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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2023
24. Jahrgang
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Anmerkung zu BGH HRRS 2023 Nr. 650 (in diesem Heft)
Von RA Torben Gravenhorst, Köln[*]
I. Die Besprechungsentscheidung betrifft das Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) und dem Beschleunigungsgebot.[1] Diese sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen.[2] Die konkreten Maßstäbe sind dunkel.[3] Ersteres gebietet, die Hauptverhandlung zu unterbrechen und abzuwarten, ob sie noch fristgemäß unter Beteiligung des ursprünglich vorgesehenen Spruchkörpers fortgesetzt werden kann; Letzteres lässt es sachgerecht erscheinen, die Verhinderung des erkrankten Richters baldmöglichst festzustellen und die Hauptverhandlung mit dem Ergänzungsrichter fortzuführen.[4]
II. Die Besprechungsentscheidung erhellt das Spannungsverhältnis nicht vollständig. Das Prinzip des gesetzlichen Richters wird prinzipiell gestärkt, wenn die Urteilsfindung weiterhin den Richtern obliegt, die nach den geschäftsplanmäßigen Regelungen ursprünglich dazu berufen waren.[5] Ein allgemeiner Vorrang des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen vor dem Prinzip des gesetzlichen Richters besteht nicht.[6] Jedoch ist dem BGH im Ergebnis zuzustimmen, soweit er im Entscheidungsfall dem Beschleunigungsgrundsatz Vorrang einräumt. Von besonderem Gewicht ist, dass sich die Angeklagten im Zeitpunkt der Entscheidung ungefähr 10 Monate in Untersuchungshaft befanden. Dies streitet dafür, die bereits terminierte Zeugenvernehmung mit einer Ergänzungsschöffin durchzuführen.
III. Nicht überzeugend ist hingegen das (Hilfs-)Argument des BGH, eine dauerhafte und kontinuierliche Teilnahme der gesundheitlich angeschlagenen Schöffin sei – über die attestierte Arbeitsunfähigkeit hinaus – nicht sicher. Zwar hat der Vorsitzende bei der Feststellung der Verhinderung ein Ermessen.[7] Eine solche Prognose ist vor dem Hintergrund des Prinzips des gesetzlichen Richters allerdings medizinisch fundiert abzusichern und lässt sich nicht auf die telefonische Mitteilung der Schöffin stützen.[8]
IV. § 229 Abs. 3 StPO schränkt – was der BGH offen ließ – auch nach der Ausdehnung der Hemmung von sechs Wochen auf zwei Monate[9] das Ermessen des Vorsitzenden ein. Unschädlich ist, dass die Gesetzesbegründung – auch in Kenntnis der Rechtsprechung 3. Senats[10] – keinen ausdrücklichen Konnex zwischen der Verlängerung der Hemmungsfrist und dem Zeitpunkt der Feststellung der Verhinderung herstellt. Einen solchen (ausdrücklichen) Verweis enthielt auch die damalige Neuregelung nicht.[11] Indes sollte hierdurch die von § 192 GVG vorgesehene Möglichkeit der Bestellung von Ergänzungsrichtern und -schöffen auf die vom Gesetz vorgesehenen Ausnahmefälle
beschränkt werden.[12] Eine durch die Hemmung hervorgerufene Verzögerung sei hinnehmbar.[13] Dies gilt auch nach der Reform. Auch eine Hemmung von zwei Monaten sei mit Blick auf die Verfahrensziele gerechtfertigt.[14] Die Frage ist indes primär theoretischer Natur. Bei fortwährender Überlastung der Gerichte sind Verfahrenssituationen wie in der Besprechungsentscheidung "alltäglich". Dies führt zu einer strukturellen Schwächung des Prinzips des gesetzlichen Richters.
V. Der Zeitpunkt eines (zulässigen) Richterwechsels ist über die Entscheidungskonstellation der Krankheit hinaus insbesondere dann relevant, wenn ein Verfahren absehbar bis zu einer in mehreren Monaten anstehenden Geburt des Kindes einer schwangeren (Berufs-)Richterin nicht abgeschlossen werden kann.[15] Hier ist der Weg über § 192 Abs. 2 GVG (vorerst) versperrt. Die bisherigen Entscheidungen betrafen Fälle, in denen nicht die Verhinderung – jeweils durch Erkrankung – als Voraussetzung für den Eintritt eines Ergänzungsrichters fraglich war, sondern ihre Dauer.[16] Anders liegt es im Fall einer erkennbar schwangeren Richterin. Im Gegensatz zum Entscheidungsfall ist nicht die Dauer der Verhinderung fraglich, sondern wann (genau) diese eintritt, mithin wann die Richterin nicht (mehr) in der Lage ist, ihre Tätigkeit auszuüben. Es geht um die Bestimmung des Verhinderungsfalles selbst. Wird bspw. einen Monat nach Verfahrensbeginn eine Schwangerschaft offenbar, liegt (noch) kein Fall der Verhinderung vor.[17] Diese tritt regelmäßig erst mit der Entbindung oder dem vorgeburtlichen Mutterschutz ein.[18] Nimmt die Schwangere keinen Mutterschutz in Anspruch, besteht für einen vorzeitigen Eingriff weder eine Rechtsgrundlage noch ein hinreichend objektivierbarer Zeitpunkt.
[*] Der Verfasser Torben Gravenhorst arbeitet als Rechtsanwalt bei Streck Mack Schwedhelm in Köln.
[1] Vgl. hierzu Kulhanek, in: MüKo-StPO, 2018, § 192 GVG Rn. 8.
[2] Vgl. BVerfG, NJW 2005, 2689, 2690; NJW 2009, 1734, 1734 f. = HRRS 2009 Nr. 552; diesem folgend: BGH, NJW 2010, 625, 625 f. = HRRS 2009 Nr. 530; NStZ 2014, 287, 288 = HRRS 2014 Nr. 178; jeweils zur nachträglichen Änderung der Geschäftsverteilung.
[3] Vgl. Ventzke NStZ 2016, 558, 560.
[4] Vgl. BGHSt 61, 160, 162 = HRRS 2016 Nr. 545.
[5] BGHSt 61, 160, 162 = HRRS 2016 Nr. 545.
[6] BVerfG, NJW 2005, 2689, 2690; NJW 2009, 1734, 1734 f. = HRRS 2009 Nr. 552.
[7] Schmitt , in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl., 2023, § 192 GVG Rn. 7 mwN.
[8] Vgl. Ventzke NStZ 2016, 558, 559.
[9] BT-Drucks. 19/14747, S. 32 f.
[10] BGHSt 61, 160, 162 = HRRS 2016 Nr. 545.
[12] BT-Drucks. 15/1508, 25.
[13] BGHSt 61, 160, 162 ff = HRRS 2016 Nr. 545.
[14] BT-Drucks. 19/14747, S. 32.
[15] Zum gesetzlichen Richter und Mutterschutz: Norouzi, in: FS von Heintschel-Heinegg, 2015, 349, 349 ff.
[16] BGH, NStZ 1986, 518; BGHSt 61, 160 = HRRS 2016 Nr. 545; BGH, NStZ 2019, 359 = HRRS 2018 Nr. 1131; StV 2021, 807 = HRRS 2021 Nr. 319.
[17] Gegen einen Gleichlauf von Mutterschutz und Krankheit bereits Norouzi, in: FS von Heintschel-Heinegg, 2015, S. 349 (356 f.).
[18] Zu Letzterem BGH, NStZ 2021, 434 m. Anm. Gravenhorst = HRRS 2021 Nr. 320.