahlfeststellung war nach Ansicht der Strafkammer zulässig, weil das Gericht eine Gesamtzahl von 28.285 Fällen nach Datum sowie Namen und Geburtsdatum des Patienten identifizierte und feststand, dass der Beschwerdeführer - oder in einzelnen Fällen auf seine Veranlassung einer seiner Mitarbeiter - in 14.498 dieser 28.285 Fälle unterdosierte parenterale Arzneimittelzubereitungen herstellte und in Verkehr brachte.
Seine gegen das Urteil des Landgerichts Essen gerichtete Revision verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 10. Juni 2020.
Der Beschwerdeführer wendet sich mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen das Strafurteil des Landgerichts Essen und die Revisionsentscheidung des Bundesgerichtshofs und rügt insbesondere eine Verletzung des Schuldgrundsatzes sowie des „Grundrechts auf Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG“.
1. Der Schuldgrundsatz aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG sei durch die angegriffenen Entscheidungen verletzt. Zum einen habe das Landgericht keine hinreichenden Feststellungen zur Tathandlung getroffen. Denn aus den Entscheidungsgründen gehe nicht hervor, in welchen konkreten Fällen der Beschwerdeführer unterdosierte Zubereitungen hergestellt und ausgeliefert habe und für welche Patienten die Arzneimittel jeweils bestimmt gewesen seien. Zum anderen habe die Strafkammer den Beschwerdeführer allein aufgrund einer unspezifischen Veranlassung, Kenntnis und Billigung von Straftaten nachgeordneter Mitarbeiter als Täter verurteilt. Die Strafkammer habe dabei weder festgestellt, dass der Beschwerdeführer seine Mitarbeiter schuldhaft veranlasst habe, noch, dass er Kenntnis von den Arzneimittelherstellungen seiner Mitarbeiter gehabt habe. Schließlich sei auf Grundlage der Feststellungen eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme nicht möglich, weil ein unspezifisches Veranlassen neben verschiedenen Formen der Täterschaft auch der Anstiftung immanent sei.
2. Zudem liege ein Verstoß gegen das „Grundrecht auf Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung gemäß Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 GG“ vor. Die Strafkammer überschreite die Grenzen der Rechtsprechung zum uneigentlichen Organisationsdelikt. Zum einen habe das Landgericht die Nachweislücken im Zusammenhang mit der Täterschaft nicht durch einen Rückgriff auf die Rechtsprechung zum uneigentlichen Organisationsdelikt schließen dürfen, weil diese eine Zurechnung bereits voraussetze und nicht ermögliche. Zum anderen lägen die Voraussetzungen einer mittelbaren Täterschaft in Gestalt der Organisationsherrschaft nicht vor, weil das Landgericht diesbezüglich keine ausreichenden Feststellungen getroffen habe.
Unabhängig davon würden die angegriffenen Entscheidungen die vom Bundesverfassungsgericht zur ungleichartigen Wahlfeststellung aufgestellten Maßstäbe in verfassungswidriger Weise fortentwickeln. Vorliegend sei eine Wahlfeststellung zwischen den verschiedenen Beteiligungsformen unzulässig gewesen, weil die Sache nur unzureichend aufgeklärt sei und das Landgericht keine Sachverhaltsvarianten zwischen den möglichen Beteiligungsformen gebildet habe.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht erfüllt sind. Grundsätzliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde nicht zu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Es kann dahinstehen, ob sie den Begründungsanforderungen (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG) genügt und damit zulässig erhoben ist. Denn sie ist jedenfalls unbegründet. Die Verurteilung des Beschwerdeführers stellt keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar, und auch eine anderweitige Grundrechtsverletzung ist nicht dargetan oder ersichtlich.
1. a) Das Strafrecht beruht auf dem im Verfassungsrang stehenden Schuldgrundsatz (vgl. BVerfGE 123, 267 <413>; 133, 168 <197 Rn. 53>; 140, 317 <343 Rn. 53>). Der Grundsatz „Keine Strafe ohne Schuld“ setzt die Eigenverantwortung des Menschen voraus, der sein Handeln selbst bestimmt und sich kraft seiner Willensfreiheit zwischen Recht und Unrecht entscheiden kann (vgl. BVerfGE 140, 317 <343 Rn. 54>). Deshalb bestimmt Art. 1 Abs. 1 GG auf dem Gebiet der Strafrechtspflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne (vgl. BVerfGE 95, 96 <140>) sowie den Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt (vgl. BVerfGE 57, 250 <275>; 80, 367 <378>; 90, 145 <173>; 123, 267 <413>; 133, 168 <197 f. Rn. 54>; 140, 317 <343 Rn. 54>). Mit der Strafe wird dem Täter ein sozialethisches Fehlverhalten vorgeworfen (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 110, 1 <13>; 133, 168 <198 Rn. 54>). Das damit verbundene Unwerturteil berührt den Betroffenen in seinem in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch (vgl. BVerfGE 96, 245 <249>; 101, 275 <287>; 140, 317 <343 f. Rn. 54>). Eine solche staatliche Reaktion wäre ohne Feststellung der individuellen Vorwerfbarkeit mit der Garantie der Menschenwürde und dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 95, 96 <140>; 133, 168 <198 Rn. 54>; 140, 317 <344 Rn. 54>).
Der Schuldgrundsatz ist somit zugleich ein zwingendes Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips. Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (vgl. BVerfGE 20, 323 <331>; 133, 168 <198 Rn. 55>; 140, 317 <344 Rn. 55>). Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt (vgl. BVerfGE 95, 96 <130>). Das Rechtsstaatsprinzip umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit (vgl. BVerfGE 7, 89 <92>; 7, 194 <196>; 45, 187 <246>; 74, 129 <152>; 122, 248 <272>) und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate ein (vgl. BVerfGE 84, 90 <121>). Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechtsstaatlichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird (vgl. BVerfGE 95, 96 <130 f.>; 133, 168 <198 Rn. 55>; 140, 317 <344 Rn. 55>). Dieses Prinzip ist durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen sicherzustellen; Tat und Schuld müssen dem Täter prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden (vgl. BVerfGE 9, 167 <169>; 74, 358 <371>; 133, 168 <199 Rn. 56>; 140, 317 <345 Rn. 57>).
Dabei sind die Feststellung strafrechtlicher Schuld und die Auslegung der in Betracht kommenden Vorschriften in erster Linie Sache der Strafgerichte (BVerfGE 95, 96 <141>). Das Bundesverfassungsgericht prüft nur nach, ob dem Schuldgrundsatz überhaupt Rechnung getragen und seine Tragweite bei der Auslegung und Anwendung des Strafrechts grundlegend verkannt worden ist, nicht dagegen, ob die entscheidungserheblichen Gesichtspunkte in jeder Hinsicht zutreffend gewichtet worden sind oder ob eine andere Entscheidung näher gelegen hätte (BVerfGE 95, 96 <141>).
b) Der Beschwerdeführer zeigt eine sich an diesen Maßstäben orientierende Verletzung des Schuldgrundsatzes nicht auf. Das Landgericht hat die Schuld des Beschwerdeführers hinreichend konkret festgestellt. Es hat Feststellungen zum Vorsatz und zur Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers getroffen. Entgegen der Rüge des Beschwerdeführers folgt ein Verstoß gegen den Schuldgrundsatz nicht aus der getroffenen gleichartigen Wahlfeststellung im Hinblick auf die 28.285 Zubereitungen (aa) oder der täterschaftlichen Verurteilung des Beschwerdeführers in den Fällen, in denen die Arzneimittel durch Mitarbeiter zubereitet wurden (bb).
aa) Sowohl die gleichartige Wahlfeststellung an sich als auch deren konkrete Anwendung im vorliegenden Fall sind im Hinblick auf den Schuldgrundsatz verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
(1) Die richterrechtlichen Grundsätze zur gleichartigen Wahlfeststellung sind mit dem Schuldgrundsatz vereinbar. Denn bei der gleichartigen Wahlfeststellung beschränken sich die Zweifel auf den deliktischen Sachverhalt und betreffen - anders als bei der ungleichartigen Wahlfeststellung - nicht auch die Gesetzesanwendung. Bei der gleichartigen Wahlfeststellung steht die schuldhafte Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes zur Überzeugung des Gerichts fest. Unsicher ist allein der Zeitpunkt oder welche von mehreren Handlungen den Erfolg tatsächlich herbeigeführt hat.
Bei solch einer Sachverhaltskonstellation wäre ein Freispruch mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar. Denn die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende Idee materieller Gerechtigkeit verlangt die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zur Sicherung einer am Rechtsgüterschutz orientierten Strafrechtspflege, wenn die Schuld des Angeklagten mit Gewissheit feststeht und sich die Zweifel allein auf Tatsachenfragen beziehen (zur ungleichartigen Wahlfeststellung vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2019 - 2 BvR 167/18 -, Rn. 38, 43).
(2) In verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise fügen sich die angegriffenen Entscheidungen in diese Rechtsprechung ein. Die vom Landgericht vorgenommene gleichartige Wahlfeststellung ist nicht zu beanstanden. Die Strafkammer konnte auch nach Ausschöpfung der Aufklärungsmöglichkeiten nicht sicher feststellen, bei welchen 14.498 der insgesamt 28.285 hergestellten Arzneimittelzubereitungen eine Unterdosierung erfolgte. So steht nur fest, dass und wie viele Unterdosierungen es bei den Zubereitungen mit dem jeweiligen Wirkstoff mindestens gegeben hatte, während offenbleibt, in welchen dieser Fälle tatsächlich unterdosiert worden ist; gleichzeitig ist eine Untersuchung der bereits ausgelieferten Arzneimittel nicht mehr möglich. Das Landgericht hat aber nachvollziehbar für jeden einzelnen Wirkstoff dargelegt, wie viele Herstellungen der Beschwerdeführer im günstigsten Fall, das heißt bei einer Dosierung von 80 % der verschriebenen Wirkstoffmenge, ausreichend dosieren konnte. Die vorliegende Wahlfeststellung hält sich innerhalb der Grenzen des § 264 StPO. Zu den 28.285 Arzneimittelzubereitungen hat das Landgericht hinreichende Feststellungen getroffen, um die abgeurteilten Fälle ohne Schwierigkeiten von anderen Lebenssachverhalten abzugrenzen. Insbesondere hat das Landgericht neben dem Tatzeitraum auch konkrete Feststellungen zu den Herstellungs-, Dosierungs- und Patientendaten getroffen, sodass die Gefahr einer Mehrfachverfolgung ausgeschlossen ist.
Soweit der Beschwerdeführer beanstandet, das Landgericht habe die jeweilige Tatbegehung nicht hinreichend konkret beschrieben - insbesondere nicht festgestellt, in welchen Fällen der Beschwerdeführer unterdosierte Zubereitungen hergestellt und ausgeliefert habe und für welche Patienten diese jeweils bestimmt gewesen seien -, verkennt er die Voraussetzungen und Rechtsfolgen der gleichartigen Wahlfeststellung. Nach den Grundsätzen der gleichartigen Wahlfeststellung ist eine eindeutige Verurteilung auf wahldeutiger Grundlage nicht nur möglich, sondern auch geboten, wenn deren Voraussetzungen vorliegen. Dass die festgestellte Tatsachengrundlage Lücken aufweist, ist der gleichartigen Wahlfeststellung nicht nur immanent, sondern vorausgesetzt. Dies gilt auch für die beanstandeten Tatsachenunsicherheiten, insbesondere für die Feststellungen, in welchen Fällen der Beschwerdeführer unterdosierte Medikamente herstellte und auslieferte und für welche Patienten diese jeweils bestimmt waren.
bb) Die Verurteilung des Beschwerdeführers als Täter auch in den Fällen, in denen die Medikamente nicht durch ihn selbst, sondern nach seinen Vorgaben durch Mitarbeiter hergestellt wurden, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Grundrechtsverletzung ist auf Grundlage des Beschwerdevortrags nicht erkennbar.
Mit der allgemein gehaltenen Behauptung, die Strafkammer habe ihn allein deswegen als Täter verurteilt, weil er seine Mitarbeiter zu den Unterdosierungen unspezifisch veranlasste, verkennt der Beschwerdeführer die tragenden Gründe der angegriffenen Entscheidungen. Anders als der Beschwerdeführer meint, hat das Landgericht keinen neuen, von der Schuld entkoppelten Zurechnungsgrund geschaffen, sondern ist in einer Gesamtschau zahlreicher Umstände zu einer täterschaftlichen Verurteilung gelangt. Die Strafkammer hat die zur Begründung der mittelbaren Täterschaft in Gestalt der Organisationsherrschaft erforderlichen Tatsachen festgestellt. Sie schloss hierauf nicht bloß aufgrund einer unspezifischen Veranlassung, sondern einer Gesamtschau zahlreicher Umstände, insbesondere der Labororganisation, Wirkstoffbeschaffung, Personalauswahl, Arbeitsorganisation und Mitarbeiterkontrolle. Ob das Landgericht dabei die entscheidungserheblichen Umstände in jeder Hinsicht zutreffend gewichtet hat, ist der verfassungsrechtlichen Prüfung entzogen.
Dass die Strafkammer keine weitergehenden Feststellungen zu der konkreten Veranlassung oder Anweisung getroffen hat, begegnet im Hinblick auf den Schuldgrundsatz keinen Bedenken. Denn das Landgericht hat auch unabhängig davon ausreichende Feststellungen getroffen, beispielsweise zur organisatorischen Hoheit und dem Motiv des Beschwerdeführers; beides lässt in hinreichendem Maße auf eine vom Täterwillen getragene Tatherrschaft schließen. Vor diesem Hintergrund geht schließlich auch die Rüge fehl, auf Grundlage der Feststellungen sei eine Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme nicht möglich. Denn hiermit verkennt der Beschwerdeführer sowohl die Feststellungen zur Tatherrschaft als auch jene zum Täterwillen. Der Beschwerdeführer hat schon nicht aufgezeigt, inwiefern vor diesem Hintergrund eine bloße Teilnahme möglich erscheinen soll. Es fehlt jede Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme. Die pauschale Behauptung, auch bei der Anstiftung komme es zu der Veranlassung eines Dritten, zeigt keine Grundrechtsverletzung auf.
Einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz legt der Beschwerdeführer auch im Übrigen nicht dar. Soweit der Beschwerdeführer behauptet, das Landgericht habe nicht ausreichend festgestellt, ob der Beschwerdeführer vorsätzlich und schuldhaft gehandelt habe, weil Mitarbeiter auch ohne sein Wissen Unterdosierungen hätten herstellen können, gehen diese Ausführungen an den Feststellungen der Strafkammer vorbei. Denn das Landgericht hat nicht nur ausdrücklich festgestellt, dass der Beschwerdeführer die unterdosierten Herstellungen der Mitarbeiter kannte und billigte, sondern auch, dass er seine Mitarbeiter absichtlich zu entsprechenden Unterdosierungen veranlasste oder anwies. Gleichzeitig schloss die Strafkammer ausdrücklich aus, dass Mitarbeiter eigenständig, also ohne Veranlassung, Kenntnis oder Billigung von ihm, unterdosierte Zubereitungen herstellten.
2. Die angegriffenen Entscheidungen halten sich auch im Rahmen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung und verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG.
a) Zwar sind der anerkannten Befugnis der Gerichte zur Fortbildung des Rechts mit Rücksicht auf die Wertentscheidungen des Grundgesetzes, hier vornehmlich der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, sowie den Grundsatz der Gesetzesbindung Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE 74, 129 <152>; 111, 54 <82>). Richterliche Rechtsfortbildung darf nicht dazu führen, dass der Richter seine eigene materielle Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzt (vgl. BVerfGE 82, 6 <12>; 128, 193 <210>; 132, 99 <127 Rn. 75>). Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder - bei Vorliegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke - stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (vgl. BVerfGE 118, 212 <243>; 122, 248 <258>; 128, 193 <210>; 134, 204 <238 Rn. 115>).
b) Der Beschwerdeführer hat einen hiergegen gerichteten Verstoß nicht aufgezeigt. Die angegriffenen Entscheidungen wahren die verfassungsrechtlichen Schranken richterlicher Rechtsfortbildung. Weder hat der Beschwerdeführer dargelegt noch ist sonst erkennbar, dass die Fachgerichte in die Kompetenzen des Gesetzgebers eingegriffen hätten. Vorliegend beschränkt sich der Beschwerdevortrag auf die schlichte Behauptung, die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung seien überschritten, ohne dies in der Sache zu begründen. Die Begründung erschöpft sich in umfangreichen Ausführungen zum vermeintlichen Abweichen der angegriffenen Entscheidungen von der bestehenden Rechtsprechung. Hierzu wiederholt der Beschwerdeführer im Wesentlichen den Vortrag zum Schuldgrundsatz. Inwiefern die Strafgerichte eigene Gerechtigkeitsvorstellungen an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers gesetzt und den klaren Wortlaut hinantgestellt haben sollen, lässt der Beschwerdeführer unbeantwortet. Er setzt sich weder mit den maßgeblichen Normen noch deren Entstehungsgeschichte auseinander.
Vor diesem Hintergrund zeigt der Beschwerdeführer auch keine Grundrechtsverletzung auf, wenn er vorbringt, die Voraussetzungen der mittelbaren Täterschaft in Gestalt der Organisationsherrschaft lägen nicht vor. Gleiches gilt für die Behauptung, dass die vom Bundesverfassungsgericht zur ungleichartigen Wahlfeststellung aufgestellten Maßstäbe einer Verurteilung entgegenstünden. Denn in beiden Fällen rügt der Beschwerdeführer nicht, dass die fachgerichtliche Auslegung die Gewaltenteilung verletze und unzulässig in den Kompetenzbereich des Gesetzgebers eingreife, sondern, dass die Auslegung der Fachgerichte von der bisherigen Rechtsprechung unzulässig abweiche.
3. Soweit der Beschwerdeführer in der Sache einen Verstoß gegen das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG rügt, ist eine Grundrechtsverletzung ebenfalls nicht ersichtlich.
a) Art. 103 Abs. 2 GG gewährleistet, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Die Bedeutung dieser Verfassungsnorm erschöpft sich nicht im Verbot der gewohnheitsrechtlichen oder rückwirkenden Strafbegründung. Art. 103 Abs. 2 GG enthält für die Gesetzgebung ein striktes Bestimmtheitsgebot sowie ein damit korrespondierendes, an die Rechtsprechung gerichtetes Verbot strafbegründender Analogie (stRspr; vgl. BVerfGE 75, 329 <340>; 126, 170 <194>; 130, 1 <43>). Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren technischen Sinn zu verstehen; ausgeschlossen ist vielmehr jede Rechtsanwendung, die - tatbestandsausweitend - über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht (stRspr; vgl. BVerfGE 92, 1 <12>; 126, 170 <197>; 130, 1 <43>).
Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen kann immer nur der Gesetzestext sein. Somit erweist sich dieser als maßgebendes Kriterium. Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation. Da Art. 103 Abs. 2 GG die Vorhersehbarkeit der Strafandrohung für den Normadressaten garantieren will, ist die Wortlautgrenze aus dessen Sicht zu bestimmen (stRspr; vgl. BVerfGE 92, 1 <12>; 126, 170 <197>; 130, 1 <43>). Den Strafgerichten ist es mithin nicht erlaubt, eine Strafbestimmung über ihren eindeutigen, einer Auslegung nicht zugänglichen Wortlaut hinaus allein im Blick auf den Normzweck anzuwenden; dies verstieße gegen das in Art. 103 Abs. 2 GG festgeschriebene Analogieverbot im Strafrecht (vgl. BVerfGE 26, 41 <42>; 47, 109 <121, 124>). Nicht verwehrt ist den Strafgerichten hingegen eine weite - seine Grenze aber keinesfalls überschreitende - Auslegung des Wortlauts einer Strafbestimmung. Gerade wenn der Normzweck eindeutig und offensichtlich ist, kann eine daran orientierte weite Auslegung des Wortsinns geboten sein, denn unter dieser Voraussetzung kann der Normadressat das strafrechtlich Verbotene seines Handelns vorhersehen, was zu gewährleisten Sinn des Art. 103 Abs. 2 GG ist (vgl. BVerfGE 28, 175 <183>; 48, 48 <56>; 57, 250 <262>).
b) Eine sich an diesen Maßstäben orientierende Rechtsverletzung hat der Beschwerdeführer nicht dargetan.
aa) Die Auslegung des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB durch die Fachgerichte begegnet nach den vorstehenden Maßstäben keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die Rügen des Beschwerdeführers gehen allesamt von der unzutreffenden Prämisse aus, das Landgericht habe die Täterschaft allein aufgrund einer unspezifischen Veranlassung angenommen. Eine belastbare Auseinandersetzung mit den getroffenen Feststellungen lässt der Beschwerdevortrag vermissen. Dies gilt auch für die Behauptung, das Landgericht habe die Zurechnung ohne Weiteres nach den konkurrenzrechtlichen Grundsätzen des uneigentlichen Organisationsdelikts vorgenommen. Auch hier lässt der Beschwerdeführer den Kontext und die umfangreichen Feststellungen zum Verhältnis zwischen ihm und seinen Mitarbeitern unberücksichtigt.
bb) Die Annahme einer Wahlfeststellung verletzt den Beschwerdeführer nicht in Art. 103 Abs. 2 GG. Die hierin verbürgten Garantien werden durch die Grundsätze der Wahlfeststellung nicht berührt, weil die Grundsätze der Wahlfeststellung nicht strafbarkeitsbegründend wirken (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2019 - 2 BvR 167/18 -, Rn. 28 ff.). Die Regeln greifen nicht korrigierend in die Entscheidung des Gesetzgebers über strafwürdiges Verhalten ein; sie bestimmen nicht - über den Inhalt gesetzlicher Strafnormen hinausgehend - die Voraussetzungen, unter denen ein bestimmtes Verhalten als strafbar anzusehen ist (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 5. Juli 2019 - 2 BvR 167/18 -, Rn. 29). Das Rechtsinstitut der Wahlfeststellung kommt vielmehr in einer bestimmten prozessualen Lage zur Anwendung, wenn nach abgeschlossener Beweiswürdigung zwar über den konkreten Geschehensablauf Zweifel bestehen, aber sicher feststeht, dass sich der Angeklagte - nach einem bestimmten oder einem von mehreren bestimmten Tatbeständen - strafbar gemacht hat.
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1081
Bearbeiter: Holger Mann