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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2023
24. Jahrgang
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Von Prof. Dr. Erol Pohlreich, Frankfurt (Oder) [*]
§ 362 Nr. 5 StPO ist verfassungswidrig.[1] Die Vorschrift verletzt das Mehrfachverfolgungsverbot[2] aus Art. 103 Abs. 3 GG (I.) und, soweit sie auch Fälle erfasst, in denen Freisprüche vor Inkrafttreten von § 362 Nr. 5 StPO in Rechtskraft erwachsen sind, das im allgemeinen Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Rückwirkungsverbot aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG (II.).
Art. 103 Abs. 3 GG trägt den Beeinträchtigungen und Grundrechtseingriffen jedes im Strafverfahren Angeklagten Rechnung. Dass der Angeklagte sie zu erdulden hat, kann ihm nur dann abverlangt werden, wenn mit dem Strafverfahren untrennbar das Versprechen der Rechtsgemeinschaft verknüpft ist, den Angeklagten nach Eintritt der Rechtskraft nicht nur für die nächste Zeit, sondern auf immer in Ruhe zu lassen.[3] Art. 103 Abs. 3 GG verbürgt die Einmaligkeit des Strafverfahrens mithin als Kompensation für die mit einem solchen Verfahren typischerweise verbundenen Belastungen für Beschuldigte[4] und beschränkt sie auf diese Weise auf das unbedingt Notwendige.[5] Dass der gegen den Einzelnen in Gestalt der Anklage erhobene Verdacht mit Eintritt der Rechtskraft nach einem früheren Verfahren, das der Angeklagte zu dulden hatte, ein für alle Mal erledigt ist, ist mithin kein Preis, den man um der Rechtssicherheit willen zahlen muss, sondern vielmehr der Preis, den man dafür zahlen muss, überhaupt das frühere Verfahren durchzuführen.[6]
Die angegriffene Regelung missachtet den hinter Art. 103 Abs. 3 GG stehenden Schutzzweck, einen Ausgleich für die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen für Beschuldigte auszugleichen. Diese Belastungen wurden im Gesetzgebungsverfahren nicht annähernd in Ansatz gebracht. Da sie aber für das Verständnis des Verfassungssatzes wichtig sind, sollen sie hier zumindest skizziert werden.[7]
Bis hin zur klinischen Depression[8] belastet jeden Beschuldigten zunächst einmal die Ungewissheit des Verfahrensausgangs. Neben dem entehrenden[9] Schuldspruch ist mit der Strafe das schärfste Schwert des Staates und damit einer der invasivsten Grundrechtseingriffe unserer Rechtsordnung zu befürchten. Darüber hinaus ist eine Verurteilung nicht selten mit mittelbaren rechtlichen Folgen, die
über die eigentliche Sanktion hinausgehen, verbunden - man denke etwa an die Folgen für Beamte und die, die es werden wollen, an die Erbunwürdigkeit nach § 2339 BGB oder aufenthaltsrechtliche Konsequenzen wie eine Ausweisung oder Abschiebung. Aber auch soziale Nachteile stehen auf dem Spiel beziehungsweise gehen nicht selten schon mit dem bloßen Verfahren einher. Selbst die Unschuldsvermutung vermag Beschuldigte nicht davor zu bewahren, im Familiären und sonst Privaten zunehmend stigmatisiert, ausgegrenzt und isoliert zu werden. Dasselbe gilt für die berufliche und wirtschaftliche Entwicklung von Beschuldigten, die das Recht als Arbeitnehmer kaum vor Verdachtskündigungen schützt.[10]
Das Verfahren selbst belastet Beschuldigte zunächst auch durch verfahrenssichernde Zwangsmaßnahmen wie die Untersuchungshaft,[11] deren besondere Eingriffsintensität sich unter anderem darin manifestiert, dass in Deutschland die Suizidrate von Untersuchungsgefangenen fünfmal so hoch ist wie die von Strafgefangenen.[12] Die Dauer der Untersuchungshaft bildet eine Lücke im Lebenslauf, die die Chancen auf dem Arbeitsmarkt schmälert, bei älteren Beschuldigten mitunter ganz beseitigt. Die mit einem Strafverfahren verbundenen wirtschaftlichen Belastungen kompensiert das geltende Recht nur sehr zurückhaltend. Die Kosten für die Verteidigung werden im Fall eines Freispruchs nur im Rahmen der notwendigen Auslagen erstattet, §§ 497 f. StPO. Die Entschädigung für die Strafverfolgung als solche nach dem StrEG ist mühsam,[13] nur auf Leistung in Geld gerichtet[14] und hinsichtlich des immateriellen Schadens auf eine Pauschale in Höhe von gerade einmal 75 € für jeden Tag der Freiheitsentziehung limitiert (§ 7 Abs. 3 StrEG). Hinzukommt, dass ein Freigesprochener keinen Anspruch darauf hat, so gestellt zu werden, wie er vor dem Verfahren stand oder ohne das Verfahren jetzt stehen würde.[15] Zu guter Letzt belastet das Verfahren selbst, weil in der Hauptverhandlung - sogar bei Ausschluss der Öffentlichkeit - mitunter Gegenstände der Intimsphäre in Gegenwart vieler Verfahrensbeteiligter - Mitglieder des Gerichts, Sitzungsvertretung der Staatsanwaltsanwaltschaft, Verteidigung, Zeugenpersonen, Sicherheitskräfte der Justiz, Sachverständige, Nebenkläger und deren Vertretung etc. - verhandelt werden, ohne dass sich die zur Anwesenheit verpflichteten Beschuldigten (§§ 230 f. StPO) dem entziehen könnte.
Diese Belastungen waren schon immer hoch. Im Zeitalter medialer Berichterstattung und in den sozialen Medien haben sie gewiss nicht abgenommen.
In Fällen des § 362 Nr. 5 StPO sind die Belastungen noch deutlich härter. Weil die Öffentlichkeit ein besonderes Interesse an einer individualisierenden und identifizierenden[16] Berichterstattung gerade über Schwerkriminalität - und damit über alle von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte - hat,[17] müssen die von einer Wiederaufnahme nach dieser Vorschrift Betroffenen mit einer (erneuten) Berichterstattung über sie rechnen. Vor allem aber muss jeder Freigesprochene in den Fällen des § 362 Nr. 5 StPO mit - typischerweise erneuter[18] - Untersuchungshaft rechnen. Für den Fall, dass das Verfahren wegen des Verdachts des Mordes nach § 211 StGB oder des Völkermords nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB wiederaufgenommen wird, ergibt sich dies aus § 112 Abs. 3 StPO. So befanden sich im Jahr 2020 von den insgesamt 176 wegen vollendeten Mordes Abgeurteilten insgesamt 153 in Untersuchungshaft; 73 von ihnen hatten sich zum Urteilszeitpunkt länger als ein Jahr in Untersuchungshaft befunden.[19] Für die übrigen völkerstrafrechtlichen Tatbestände, auf die § 362 Nr. 5 StPO verweist, wird üblicherweise zumindest der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO anzunehmen sein. Im Jahr 2020 befanden sich fünf von fünf insgesamt wegen Straftaten nach dem VStGB abgeurteilten Personen in Untersuchungshaft, und zwar vier von ihnen länger als ein Jahr.[20]
Vor allem aber sieht sich jeder im Strafverfahren Angeklagte einer Staatsanwaltschaft gegenüber, die, anders als er, über einen Wissensvorsprung, über hoheitliche Eingriffsbefugnisse und insbesondere über einen Apparat mit erheblichen sachlichen und personellen Mitteln für weitreichende Ermittlungen verfügt.[21] Die deutlich bessere Ausgangslage der Staatsanwaltschaft ist zwar eine dem Strafverfahrensrecht immanente Notwendigkeit, weswegen auch von Verfassungs wegen im Grundsatz nichts dagegen zu erinnern ist, dass Staatsanwaltschaft und
Verteidigung durchaus nicht mit gleichen Waffen kämpfen.[22] Ungeachtet solcher strukturellen Asymmetrien im Strafprozess von Waffengleichheit zu sprechen, hat aber erst dann seine Berechtigung, wenn jedem Angeklagten nachteilskompensierende Rechte an die Hand gegeben werden. Waffengleichheit im Strafverfahren setzt daher voraus, verfahrensspezifische Unterschiede zwischen der Staatsanwaltschaft und den Angeklagten auszugleichen.[23] Diese den Angeklagten zum Ausgleich vermittelten Rechte erschöpfen sich dabei allerdings nicht in solchen, die sie im laufenden Verfahren haben, wie etwa das Schweigerecht oder das Recht auf effektive Verteidigung. Vielmehr ist auch die Günstigstellung von Angeklagten im Wiederaufnahmerecht dazu bestimmt, das Übergewicht der Anklagebehörde im Prozess auszugleichen.[24] Von daher gilt auch im Recht der Wiederaufnahme ein Abstandsgebot in dem Sinne, dass die ungünstige Wiederaufnahme wesentlich höheren Voraussetzungen unterliegen muss als die günstige.
Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied des reformierten Strafprozesses zum Inquisitionsverfahren des gemeinen Rechts. Letzteres räumte der materiellen Gerechtigkeit Vorrang gegenüber der Rechtskraft ein, die dort eher als Fremdkörper erscheint,[25] indem es mit dem Institut der Lossprechung von der Instanz ("absolutio ab instantia") ermöglichte, dass Strafverfahren aus Mangel an Beweisen nur vorläufig beendet und dann fortgesetzt werden konnten, wenn neue verdachtsbegründende Tatsachen oder Beweise bekannt wurden.[26] Mit der Reichsstrafprozessordnung verzichtete der Gesetzgeber bewusst auf das Institut und die Zulassung von neuen Tatsachen und Beweisen als ungünstigen Wiederaufnahmegrund, weil sich zum einen mit den nun gewährleisteten "schützenden Formen" der Rechtskraftgedanke durchsetzt und weil zum anderen nunmehr die Staatsanwaltschaft als "Herrin des Ermittlungsverfahrens" konzipiert und damit berufen ist, ein einmal aufgenommenes Ermittlungsverfahren bei unsicherer Beweislage nach § 170 Abs. 2 StPO vorläufig einzustellen und bei veränderter Beweislage fortzuführen.[27] Die Vorstellung, dass neue Tatsachen oder Beweismittel keine ungünstige Wiederaufnahme tragen dürfen, ist also mit alldem aufs Engste verwoben. Denn angesichts der im Vergleich mit der des Angeklagten deutlich günstigeren Ausgangslage der Staatsanwaltschaft darf erwartet werden, dass sie "alle zur Verfügung stehenden Ermittlungsmaßnahmen ergreift und die Ermittlungen sorgfältig und vollständig führt. Es ist ein durchaus richtiger Gedanke, daß die Gefahr einer schlechteren Ermittlungstätigkeit entstehen würde, wenn auch zuungunsten des Angeklagten bei jeder neuen Tatsache oder jedem neuen Beweismittel die Wiederaufnahme zulässig wäre."[28] Den vorstehend skizzierten Schutzzweck von Art. 103 Abs. 3 GG missachtet die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Neuregelung in gravierender Weise.
Dass der Gesetzgeber die ungünstige Wiederaufnahme nicht um den Grund neuer Tatsachen oder Beweise erweitern durfte, folgt auch aus dem historischen Hintergrund der Verfassungsgarantie. Die grundgesetzlichen Garantien betreffend die Strafrechtspflege verstehen sich als Reaktion darauf, dass die Nationalsozialisten die Strafrechtspflege in den Dienst ihrer Herrschaftsausübung und -sicherung stellten.[29] Es ging den Müttern und Vätern des Grundgesetzes also darum, die Justiz in einer Weise zu binden und zu schützen, die es verhindert, dass sie für justizfremde Zwecke missbraucht werden kann:
"Eine unabhängige, unpolitische und rein sachlich eingestellte Rechtspflege ist ein besonders wichtiges Erfordernis und zugleich eine unentbehrliche Bürgschaft des Rechtsstaats. Auf diesem Gebiet hat das nationalsozialistische Regime ein großes Vertrauenskapital zerstört. Die schon in den Länderverfassungen in Angriff genommene Aufgabe, hier von Grund aus aufzubauen, muß im Grundgesetz fortgesetzt werden. Zum Teil handelt es sich darum, alte bewährte Grundsätze[…]wieder zu Ehren kommen zu lassen, zum Teil darum, neue Formulierungen zu finden, um früher unbekannten, in der nationalsozialistischen Zeit eingerissenen Mißbräuchen für die Zukunft den Boden zu entziehen (Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen, Anspruch auf rechtliches Gehör, Recht auf einen Verteidiger, ne bis in idem)."[30]
Von daher lässt sich für die Annahme eines weiten gesetzgeberischen Spielraums bei der Erweiterung des § 362 StPO nicht ins Feld führen, dass heutzutage keine Entmachtung der Justiz durch die politische Führung, wie sie im Nationalsozialismus vollzogen wurde, zu befürchten sei.[31] Die Grundrechte des Grundgesetzes stehen nicht unter dem Vorbehalt einer realen Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung, sondern haben umgekehrt erst die Ordnung geschaffen, unter der ein Missbrauch nicht mehr konkret zu befürchten ist. Deshalb kann die derzeitige gesellschaftliche Ordnung gerade nicht zu einer Verkürzung des Schutzgehalts von Grundrechten herhalten.
Die Beratungen im Parlamentarischen Rat exemplifizieren die Missbräuche aus nationalsozialistischer Zeit, deren Wiederholung Art. 103 Abs. 3 GG verhüten soll. Dort war das schlagende Argument für die Aufnahme der Garantie in das Grundgesetz, dass "die Rechtsprechung der
Nazizeit eine Ergänzungsmöglichkeit des Urteils entwickelt hat. Wenn beispielsweise jemand wegen einfachen Landfriedensbruchs bestraft war, aber tatsächlich schweren Landfriedensbruch begangen hat, konnte das Urteil ergänzt werden. Das bedeutet eine Durchbrechung des Grundsatzes der materiellen Rechtskraft."[32] Hieraus zu folgern, Art. 103 Abs. 3 GG solle im Kern gewährleisten, dass der Staat missliebige Urteile nicht austauschen dürfe,[33] wäre freilich zu kurz gegriffen, weil dies den Verständnishorizont der Mitglieder des Parlamentarischen Rates ausblendet, denen die von ihnen noch untechnisch als "Ergänzungsmöglichkeit" bezeichneten Missbräuche der Nationalsozialisten jedenfalls der Sache nach bestens bekannt waren. Ihnen muss bewusst gewesen sein, dass die Nationalsozialisten jedenfalls nach ihrem eigenen Verständnis durchaus nicht nach Belieben missliebige Strafurteile austauschen wollten.
Die nationalsozialistische Abkehr vom Satz "nulla poena sine lege" bei gleichzeitiger Hinwendung zum dictum "nullum crimen sine poena"[34] verlangte mit Sicht auf das Mehrfachverfolgungsverbot Beschränkungen, weil die Nationalsozialisten hierin eine bloß zeitgebundene, nunmehr überholte Entscheidung sahen, die es zu überwinden galt, wo die materielle Gerechtigkeit es verlangte.[35] Dementsprechend begann der Volksgerichtshof im Jahr 1938, den Grundsatz ne bis in idem im Fall eines wegen eines Passvergehens rechtskräftig Verurteilten auszuhöhlen, indem er praeter legem eine ungünstige Wiederaufnahme wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen zuließ, die auf einen Landesverrat hindeuteten. Allerdings sollte diese Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem zum Wohle der materiellen Gerechtigkeit nicht grenzenlos zu verstehen sein. Vielmehr kommen in der Argumentation des Volksgerichtshofs der materiellen Gerechtigkeit und der besonderen Schwere des aufgrund neuer Tatsachen bekannt gewordenen Verbrechens zentrale Bedeutung zu:
"Das Ergebnis würde sonst sein, daß der Angeklagte, der sich des nach nationalsozialistischer Rechtsauffassung schwersten Verbrechens am Deutschen Volke schuldig gemacht hat, nur wegen einer allerdings im Zusammenhang mit diesem Verbrechen stehenden, aber an sich nebensächlichen Straftat eine im Verhältnis zu seiner gesamten verbrecherischen Tätigkeit völlig geringfügige Strafe erleiden, daß aber das eigentlich schwere Verbrechen keine Sühne finden würde. Dieses Ergebnis ist widersinnig und schlägt jedem gesunden Volksempfinden und dem Interesse des Staates, schwerste Verbrechen gegen seine und des Volkes Sicherheit entsprechend zu bestrafen, ins Gesicht. Der Schutz des Staates und des Volkes geht der Anwendung von Verfahrensgrundsätzen vor, wenn diese in ihrer letzten Folge zum Widersinne führen."[36]
Die Einschränkung des Grundsatzes ne bis in idem verstand der Volksgerichtshof mithin nicht so, als würden neue Tatsachen oder Beweise ohne weiteres die Durchbrechung der Rechtskraft zuungunsten des Abgeurteilten erlauben, sondern nur bei einem krassen Auseinanderklaffen des früheren Urteilsspruchs mit dem nun höchstwahrscheinlichen.
Weitere Angriffe auf die Rechtskraft waren neben der Einführung des außerordentlichen Einspruchs, mit dem ab 1939 Oberreichsanwälte binnen Jahresfrist sonst unanfechtbare Urteile "wegen schwerwiegender Bedenken gegen[ihre]Richtigkeit" einer rückwirkenden Korrektur zuführen lassen konnten,[37] und der zunächst auf "ungerechte" Rechtsfehler beschränkten,[38] ab 1942 aber um Angriffe gegen die Tatsachenfeststellungen und den Strafausspruch erweiterten Nichtigkeitsbeschwerde[39] vor allem auch die gesetzliche Zulassung der ungünstigen Wiederaufnahme propter nova im Jahr 1943.[40] § 359 Abs. 1 Nr. 2 RStPO lautete fortan: "Ein durch rechtskräftiges Urteil geschlossenes Verfahren wird wieder aufgenommen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder verbunden mit den früheren geeignet sind, die Verurteilung eines Freigesprochenen oder eine wesentlich strengere Ahndung oder statt der Einstellung des Verfahrens die Verurteilung des Angeklagten zu begründen." Hinter dieser Erweiterung der ungünstigen Wiederaufnahme stand vor allem mangelndes Verständnis dafür, warum ein Geständnis die ungünstige Wiederaufnahme gestatte, aber nicht "sichere Beweise" für die Täterschaft des Freigesprochenen.[41] Zugleich sollte allerdings nicht die
gemeinrechtliche absolutio ab instantia wiederaufleben,[42] sondern es sollte um eine Lockerung ohne "uferlose Durchbrechung der Rechtskraft"[43] gehen. Das war nicht nur qualitativ gemeint, gingen doch selbst Reformbefürworter davon aus, dass die Lockerung nicht zu einer großen Zahl von Wiederaufnahmeverfahren führen würde.[44] Der Begrenzung der Wiederaufnahme gemäß § 359 Abs. 1 Nr. 2 RStPO diente Absatz 2, wonach die ungünstige Wiederaufnahme nur zulässig sein sollte, "wenn die neue Verfolgung zum Schutze des Volkes notwendig ist",[45] wenn also mit anderen Worten der Bestand des früheren Urteils "für eine der Gerechtigkeit und der Sicherung der Allgemeinheit dienende Strafrechtspflege untragbar" war.[46] Inwieweit die damit bezweckte Eingrenzung, nur schwerwiegende Delikte zu erfassen und die Wiederaufnahme nur bei hoher Verdachtslage zuzulassen,[47] trotz des Mangels klarer Entscheidungsmaßstäbe für die Staatsanwaltschaften und Strafgerichte tatsächlich erreicht wurde, lässt sich zwar auch im Rückblick schwer beurteilen. In der Summe war die nationalsozialistische Willkürherrschaft aus Sicht der unmittelbar nachkriegsdeutschen Rechtswissenschaft aber gerade auch dadurch gekennzeichnet, dass "der Freispruch des Richters dem Freigesprochenen die Freiheit nicht mehr verschaffte".[48] Dasselbe gilt, wie später zu zeigen sein wird, für § 362 Nr. 5 StPO. Gerade deshalb kann der neue Wiederaufnahmegrund schon vor dem historischen Hintergrund der Verfassungsgarantie keinen Bestand haben.
Im Folgenden wird herausgearbeitet, dass die Neuregelung keinesfalls unter Hinweis auf BVerfGE 56, 22 gerechtfertigt werden kann (a), sondern dass sie - auch unter Berücksichtigung von § 373a StPO (c) - auf einen gravierenden Systembruch mit den herkömmlichen ungünstigen Wiederaufnahmegründen hinausläuft (b) und auf diese Weise die Rechtskraft in weitreichender und verfassungswidriger Weise verwässert (d).
Mit der Einführung von § 362 Nr. 5 StGB nahm der Gesetzgeber keine zulässige Grenzkorrektur im Sinne von BVerfGE 56, 22 vor. Zum einen präzisierte das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung nur, dass die in seiner früheren Rechtsprechung betonte Bezugnahme des Art. 103 Abs. 3 GG auf den vorkonstitutionellen Stand des Prozessrechts und dessen Auslegung durch die herrschende Rechtsprechung[49] durchaus offen für Lösungen neu auftauchender Gesichtspunkte sei, die sich der Prozessrechtswissenschaft und der Rechtsprechung so noch nicht gestellt hatten und insofern der Tatbegriff - also eine die Auslegungs- und Anwendungsebene des § 362 Nr. 5 StPO betreffende Frage - in bislang ungeklärten Grenzfällen durchaus neu interpretiert werden dürfe, ohne dass dies zwingend gegen Art. 103 Abs. 3 GG verstieße.[50] Die Entscheidung betrifft also die Rechtsanwendungs-, nicht die Rechtssetzungsebene. Für die Annahme, der Gesetzgeber dürfe bei solchen neu auftauchenden Gesichtspunkten § 362 StPO nach Belieben um weitere Wiederaufnahmegründe ergänzen, gibt die Entscheidung nichts her.[51]
Zum anderen löst § 362 Nr. 5 StPO keinen neu auftauchenden Gesichtspunkt, der sich der Prozessrechtswissenschaft und der Literatur so noch nicht gestellt hat. Insofern kann dahinstehen, ob sich der aus BVerfGE 56, 22 ergebende Maßstab auch auf die Gesetzgebung übertragen lässt. Neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinne von § 362 Nr. 5 StPO, etwa in Gestalt eines neuen glaubwürdigen Belastungszeugen oder geständnisgleicher Tagebucheinträgen des später freigesprochenen Angeklagten, sind kein solcher Gesichtspunkt,[52] sondern Erkenntnismittel, denen der Gesetzgeber der Reichsstrafprozessordnung bewusst die Eigenschaft als ungünstiger Wiederaufnahmegrund versagt hatte. Eine damalige Äußerung aus der Literatur verdeutlicht dies:
"Daß nicht darüber hinaus hier wie bei der Wiederaufnahme zu Gunsten bei irgend welchen neuen Thatsachen das Rechtsmittel zugelassen ist, wird man nicht tadeln mögen. Denn ein Umstand spricht sehr wesentlich dafür, die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme zu Ungunsten enger zu begrenzen als für die zu Gunsten. Wenn der Angeklagte in dem ersten Verfahren verurtheilt ist, so geschah dies, weil der Beweis der Schuld in genügender Weise geführt wurde und ein Unschuldsbeweis entweder gar nicht versucht oder mißlungen ist. Bei einer späteren Wiederaufnahme zu Gunsten handelt es sich also darum, jenen Beweis der Schuld zu widerlegen, sei es, indem die Unrichtigkeit seiner Fundamente dargethan wird, sei es, indem nun die Führung des Unschuldsbeweises gelingt. Es ist also etwas Positives vorhanden, was beseitigt werden muß. Anders dagegen bei der Wiederaufnahme zu Ungunsten des Angeklagten. Die Freisprechung desselben wird in der großen Mehrzahl der Fälle deshalb erfolgt sein, weil ein genügender Schuldbeweis mangelte, nur selten, weil ein Unschuldsbeweis geführt wurde. Ist aber das erstere der Fall, so ist überhaupt nichts Positives vorhanden, wogegen der Angriff sich zu richten hätte. Der Freigesprochene befindet sich hier nicht, wie im andern Fall der Staat, im Besitzstande, auf dessen Vertheidigung er sich beschränken könnte, sondern er ist vielmehr in der gleichen Lage, als ob ein Urtheil überhaupt noch nicht
ergangen wäre. Wenn daher die Rechtskraft des Urtheils zu Gunsten wie zu Ungunsten des Angeklagten gleichmäßig wirksam sein soll, so darf nicht unter denselben Voraussetzungen hier wie dort, die Wiederaufnahme gestattet werden, sondern das Gesetz muß auf diese in der Natur der Sache begründete Verschiedenheit Rücksicht nehmen und sie dadurch ausgleichen, daß es die Fälle der Wiederaufnahme zu Ungunsten viel enger bestimmt, als die zu Gunsten des Angeklagten."[53]
Abgesehen von den zwei letzten Jahren der NS-Zeit, in denen die ungünstige Wiederaufnahme aufgrund neuer Tatsachen oder Beweismittel zulässig war, war die Regelung über die ungünstige Wiederaufnahme (früher § 402 RStPO, jetzt § 362 StPO) mit dem glaubhaften Geständnis des Angeklagten als einzig zulässigem Novum seit dem Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung im Jahr 1879 - also über 140 Jahre lang - im Kern unverändert geblieben. Es ist nicht ersichtlich, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Fähigkeit der Strafrechtspflege, materiell gerechte Entscheidungen zu fällen, hierdurch ins Wanken geraten wäre. Das Ergebnis der vom Gesetzgeber[54] zur Rechtfertigung des neuen Wiederaufnahmegrundes in Anspruch genommenen Petition mit der Überschrift "Gerechtigkeit für meine ermordete Tochter Frederike: Der Mord muss gesühnt werden können"[55] ändert an diesem Befund nichts, schon weil die Petition nicht auf einer informierten Entscheidung der Unterschriftleistenden beruht.[56] Der Text auf der Petitionsseite war einseitig auf die Opferperspektive und die der Hinterbliebenen ausgerichtet, ließ aber die Perspektive von Freigesprochenen völlig unbeachtet. Vor allem aber erweckten die erläuternden Hinweise auf der Petitionsseite den unmissverständlichen Eindruck, es gehe um "nachweislich falsch freigesprochene Mordtaten". Nichts anderes gilt für die im Jahr 2016 durchgeführte Umfrage durch infratest dimap, bei der sich 91 % der Befragten für eine Erweiterung der ungünstigen Wiederaufnahme ausgesprochen haben, wenn durch neue Untersuchungsmethoden Beweismittel gründlicher ausgewertet werden können,[57] blieb doch auch hier angesichts der Fragestellung die Situation von freigesprochenen Angeklagten unberücksichtigt.
Es verdient Erwähnung, dass schon in den Jahren nach Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung erkannt wurde, dass die gesetzlich anerkannten Gründe für eine Wiederaufnahme in malam partem die Wiederaufnahme propter nova nicht vorsahen, ohne dass dies zwingend Anlass zu Reformforderungen gegeben hätte: "Ein vor der Freisprechung abgegebenes, aber erst später ermitteltes Geständnis würde lediglich die Bedeutung eines neuen Beweismittels haben; auf neue Beweise kann aber die zu Ungunsten des Angeklagten stattfindende Wiederaufnahme des Verfahrens nicht gegründet werden."[58] Vor allem aber belegt der Umstand, dass der historische Gesetzgeber schon bei Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung mit § 399 Nr. 5 RStPO (jetzt § 359 Nr. 5 StPO) die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten auch wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel anerkannt hatte, dass propter nova kein neuer Gesichtspunkt im Sinne von BVerfGE 56, 22 (34 f.) sind, sondern der Gesetzgeber bewusst - eben in Abkehr von der gemeinrechtlichen absolutio ab instantia - von der Einstufung neuer Erkenntnismittel als Grund für eine Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten abgesehen hatte.[59]
Dasselbe gilt für kriminaltechnische Methoden, die es zurzeit des Inkrafttretens der Reichsstrafprozessordnung im Jahr 1879 noch nicht gab. Die in der Gesetzesbegründung besonders hervorgehobene molekulargenetische Untersuchung setzt eine lange Entwicklung, die die Kriminaltechnik genommen hat, nur fort und ist insofern nichts prinzipiell Neues: Statt vieler seien genannt die Blutgruppenbestimmung, die Daktyloskopie, die Textiluntersuchung, Stimmenanalyse etc.[60]
In diesem Zusammenhang ist darüber hinaus zu bedenken, dass das Wiederaufnahmerecht nicht dazu dienen darf, Mängel, die in der Struktur des gesetzlichen Verfahrens selbst wurzeln, auszugleichen.[61] Um einen solchen Mangel geht es aber bei § 362 Nr. 5 StPO. Denn jedes gerichtliche Verfahren nach der Strafprozessordnung ist denknotwendig zeitgebunden in dem Sinne, dass das Gericht nur auf die zum Verfahrenszeitpunkt verfügbaren Erkenntnismittel zurückgreifen kann und überdies - nicht nur wegen des bisherigen kriminaltechnischen Fortschritts, sondern beispielsweise auch wegen zeugnisverweigerungsberechtigten Ehepartnern, die im früheren Verfahren geschwiegen haben und nun, nach Scheidung der Ehe, aussagen wollen - die Aussicht realistisch ist, dass in Zukunft neue Erkenntnismittel auftauchen werden. Solche Veränderungen, denen § 362 Nr. 5 StPO Rechnung tragen will, sind jedem gerichtlichen Verfahren nach der Strafprozessordnung immanent und gerade kein Sonderfall, der die Durchbrechung der Rechtskraft trägt. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich der neue Wiederaufnahmegrund von den herkömmlichen.
Verstanden als Postulat möglichst starker Annäherung an das materielle Recht hat die Gerechtigkeit als solche im Wiederaufnahmerecht selbst dort, wo es um eine günstige Wiederaufnahme geht und Art. 103 Abs. 3 GG
infolgedessen nicht den Weg zu legislativen Erweiterungen der Möglichkeiten einer Rechtskraftdurchbrechung versperrt,[62] nur eine untergeordnete Rolle. So ist beispielsweise nach § 363 StPO auch eine günstige Wiederaufnahme zum Zwecke der bloßen Änderung der Strafzumessung oder zur Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit unstatthaft, obwohl dies Belange sind, die unter dem Gesichtspunkt möglichst starker Annäherung an das materielle Recht eigentlich den Weg zur Wiederaufnahme begründen können müssten. Insofern enthält das Gesetz auch dem Verurteilten die Aussicht auf eine in dieser Frage gerechtere Entscheidung vor.[63] Abgesehen davon wäre, wenn sich im Wiederaufnahmerecht Rechtskraft und materielle Gerechtigkeit gleichberechtigt gegenüberstünden, nicht zu erklären, warum die ungünstige Wiederaufnahme engeren Voraussetzungen unterliegt als die günstige.[64]
Das Grundgesetz räumt mit Art. 103 Abs. 3 GG der Rechtssicherheit strikt den Vorrang gegenüber der materiellen Gerechtigkeit ein,[65] verbürgt insofern in seinem Anwendungsbereich bereits ein Abwägungsergebnis zwischen diesen beiden Belangen[66] und tritt in dieser Frage somit wertefordernd an die Bevölkerung heran. Die vom Grundgesetz geschaffene Ordnung versteht sich als klarer Gegenentwurf zu einer vom (vermeintlichen oder realen) Willen der Bevölkerung bestimmten Strafrechtspflege. Gleichzeitig garantiert die Verfassung auch deren Rationalität, indem sie mit Absolutheitsanspruch Sätze wie das Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG oder mit Art. 102 GG das Verbot der Todesstrafe verbürgt, ohne deren Geltung von der öffentlichen Zustimmung abhängig zu machen oder einer Abwägung mit Belangen der materiellen Gerechtigkeit per se zugänglich zu sein. In dieses Bild fügen sich die herkömmlichen Wiederaufnahmegründe ein. Diese verfolgen mitnichten Belange der materiellen Gerechtigkeit, sondern nehmen allesamt Angriffe auf den Rechtsfrieden durch menschliches Verhalten zum Anlass für eine Wiederaufnahme, weswegen § 362 Nr. 5 StPO ein Fremdkörper im Recht der ungünstigen Wiederaufnahme ist.[67] Den herkömmlichen Gründen liegt die Leitlinie zugrunde, dass selbst - gemessen am materiellen Recht - ungerechte, günstige Urteile hinzunehmen sind, es sei denn, sie sind ihrerseits Ergebnis einer Straftat oder der Freigesprochene selbst greift den Rechtsfrieden an.
Die in § 362 Nr. 1 bis 3 StPO genannten Gründe sehen die ungünstige Wiederaufnahme "wegen gewissen menschlichen Verhaltens[vor], das das rechtskräftige Urteil ‚fälschend‘ beeinflußt hat".[68] Unabhängig davon, ob man hierzu - restriktiv - ein auf den Angeklagten zurückgehendes Handeln fordert[69] oder nicht, betreffen diese falsa Fälle, in denen das Gericht im früheren Verfahren von Anfang an nicht zu einer materiell gerechten Entscheidung hatte gelangen können, weil das hohe Risiko einer Fehlentscheidung bereits in der menschengemachten Beweismittelmanipulation (Nr. 1 und 2) beziehungsweise der Mitwirkung eines einer strafbaren Amtspflichtverletzung schuldigen - und damit aus Sicht Dritter nicht an einem gemessen am Recht richtigen Urteil interessierten - Richters (Nr. 3) angelegt war. Dahinter steht die Erkenntnis des historischen Gesetzgebers, "daß man gegen die Fundamentalsätze des Strafrechts verstößt, wenn man es zulassen will, daß der Verbrecher der verwirkten Strafe durch die Begehung eines neuen Verbrechens entzogen werde."[70]
Der Wiederaufnahmegrund des glaubwürdigen Geständnisses nach § 362 Nr. 4 StPO beruht - neben dem darin zum Ausdruck kommenden Verzichtsgedanken[71] - darauf, dass der Freigesprochene durch sein Handeln die materielle Gerechtigkeit als abstrakte Idee mit Füßen tritt: "Es steht in dem freien Willen des Angeklagten, ob er nach erfolgter Freisprechung ein Geständniß der That ablegen will; eine Gefährdung der Interessen des Angeklagten ist also mit jener Vorschrift nicht verbunden; wohl aber kann das Rechtsbewußtsein im Volke leicht irre geführt werden, wenn ein Verbrecher, nachdem er wegen mangelnden Beweises freigesprochen worden, sich ungestraft des Verbrechens selbst bezichtigen, oder gar rühmen darf."[72] Dies erklärt, warum der reuige Täter, der ein Geständnis ablegt, schlechter gestellt sein soll als der raffinierte Täter, der erst viele Jahre nach dem Freispruch durch einen genetischen Fingerabdruck überführt werden kann.[73] Abgesehen davon, dass in einem Rechtsstaat von einem "Täter" nur gesprochen werden kann, wenn ein Strafgericht rechtskräftig die Schuld des Einzelnen festgestellt hat, ist der Geständige selbst für seine Offenbarung verantwortlich und provoziert mit seinem im Geständnis liegenden Angriff auf den Rechtsfrieden eine Reaktion der Rechtsgemeinschaft in Gestalt der Verfahrenswiederaufnahme.
Das erst späte Auftauchen neuer Erkenntnisse im Sinne von § 362 Nr. 5 StPO ist niemandem vorzuwerfen. Dies ist bei den herkömmlichen Wiederaufnahmegründen anders: § 362 Nr. 1 bis 3 StPO betrifft strafbare Vorgänge. Hier lässt sich ein Vorwurf an den Staat begründen: Die strafbaren Vorgänge sind im früheren Verfahren unerkannt geblieben und auch die Strafgesetzgebung vermochte sie nicht zu verhindern. Bei Nr. 4 StPO tritt die Rechtskraft
zurück, weil der Angeklagte mit seinem glaubhaften Geständnis den Rechtsfrieden selbst stört. Hier gibt er selbst Anlass für die Überwindung der Rechtskraft. § 362 Nr. 5 StPO unterscheidet sich hiervon grundlegend, indem die Vorschrift neue Tatsachen oder Beweise unabhängig von ihrer Herkunft und unabhängig von menschlichem Verhalten genügen lässt und insofern der materiellen Gerechtigkeit um ihrer selbst willen den Vorrang vor der Rechtskraft gibt. Noch stärker ist der Unterschied, wenn man - abweichend vom Wortlaut, aber entsprechend dem hinter § 362 Nr. 5 StPO stehenden Anlass - auf Früchte des technischen Fortschritts abstellt.[74] Die Rechtskraft soll hier nicht durchbrochen werden, weil ein Angriff auf die den Rechtsfrieden oder die Gerechtigkeit hierzu Anlass gegeben hätte, sondern es wird sogar vielmehr an einen Umstand angeknüpft, auf den die Verfahrensbeteiligten naturgemäß keinen Einfluss gehabt haben können: Aus ihrer Sicht ist das Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweismittel nicht notwendiger-, aber doch typischerweise schicksalhaft. Soweit vereinzelt der Versuch unternommen wird, die Wiederaufnahme propter nova zuungunsten des Freigesprochenen mit einer "qualifiziert defizitären Beweisführung" zu rechtfertigen, und hierin ein Vorwurf an die Beweisführenden - und damit Menschen - anklingt, führt dies evident in die Irre: Man kann einem Gericht schwerlich eine mangelnde Beweisführung vorhalten, die es schlechterdings nicht erfüllen kann, wenn der Mangel in der Nichterhebung (noch) nicht erhebbarer Beweise liegt.
Ein weiterer Unterschied betrifft die zeitliche Distanz zwischen dem früheren Freispruch und der Wiederaufnahme und die mit großem Zeitablauf verknüpften Beeinträchtigungen für die gerichtliche Wahrheitsfindung. Anders als bei den Wiederaufnahmegründen in den Nummern 1 bis 4 ist für Fälle des § 362 Nr. 5 StPO geradezu typisch, dass zwischen der früheren Aburteilung und dem Wiederaufnahmeantrag eine erhebliche Zeitspanne liegt. Weil Jahrzehnte zurückliegende Freisprüche Triebfeder der Einführung von § 362 Nr. 5 StPO waren, muss man davon ausgehen, dass der Gesetzgeber sehenden Auges in Kauf genommen hat, dass Freigesprochene trotz erheblich verschlechterter Beweislage ein neues Strafverfahren über sich ergehen lassen müssen. Mit zunehmendem Zeitablauf werden Zweifel, ob sich bei erneuter Verhandlung bessere Tatsachenfeststellungen - und damit mehr materielle Gerechtigkeit - als im ersten Verfahren erzielen lassen, begründeter.[75] Die mit dem Zeitablauf nach einem Freispruch verbundenen Gefahren, dass der Freigesprochene im berechtigten Vertrauen auf die Rechtskraft des für ihn günstigen Urteils entlastende Beweismittel nicht mehr aufbewahrt oder dass das Erinnerungsvermögen von Zeugen verblasst,[76] sind nicht nur theoretischer Natur: Es ist empirisch gesichert, dass die Tatsachenfeststellungen im zweiten Strafverfahren nach erfolgter Wiederaufnahme strukturell fehleranfälliger sind als im ersten Verfahren.[77] Die im Prozessrecht vorhandenen Möglichkeiten, das verblassende Erinnerungsvermögen von Zeugen oder gar die (etwa durch Tod) bedingte Unmöglichkeit, früher vernommene Zeugen nochmals zu vernehmen, zu kompensieren, liegen vor allem in der Verwertung von Surrogaten in Gestalt der Verlesung der Vernehmungsniederschrift nach § 251 beziehungsweise § 253 StPO. Diese Möglichkeiten beseitigen allerdings in den im Zusammenhang mit § 362 Nr. 5 StPO interessierenden Fällen die Gefahren für die Wahrheitsfindung keineswegs, sondern verschlimmern die Gefahrenlage sogar. Nicht ohne Grund, sondern zum Wohle der strafgerichtlichen Wahrheitsfindung[78] gilt gemäß § 250 StPO als Kernprinzip des Strafprozesses[79] ein Vorrang des Personalbeweises vor dem Urkundenbeweis. Damit ermöglicht das Gesetz dem erkennenden Gericht, von den Zeugen oder Sachverständigen einen persönlichen Eindruck zu gewinnen und Nachfragen zu stellen, und den Verfahrensbeteiligten, ihr Konfrontationsrecht auszuüben und so von ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör Gebrauch zu machen.[80] Folgerichtig sind die Vorschriften der §§ 251, 253 StPO als Ausnahmevorschriften konzipiert.[81] In Fällen des § 362 Nr. 5 StPO wird eine die Zeugenvernehmung surrogierende Urkundenverlesung allerdings die Regel sein. Von daher ist die Gefahr hoch, dass auch Unschuldige nach einer Wiederaufnahme aufgrund von § 362 Nr. 5 StPO ungerechtfertigt verurteilt werden.
Die Durchbrechung der Rechtskraft lässt sich auch nicht auf Parallelen zwischen § 362 Nr. 5 StPO einerseits und § 373a StPO andererseits stützen, wie es das OLG Celle in seinem angegriffenen Beschluss zu begründen versucht. Beide Vorschriften unterscheiden sich grundlegend voneinander, weswegen sich eine Übertragung der die Verfassungsmäßigkeit von § 373a StPO tragenden Gründe aus BVerfGE 3, 248 auf die hier verfahrensgegenständliche Vorschrift verbietet. Bei Strafbefehlen setzt die Rechtskraftdurchbrechung voraus, dass erst ein novum den Verdacht eines Verbrechens begründet. Abgesehen davon, dass die Rechtskraftdurchbrechung nach § 373a StPO ihre Rechtfertigung im vorläufigen und summarischen Charakter des Strafbefehlsverfahrens findet[82] und diese
Rechtfertigung in Fällen des § 362 Nr. 5 StPO nicht greift, weil die Tat hier bereits Gegenstand eines auf umfassender Sachverhaltsaufklärung beruhenden Urteils war,[83] hat sich das Gericht im Strafbefehlsverfahren notwendigerweise noch nicht mit dem Verbrechen auseinandergesetzt, dessen Verdacht durch das novum begründet ist. In den Fällen des § 362 Nr. 5 StPO ist das anders, weil die Vorschrift auch dann Anwendung findet, wenn das im Erstverfahren behandelte Delikt und das nach erfolgter Wiederaufnahme anzuklagende dasselbe ist. Von daher kann ein Vergleich mit § 373a StPO nicht dafür herhalten, die Vereinbarkeit von § 362 Nr. 5 StPO mit Art. 103 Abs. 3 GG zu begründen. Vielmehr trifft das Gegenteil zu: Die hinter § 373a StPO stehende Ratio zeigt, dass die Rechtskraft eines auf umfassender Sachaufklärung beruhenden Urteils einen weitergehenden Schutz vor einer Wiederaufnahme verdient als ein Strafbefehl.[84]
Der neue Wiederaufnahmegrund hat auch einen deutlich weiteren Anwendungsbereich als die bisherigen geregelten Wiederaufnahmegründe. Der Gesetzgeber hat das selbstgesetzte Ziel eines "eng umgrenzten Wiederaufnahmegrundes"[85] klar verfehlt. Zwar setzt die Vorschrift - insoweit durchaus noch in gewissem Maße begrenzend - einen Freispruch und den dringenden Verdacht eines der dort genannten Delikte voraus, weswegen etwa eine frühere Verurteilung wegen eines milderen Delikts (fahrlässige Tötung statt Mord), der dringende Verdacht eines der dort genannten Delikte in der Begehungsform des Versuchs oder der dringende Verdacht eines anderen Delikts der Schwerkriminalität (besonders schwerer Fall des Totschlags nach § 212 Abs. 2 StGB) für eine Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO nicht genügt. Andererseits lässt die Vorschrift bereits das Beibringen neuer Tatsachen oder Beweismittel genügen, ohne auch insoweit eine Eingrenzung vorzunehmen. Dass dieses Merkmal ausweislich der Gesetzesbegründung praktisch relevant werden soll bei Erkenntnissen, "die auf Grund der weiterentwickelten Möglichkeiten der DNA-Analyse gewonnen werden konnten und die zum Zeitpunkt des freisprechenden Urteils noch nicht verfügbar waren",[86] zeigt, welche Vorstellung der Gesetzgeber von den praktischen Anwendungsfällen des neugeschaffenen Wiederaufnahmegrundes vor Augen hatte. Diese (begrenzende) Vorstellung findet allerdings im Normwortlaut keinen Widerhall.
Sie entspricht auch nicht der anerkannten Auslegung der entsprechenden Merkmale in § 359 Nr. 5 StPO, die nach dem Willen des Gesetzgebers[87] auch für § 362 Nr. 5 StPO maßgeblich sein soll. Tatsachen sind danach schon dann neu, wenn sie der Überzeugungsbildung des erkennenden Gerichts nicht zugrunde gelegt wurden, auch wenn das theoretisch möglich gewesen wäre.[88] Sie sind beispielsweise sogar dann neu, wenn sie sich aus den Akten ergaben und von daher in der Hauptverhandlung an sich ohne weiteres zur Sprache hätten gebracht werden können.[89] Auch der Umstand, dass ihr Gegenteil im früheren Urteil festgestellt ist, nimmt einer Tatsache nicht die Eigenschaft als neu.[90] Mit den neuen Beweismitteln sind alle erfasst, derer sich das Gericht im früheren Verfahren nicht bedient hat;[91] erfasst sind damit sogar solche Beweismittel, die das Gericht sehr wohl kannte, von denen es aber nicht Gebrauch gemacht hat. Selbst Zeugen, die in der Hauptverhandlung zu anderen Beweistatsachen gehört wurden, können ein neues Beweismittel im Sinne der Vorschrift sein.[92] Neue Beweise werden sich schnell finden lassen. Es genügt, wenn ein aussage- oder zeugnisverweigerungsberechtigter Zeuge im früheren Verfahren von seinem Recht Gebrauch gemacht und nach Rechtskrafteintritt seine Meinung geändert hat.[93] Besonders bedenklich werden die Dinge, wenn der Staat selbst neue Beweismittel schafft. Er kann dies, etwa indem der Dienstherr nachträglich eine im früheren Verfahren noch versagte Aussagegenehmigung für dem öffentlichen Dienst angehörende Zeugen erteilt (§ 54 StPO) oder eine im früheren Verfahren noch bestehende Sperrerklärung für eine Vertrauensperson aufhebt.[94] Es ist der Staatsanwaltschaft sehr leicht möglich, neue Tatsachen oder neue Beweismittel zu finden; Freigesprochene müssen mithin damit rechnen, dass die Staatsanwaltschaften entsprechend vorgehen werden. Dies gilt umso mehr, als es in der Situation des § 359 Nr. 5 StPO dem Eigeninteresse des Verurteilten entspricht, in der erneuten Hauptverhandlung möglichst alle für ihn sprechenden neuen Tatsachen oder Beweismittel dem Gericht zu unterbreiten, während ein entsprechender Anreiz auf Seiten der Staatsanwaltschaft nach erfolgter Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO fehlt, zumal die nach dieser Vorschrift zulässige Wiederaufnahme nicht auf eine begrenzt ist, solange die Staatsanwaltschaft immer wieder neue Tatsachen oder Beweismittel präsentieren kann. Denn der insoweit indifferente § 362 Nr. 5 StPO erlaubt die Wiederaufnahme sogar wegen solcher neuen Tatsachen oder Beweise, deren Einführung in das Verfahren und Auswertung die Strafverfolgungsbehörden oder das Gericht schuldhaft versäumt haben.[95]
Dass ein so niedrigschwelliger Anknüpfungspunkt wie neue Tatsachen oder Beweismittel für eine ungünstige
Wiederaufnahme in Fällen der Schwerstkriminalität genügen soll, ist umso bedenklicher, als nicht unwahrscheinlich ist, dass immer wieder neue Tatsachen oder Beweismittel auftauchen und damit für die Freigesprochenen die Gefahr repetitiver Strafverfolgung real wird. Insofern zieht letztlich vor allem die Lebenszeit des Betroffenen, nicht der Gesetzgeber, die Grenze für die Höchstzahl der wegen einer Tat möglichen ungünstigen Wiederaufnahmen. Angeklagte müssen selbst dann, wenn sie nach einer Wiederaufnahme gemäß § 362 Nr. 5 StPO erneut freigesprochen werden, ständig mit erneuter Strafverfolgung und dementsprechend auch mit Strafe rechnen. Nur die (zu milde) Verurteilung schafft Rechtskraft. Demgegenüber steht jeder Freispruch im Anwendungsbereich von § 362 Nr. 5 StPO unter "ewigem Vorbehalt",[96] ist mit anderen Worten ein potenzieller "processus ad infinitum".[97] Weil § 362 Nr. 5 StPO dem Staat unbegrenzt viele Versuche einer Verurteilung verschafft,[98] müssen viele Freigesprochene davon ausgehen, dass ihr Verfahren mit dem Freispruch nicht weggelegt wird, sondern die Staatsanwaltschaft es im Hintergrund kontinuierlich weiter betreiben wird.[99] Für sie wird das Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 103 Abs. 3 GG in sein Gegenteil verkehrt: Die Rechtssicherheit wird zur Ausnahme, Rechtskraftdurchbrechungen zum Wohle der materiellen Gerechtigkeit die Regel.[100] Für die Strafgerichte bedeutet die Vorschrift, dass ihre freisprechenden Urteile in Mordverfahren oder in Verfahren nach den in § 362 Nr. 5 StPO genannten völkerstrafrechtlichen Delikte an Autorität verlieren und ihre rechtsfriedenstiftende Funktion ab initio nicht erfüllen können, weil sie angesichts der recht niedrigschwelligen Voraussetzungen von § 362 Nr. 5 StPO in den Augen der Öffentlichkeit nicht mehr als das letzte Wort gelten können.
Freigesprochene verlieren nicht wirklich ihren Beschuldigtenstatus[101] und müssen mit repetitiver staatlicher Strafverfolgung rechnen, wenn der Verdacht eines der in § 362 Nr. 5 StPO genannten Delikte nicht ausgeschlossen ist. Paradoxerweise schafft eine ex post zu milde erscheinende Verurteilung nunmehr eine robustere Vertrauensgrundlage als ein Freispruch. Dass Freigesprochene wegen § 362 Nr. 5 StPO schlechter gestellt sind als Verurteilte und sich jederzeit auf erneute Strafverfolgung einstellen und sie erdulden müssen, betrifft den Kern des Art. 103 Abs. 3 GG. Mit den Worten Dürigs: "In Art. 103 Abs. 3 fällt des Bürgers wegen die Entscheidung zugunsten der formalen Sicherheit. Der Bürger soll nicht dauernd unter dem Damoklesschwert einer erneuten Strafverhandlung und eventueller Bestrafung stehen. Diese Forderung folgt aus der grundgesetzlich anerkannten Freiheit und Würde des Menschen (Art. 1, 2 Abs. 1). Diese wären aber empfindlich getroffen, wenn der Freigesprochene oder Bestrafte ständig damit rechnen müsste, erneut strafrechtlich belangt zu werden. Der Bürger würde damit[…]zum Objekt staatlicher Gewalt und staatlichen Geschehens."[102] Der Gesetzgeber mag mit der Beschränkung der Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO auf bestimmte Delikte den Kreis der wiederaufnahmefähigen Freisprüche das Ziel verfolgt haben, diesen zu begrenzen und so einen Ausgleich mit der materiellen Gerechtigkeit zu schaffen. Für diesen Kreis nimmt das Strafverfahren aber mit keinem Freispruch sein Ende, sondern ist dieses - für alle Beteiligten erkennbar - eine offene und für jeden Freigesprochenen nicht nur dauerhafte, sondern zeitlich potenziell unbegrenzte Bedrohungslage. Dieser Betroffenenkreis ist insofern reines Objekt staatlicher Strafbedürfnisse.
Die hierin wurzelnde Furcht Freigesprochener vor repetitiver Strafverfolgung lässt sich auch nicht mit der Unverjährbarkeit des Mordes rechtfertigen, wie der Gesetzgeber es versucht hat.[103] Dass der Mord nicht verjährt, rechtfertigt nur, dass der Staat gegebenenfalls auch viele Jahrzehnte nach der Tat gegen einen Beschuldigten vorgehen kann. Es geht bei der Verjährung aber nicht darum, dem Staat beliebig viele Strafverfahren gegen den Einzelnen wegen ein und derselben Straftat offenzuhalten. Die Unverjährbarkeit des Mordes muss dem Freigesprochenen nicht Anlass geben, auch nach seinem Freispruch mit erneuter Verfolgung zu rechnen.
Mit dieser Sorge müssen im Übrigen nicht nur, wie in der Literatur vereinzelt vertreten, die wegen Mordes oder eines anderen in § 362 Nr. 5 StPO genannten Delikts Freigesprochenen[104] leben. Der Kreis der Betroffenen ist viel weiter, weil § 362 Nr. 5 StPO keine Begrenzung auf wegen des Vorwurfs bestimmter Delikte Freigesprochene vorsieht, sondern auf alle Freigesprochenen anwendbar ist. Weil die in der Vorschrift aufgeführten Delikte erst bei der Frage des dringenden Verdachts relevant sind, ist die Vorschrift durchaus anwendbar etwa bei wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung oder des Raubes mit Todesfolge Freigesprochenen, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel den dringenden Verdacht des Mordes begründen.
Das Problem lässt sich auf der Auslegungsebene nicht beheben. Eine restriktive Auslegung, die das Merkmal der neuen Tatsachen und Beweismittel dahin begrenzt, dass diese durch Untersuchungsmethoden mit gerichtsverwertbarem Ergebnis gewonnen sein müssen, die erst nach dem früheren Urteil allgemeine wissenschaftliche Anerkennung gefunden haben, scheidet aus, weil der Gesetzgeber an anderer Stelle der Gesetzesbegründung selbst klargestellt hat, dass das Merkmal der neuen Tatsachen und Beweismittel begrifflich dem entsprechenden Merkmal in
§ 359 Nr. 5 StPO beziehungsweise § 373a StPO entspricht.[105]
§ 362 Nr. 5 StPO höhlt das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 103 Abs. 3 GG in seinem Kern aus.[106] In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass schon das allgemeine Rechtsstaatsprinzip dem Bürger Vertrauensschutz - verstanden als Vertrauen in die Rechtssicherheit und den Rechtsbestand gerichtlicher Erkenntnisse - verbürgt und dieser Vertrauensschutz durchaus mit anderen Gütern in Verfassungsrang abwägbar ist. Die lex specialis des Art. 103 Abs. 3 GG ist aber keine bloße Deklamation. Von daher ergibt der durch Art. 103 Abs. 3 GG gewährleistete Vertrauensschutz für den Bereich der Strafrechtspflege nur Sinn, wenn er über den ohnehin durch das allgemeine Rechtsstaatsgebot verbürgten Vertrauensschutz hinausgeht.[107] Ausdruck der Sonderstellung von Art. 103 Abs. 3 GG ist, dass das mit dieser Vorschrift wertefordernd verbürgte Primat der individuellen Rechtssicherheit gegenüber der materiellen Gerechtigkeit nicht schon dann Ausnahmen zugeführt werden darf, wenn andernfalls schlechterdings unerträgliche Ergebnisse zu befürchten wären.[108] Denn abgesehen davon, dass Art. 103 Abs. 3 GG für den Bereich der Strafrechtspflege eine klare wie verbindliche Entscheidung für das Primat der Rechtskraft gegenüber der Gerechtigkeit ausdrückt,[109] lässt sich schwerlich für "unerträgliche" Ergebnisse aus dem Rechtsstaatsprinzip etwas anderes herleiten, wenn Art. 103 Abs. 3 GG doch gerade das Rechtsstaatsprinzip konturieren soll und diese Konturierung durch Rekurs auf das allgemeine Rechtsstaatsprinzip unterlaufen zu werden droht.[110]
§ 362 Nr. 5 StPO höhlt den Kernbereich des Mehrfachverfolgungsverbotes aus, indem die Vorschrift in ihrem Anwendungsbereich frühere Entscheidungen zu "Freisprüchen unter Vorbehalt" degradiert.[111] In allen Fällen, in denen ein Mord nicht ganz ausgeschlossen ist, ändert sich für den Angeklagten nicht viel, wenn er freigesprochen ist. Da die Voraussetzungen des § 362 Nr. 5 StPO durchaus niedrigschwellig sind, muss der Freigesprochene damit rechnen, jederzeit in die Rolle des Inkulpaten zurückgeworfen zu werden. Umgekehrt werden die Strafverfolgungsorgane im Fall eines Freispruchs gewiss sein dürfen, dass mit dem ersten Anlauf noch nichts verloren ist.
In diesem Zusammenhang verdient Berücksichtigung, dass die Gefahr einer schleichenden Aushöhlung von Art. 103 Abs. 3 GG durch eine sukzessive Ausweitung des in § 362 Nr. 5 StPO in Bezug genommenen Deliktskreises konkret ist:[112] Im Vereinigten Königreich ist die ungünstige Wiederaufnahme aufgrund neuer und zwingender Beweismittel[113] nach anfänglicher Beschränkung der Diskussion um die Einführung der ungünstigen Wiederaufnahme auf Mord und Völkermord[114] nunmehr für insgesamt 29 Straftatbestände möglich.[115] Auch hierzulande werden schon jetzt Forderungen nach einer Erweiterung der in § 362 Nr. 5 StGB aufgeführten Tatbestände laut.[116] Es ist nur eine Frage der Zeit, wann diese Forderungen erhört werden. Auch unter Beachtung, dass für die Neuregelung die Unverjährbarkeit der in § 362 Nr. 5 StPO in Bezug genommenen Delikte (mit) ausschlaggebend war, wäre die "systemgerechte" Aufnahme neuer Delikte ohne weiteres möglich, indem der Gesetzgeber den Kreis der unverjährbaren Delikte ausweitet. Entsprechender Druck lastet etwa mit Sicht auf schwere Sexualdelikte schon jetzt auf dem Gesetzgeber. Verfassungsrechtliche Bindungen, die ihn davon wirksam abhalten oder den Kreis der betroffenen Delikte zumindest begrenzen könnten, sind nicht ersichtlich.
Dass § 362 Nr. 5 StPO der materiellen Gerechtigkeit zum Durchbruch verhilft, ist ein Belang, zu dessen Berücksichtigungsfähigkeit - das Vorliegen der Voraussetzungen dieses Wiederaufnahmegrundes vorausgesetzt - gesichert sein müsste, dass der Freigesprochene sich des Mordes oder eines anderen dort genannten Delikts schuldig gemacht hat. Da die Frage, ob der Freispruch - gemessen am tatsächlichen Lebenssachverhalt und dessen korrekter materiellrechtlicher Beurteilung - wirklich zu Unrecht erfolgt ist, wegen der Unschuldsvermutung naturgemäß erst nach einem erneuten Strafverfahren beantwortet werden kann,[117] kann es, entgegen der Annahme des Gesetzgebers,[118] zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung von § 362 Nr. 5 StPO nicht darauf ankommen, ob der
Freispruch wegen Mordes oder eines der dort genannten Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch ungerechtfertigt ist und damit den Rechtsfrieden genauso stört wie die Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten. Zum einen nimmt die Unschuldsvermutung, die als Ausprägung des Rechtsstaats verlangt, den Beschuldigten bei nicht behebbaren tatsächlichen Zweifeln in dubio pro reo freizusprechen, hin, lieber neun Schuldige laufen zu lassen als einen Unschuldigen zu verurteilen, so dass vom Standpunkt des Rechtsstaats aus betrachtet die Verurteilung eines Unschuldigen weniger erträglich ist als der Freispruch eines Schuldigen.[119] Vor allem aber ist die entscheidende Frage nicht die vom Gesetzgeber gestellte, sondern die, ob schon der dringende Verdacht eines bestimmten Verbrechens genügt, um den Rechtsfrieden zu stören und dem Freigesprochenen zu erklären, warum er erneut ein Strafverfahren und die hiermit verbundenen Belastungen erdulden muss. Bei § 362 Nr. 5 StPO geht es insofern nicht so sehr um Gerechtigkeit, sondern - mit den Worten Kaspars - in Wahrheit "um die Ermöglichung einer Bestrafung des (vermeintlich) schuldigen Täters, nachdem dieser rechtskräftig freigesprochen wurde, weil man ihn eben bestraft sehen möchte"[120] - also um Bedürfnisbefriedigung.
Wer rechtskräftig freigesprochen ist, gilt mindestens als ebenso unschuldig wie der Angeklagte vor dem Urteil. Die These, neue Tatsachen oder Beweismittel könnten einen Freispruch zu einem "erwiesenermaßen"[121] ungerechtfertigten machen, beruht auf einer groben Verkennung der Unschuldsvermutung und demonstriert zugleich ein naives Verständnis für die Realitäten strafgerichtlicher Wahrheitsfindung. Ob das neue Beweismittel oder die neue Tatsache den Freispruch ungerechtfertigt macht, ist ein Umstand, der einer Hauptverhandlung und den dortigen Äußerungen, insbesondere des zuvor Freigesprochenen, vorbehalten ist. Insofern nimmt die gesetzgeberische Annahme, die ungünstige Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO fördere die materielle Gerechtigkeit, entweder sehenden Auges fehlerhafte Schuldsprüche in Kauf[122] oder sie nimmt einen Schuldspruch ohne Verhandlung vorweg.
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass § 362 Nr. 5 StPO einen durch neue Tatsachen oder Beweismittel begründeten hohen Verdachtsgrad eines der dort genannten Delikte voraussetzt. Der insoweit erforderliche dringende Tatverdacht ist letztlich auch nur ein Verdacht - wenn auch ein sehr hoher - und setzt gerade nicht die gerichtliche Überzeugung voraus, dass ein von der Vorschrift erfasstes Delikt durch den Freigesprochenen begangen wurde. Auch in der Rechtswirklichkeit führt längst nicht jeder Fall, in dem ein Gericht für die Anordnung von Untersuchungshaft dringenden Tatverdacht bejaht hat, auch zu einer Verurteilung. Das gilt insbesondere für das im Zusammenhang mit § 362 Nr. 5 StPO interessierende Delikt des Mordes.[123] Hier ist die Freispruchquote bei wegen vollendeten Mordes abgeurteilten Untersuchungsgefangenen deutlich höher als im Gesamtaufkommen der Untersuchungsgefangenen. Im Jahr 2020 wurden von den insgesamt 27.542 Personen, gegen die Untersuchungshaft angeordnet wurde, 462 Personen freigesprochen. Die Freispruchquote liegt damit bei 1,68 %. Demgegenüber wurden von den 153 Personen, bei denen wegen des Verdachts des vollendeten Mordes Untersuchungshaft angeordnet wurde, nur 129 Personen zu einer Freiheitsstrafe (84,31 %) und 6 Personen zu einer Jugendstrafe (3,92 %) verurteilt. Bei den übrigen Personen ergingen andere Entscheidungen; insbesondere wurden 5 Personen freigesprochen (3,27 %).[124] Die Freispruchquote ist beim vollendeten Mord damit doppelt so hoch wie im Gesamtaufkommen aller Straftaten. Aufgrund der mit dem Zeitabstand zwischen dem früheren und neuen Verfahren einhergehenden Verlust der Beweismittelqualität und der daraus resultierenden Anfälligkeit des neuen Verfahrens für Fehler besteht Grund zur Prognose, dass die Freispruchquote bei Wiederaufnahmen nach § 362 Nr. 5 StPO deutlich höher liegen wird.
Vorschläge, den Verdachtsgrad höher anzusetzen, indem man etwa eine grundlegende Änderung der Sachverhaltsrekonstruktion oder Beweislage durch die neue Tatsache oder das neue Beweismittel fordert[125] oder eine besonders hohe Verlässlichkeit der neuen Tatsache oder des neuen Beweismittels,[126] führen nicht weiter, weil der Unterschied zum dringenden Tatverdacht unklar bleibt und es auch bleiben muss. Ist es nicht selbstverständlich, dass bei einem aus Mangel an Beweisen Freigesprochenen die neuen Tatsachen oder Beweismittel, die einen dringenden Verdacht gegen ihn begründen, zugleich die Beweislage grundlegend ändern (früher: keine Überzeugung im Sinne von § 261 StPO, heute: große Verurteilungswahrscheinlichkeit)? Und worauf soll eine große Verurteilungswahrscheinlichkeit nach einem früheren Freispruch denn sonst gründen, wenn nicht auf besonders verlässlichen neuen Tatsachen oder Beweismitteln? Wenn man für die ungünstige Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO - weitergehend - voraussetzte, dass die neuen Tatsachen oder Beweise die Verurteilung des Freigesprochenen "zweifelsfrei" tragen,[127] geriete dies in Konflikt mit der für die Ergebnisoffenheit des - zu dem Zeitpunkt ja noch nicht abgeschlossenen - neuen Verfahrens streitenden
Unschuldsvermutung:[128] Die Zweifelsfreiheit lässt sich schließlich nur auf Grundlage der neuen Erkenntnisse und der bisherigen - also nach Aktenlage - beurteilen.
Obwohl eine Beschränkung auf solche Erkenntnismittel im Wortlaut des § 362 Nr. 5 StPO nicht zum Ausdruck kommt, argumentiert die Gesetzesbegründung mit wahrheitsfördernden Potenzialen neuer Technik.[129] Dem hier durchscheinenden Urvertrauen, neue Technik bringe der Strafrechtspflege unmittelbar mehr Wahrheit und mittelbar mehr Gerechtigkeit, wird nicht nur durch die unvermeidbare Fehleranfälligkeit jeder Technik - man erinnere sich etwa an den Fall des "Heilbronner Phantoms" - die Grundlage entzogen.[130] Schwerer wiegt, dass das mit neuer Technik Beweisbare gerade mit Blick auf die von § 362 Nr. 5 StPO erfassten Delikte sehr begrenzt ist. Beispielsweise kann mit einer DNA-Analyse ohne Hinzutreten weiterer Verdachtsmomente bestenfalls die Anwesenheit eines Menschen an einem bestimmten Ort bewiesen werden,[131] wobei bei Lichte betrachtet schon dies mit Vorsicht zu genießen ist: Im Grunde genommen beweist eine DNA-Spur am Tatort nur, dass dort eine solche vorhanden ist, aber nicht, wie sie dorthin gekommen sein mag. So oder so taugt sie schon gar nicht zur Abgrenzung zwischen Mord und Totschlag.[132] DNA-Spuren in Gestalt von Sekretanhaftungen an einem Opfer mögen beispielsweise darauf hindeuten, dass der Angeklagte mit dem Opfer den Geschlechtsverkehr ausgeführt hat; sie sagen aber nichts darüber aus, ob dieser Geschlechtsverkehr einvernehmlich oder mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben - dies setzte das Anfang der Achtzigerjahre geltende Strafrecht für eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung voraus - erfolgte; das Ergebnis molekulargenetischer Untersuchungen solcher Spuren sagt ebenso wenig über innere Vorgänge des Angeklagten aus. Es kann insbesondere nicht erhellen, ob das Opfer zur Verdeckung eines zuvor erzwungenen Geschlechtsverkehrs getötet wurde. Dem neuen Wiederaufnahmegrund liegt die naive Vorstellung zugrunde, als wäre die neue Tatsache oder das neue Beweismittel das fehlende Puzzlestück, das bis jetzt zur Überführung des Freigesprochenen gefehlt hätte, und als wäre der Fall mit diesem neuen Erkenntnismittel glasklar. In Wahrheit wird das Gericht im Fall einer Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO nicht umhinkommen, auf weitere Erkenntnismittel zurückzugreifen. Die Erkenntnismittel, auf die das Gericht zurückgreifen muss, werden freilich mit zunehmendem Zeitablauf an Qualität verloren haben.
Zu berücksichtigen ist auch, dass der Gesetzgeber mit § 362 Nr. 5 StPO zwar eine Rechtskraftdurchbrechung zur Verfolgung unverjährbarer Straftaten erlaubt, aber mit § 51 BZRG gleichzeitig in diesem Zusammenhang oft wichtige Beweismittel für unverwertbar erklärt. Nach dieser Vorschrift sind Beweise im Zusammenhang mit tilgungsreifen Vorverurteilungen unverwertbar - auch wenn nunmehr der Vorwurf eines in § 362 Nr. 5 StPO aufgeführten Delikts in Rede steht. Solche tilgungsreifen "Vorstrafen und die mit ihr im Zusammenhang stehenden Ermittlungserkenntnisse stellen in der Praxis sehr häufig äußerst wichtige Beweismittel dar, die sich gerade bei der Aufklärung lange zurückliegender Taten nicht nur für die Tataufklärung als relevant, sondern im Unterschied zu anderen Beweismitteln auch als valide rekonstruierbar erweisen. Außerdem geben Vorverurteilungen oft Auskunft über die Persönlichkeit und die Lebensweise des Beschuldigten in einer spezifischen Lebensphase und stellen, selbst wenn kein direkter indizieller Zusammenhang zur Tat besteht, wichtige mittelbare Indiztatsachen dar.[…]Nicht selten ergeben sich[…]sogar die ausschlaggebenden Beweisanzeichen aus dem Tatmuster bzw. dem modus operandi anderer Straftaten."[133]
Es besteht nach alledem Grund zur Annahme, dass nach § 362 Nr. 5 StPO wiederaufgenommene Prozesse häufig mit einem Freispruch enden werden.[134] Dies betrifft wohl auch die Konstellation der Nichterweislichkeit eines Mordmerkmals bei gleichzeitiger Erweislichkeit einer vorsätzlichen Tötung durch den Angeklagten. Allerdings ist die Gesetzeslage unklar. Dem durchaus berechtigten Hinweis in einer Stellungnahme zum Gesetzesentwurf in BTDrucks 19/30399, wegen § 373 Abs. 1 StPO dürfe der Beschuldigte nach Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO wegen Mordverdachts dann, wenn am Ende der erneuten Hauptverhandlung sich kein Mordmerkmal zur Überzeugung des Gerichts feststellen lässt, wegen Totschlags verurteilen, und der Gesetzgeber müsse, wenn er dies anders wolle, dies in § 373 StPO klarstellen,[135] ist keine gesetzgeberische Entscheidung gefolgt. Andererseits sprechen für einen Freispruch der Wortlaut von § 362 Nr. 5 StPO ("wegen Mordes[…] verurteilt wird") und der Umstand, dass die diesen Wiederaufnahmegrund aus Sicht des Gesetzgebers tragende Unverjährbarkeit der dort genannten Delikte für den einfachen Totschlag nach § 212
Abs. 1 StGB nicht greift.[136] Zwar dürfte dieses Ergebnis für das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung, in der die Vorstellung, Mord sei jede vorbedachte beziehungsweise mit Überlegung entsprechend einem Plan vorgenommene und Totschlag jede im Affekt begangene Tötung, nach wie vor verbreitet ist,[137] schwer vermittelbar sein. Warum aber die vom Gesetzgeber sehenden Auges geschaffene unklare Rechtslage zum Nachteil des Einzelnen aufzulösen sein soll, versteht sich nicht von selbst. Mag § 362 Nr. 5 StPO mit Sicht auf die von dieser Vorschrift erfassten Delikte noch hinreichend bestimmt sein, gilt ein anderes für das Zusammenspiel dieser Norm mit § 373 StPO. Insoweit ist das Verfassungspostulat der Rechtsklarheit verletzt, das über die Bestimmtheit von Einzelnormen hinausgehend die Klarheit des Norminhalts und die Voraussehbarkeit der Ergebnisse der Normanwendung gerade auch im Hinblick auf das Zusammenwirken von Normen absichert.[138] An der aus Gründen der Rechtsklarheit geforderten Widerspruchsfreiheit des Zusammenspiels von Normen[139] fehlt es, weil der Gesetzgeber versäumt hat, den Widerspruch zwischen § 362 Nr. 5 StPO (nach erneuter Hauptverhandlung ist nur eine Verurteilung wegen der dort genannten Delikte zulässig oder der Angeklagte ist freizusprechen) und § 373 Abs. 1 StPO (nach erneuter Hauptverhandlung ist das Gericht nicht auf eine Verurteilung der in § 362 Nr. 5 StPO genannten Delikte beschränkt) aufzulösen. Dieses Versäumnis ist gravierend, zumal der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren auf diesen Widerspruch hingewiesen worden war.
Wenn Befürworter der Neuregelung auf das englische Strafverfahrensrecht oder das 7. Zusatzprotokoll zur EMRK verweisen[140] und damit der Sache nach eine eindeutige internationale Rechtsentwicklung behaupten, führt dies in die Irre. Die internationalen Entwicklungstendenzen weisen keineswegs eindeutig in Richtung einer erleichterten ungünstigen Wiederaufnahme. Das Beispiel Frankreichs, wo die ungünstige Wiederaufnahme des Strafverfahrens ausnahmslos unzulässig (Art. 368 Code de procédure pénale) und diese Unzulässigkeit auch verfassungsrechtlich abgesichert ist,[141] zeigt, dass öffentlichen Stimmungen durchaus standgehalten werden kann, ohne dass das Vertrauen der Allgemeinheit in die Justiz hieran Schaden nimmt. Auch in Frankreich gab es Fälle, in denen Jahrzehnte nach einem Freispruch DNA-Analysen auf eine Täterschaft des im früheren Verfahren Freigesprochenen hindeuteten und die darin gipfelten, dass 91 % der Franzosen damaligen Umfragen zufolge eine Lockerung des Wiederaufnahmerechts befürworteten. Am Ende hielt der Gesetzgeber am absoluten Verbot der ungünstigen Wiederaufnahme fest.[142]
Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK trägt die Erweiterung des § 362 StPO um Nr. 5 nicht. Die Vorschrift verbürgt den Satz ne bis in idem im Grundsatz mit ähnlicher Zielrichtung wie Art. 103 Abs. 3 GG, enthält aber anders als die Verfassungsnorm eine Schrankenregelung. Die Vorschrift schließt die Wiederaufnahme nicht aus, "falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen":
"The provisions of the preceding paragraph shall not prevent the reopening of the case in accordance with the law and penal procedure of the State concerned, if there is evidence of new or newly discovered facts, or if there has been a fundamental defect in the previous proceedings, which could affect the outcome of the case.”
Es wäre indes schon im Ansatz verfehlt, die grundgesetzliche Schutznorm des Art. 103 Abs. 3 GG im Hinblick auf die Schrankenregelung des Art. 4 Abs. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK einschränkend auszulegen. Denn zum einen hat die Bundesrepublik das 7. Zusatzprotokoll zur EMRK nicht ratifiziert, weswegen diesem insofern für die Bundesrepublik von vorneherein keine Bindungswirkung zukommt. Zum anderen reicht der Begriff der neuen Tatsachen oder Beweismittel in § 362 Nr. 5 StPO über den Gehalt des nach Art. 4 Abs. 1 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK zur Beschränkung des Satzes ne bis in idem Zulässigen hinaus. Nach der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR sind Tatsachen "neu bekannt geworden" ("newly discovered"), wenn es sie im früheren Verfahren bereits gab, aber sie dem Gericht verborgen waren und sie erst nach dem Verfahren bekannt werden; sie sind "neu" ("new"), wenn sie erst nach dem Abschluss des früheren Verfahrens entstehen:
"[…]circumstances relating to the case which exist during the trial, but remain hidden from the judge, and become known only after the trial, are ‚newly discovered‘. Circumstances which concern the case but arise only after the trial are ‘new’[…]."[143]
Weil für § 362 Nr. 5 StPO - wie auch für § 359 Nr. 5 StPO - schon genügt, dass Tatsachen oder Beweismittel in der früheren Hauptverhandlung nicht erörtert wurden und daher nicht zur Urteilsgrundlage gemacht werden konnte, es aber der Wiederaufnahme nach dieser Vorschrift nicht entgegensteht, wenn das Gericht im früheren Verfahren sehr wohl Kenntnis von diesen Tatsachen oder Beweismitteln hatte, würden zahlreiche Wiederaufnahmen nach § 362 Nr. 5 StPO auch gegen Art. 4 des 7. Zusatzprotokolls zur
EMRK verstoßen, wenn dieser für die Bundesrepublik verbindlich wäre.
Vor allem aber ist jeder Versuch, Art. 103 Abs. 3 GG unter Hinweis auf die EMRK restriktiv zu verstehen, aber schon im Ansatz verfehlt, weil der internationale Menschenrechtsstandard nicht so interpretiert werden darf, dass er für eine Verkürzung des nationalen Grundrechtsschutzes herhalten kann. Gemäß Art. 7 des 7. Zusatzprotokolls in Verbindung mit Art. 53 EMRK ist ein weiterreichender Grundrechtsschutz nach nationalem Recht gerade konstitutiv geschützt. Dies ist auch im Wortlaut von Art. 4 des Zusatzprotokolls angelegt ("Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz[…]des betreffenden Staates"). Es ist gerade nicht Sinn der Konventionsverbürgungen, zur Rechtfertigung für eine Schmälerung des nationalen Grundrechtsschutzes herzuhalten, sondern vielmehr, einen Mindeststandard für das gesamte Konventionsgebiet zu etablieren.[144]
Aus diesem Grunde wäre es - anders als bei einem auf eine Grundrechtsschutzerweiterung zielenden Blick auf die internationale Entwicklung[145] - auch verfehlt, eine etwaige restriktive Entwicklung der Interpretation und Anwendung des Satzes ne bis in idem im Bereich der Konventionsstaaten oder sogar noch darüber hinaus mit Verweis auf nicht durch die Konvention gebundene Staaten als Begründung für eine restriktive Neuinterpretation des Art. 103 Abs. 3 GG heranzuziehen. Sicher ist ein Blick auf internationale Entwicklungen sinnvoll, wenn es um die Stärkung des nationalen Grundrechtsschutzes geht.[146] Eine restriktive Neuinterpretation der deutschen Grundrechtsordnung im Hinblick auf internationale Schutzregime mit einem niedrigeren Schutzniveau wäre aber grundsätzlich und besonders für die historisch aufgeladene Norm des Artikel 103 Absatz 3 GG nicht vertretbar.
§ 362 Nr. 5 StPO bewirkt, soweit die Vorschrift auch vor ihrem Inkrafttreten in Rechtskraft erwachsene Freisprüche erfasst, eine echte Rückwirkung. Zwar lässt sich dem Wortlaut der Vorschrift keine klare Aussage zu ihrem intertemporalen Anwendungsbereich entnehmen. Da der Gesetzgeber bei Einführung von § 362 Nr. 5 StPO aber gerade den Fall des Beschwerdeführers vor Augen hatte und ermöglichen wollte, diesen mit dem neuen Wiederaufnahmegrund erneuter Strafverfolgung zuzuführen, ist davon auszugehen, dass die Vorschrift durchaus auf Fälle anwendbar ist, in denen der Freispruch vor dem 30. Dezember 2021, dem Datum des Inkrafttretens von § 362 Nr. 5 StPO, rechtskräftig geworden war. Der in dieser Beziehung offene Wortlaut der Norm lässt diese Auslegung zu.
So verstanden entfaltet § 362 Nr. 5 StPO eine echte Rückwirkung.[147] Der hierfür vorauszusetzende ändernde Eingriff in einen abgeschlossenen Sachverhalt[148] ist hier darin zu sehen, dass § 362 Nr. 5 StPO seinem Wortlaut und Zweck nach bewirkt, die vor Inkrafttreten dieser Norm eingetretene Rechtskraft von Freisprüchen unter den dort genannten Voraussetzungen zu überwinden. Bisher konnten die von § 362 Nr. 5 StPO Betroffenen darauf vertrauen, dass eine Wiederaufnahme nur unter den Voraussetzungen von § 362 Nr. 1 bis 4 StPO zulässig ist. Schon weil die Möglichkeit außerordentlicher Rechtsbehelfe, wie des Antrags auf Wiederaufnahme des Verfahrens, den Eintritt der Rechtskraft nicht hindert,[149] macht die bloße Möglichkeit der Wiederaufnahme aus dem mit dem Freispruch rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahren, also einem abgeschlossenen Sachverhalt, keinen noch laufenden, zumal Art. 103 Abs. 3 GG den mit dem Freispruch bewirkten Verfahrensabschluss vorbehaltlos mit Verfassungskraft schützt und die Wiederaufnahmevorschrift in § 362 StPO als Ausnahme konzipiert ist.[150]
Diesem Vertrauen, für das die Rechtsordnung mit der früheren Gesetzeslage selbst die Grundlage geschaffen hat, entzieht die Neuregelung nachträglich und von den Betroffenen unerwartet den Boden. Die im Schrifttum vereinzelt vertretene Auffassung, alle von § 362 Nr. 5 StPO betroffenen Freigesprochenen hätten schon vor der Reform mit einer Wiederaufnahme rechnen müssen, weil § 362 StPO allgemein klarstelle, dass jedes rechtskräftige Strafurteil unter dem Vorbehalt exzeptioneller Wiederaufnahmegründe stehe,[151] ist lebensfern und wird der orientierungsgebenden Funktion des gesetzten Verfahrensrechts nicht gerecht.
Dem Vertrauen der Betroffenen in die Rechtskraft ihrer Freisprüche und in die Möglichkeit einer ungünstigen Wiederaufnahme nur unter den Voraussetzungen von § 362 Nr. 1 bis 4 StPO wurde auch nicht dadurch die Grundlage entzogen, dass die Erweiterung des § 362 StPO seit Jahrzehnten wiederholt Gegenstand von -
überwiegend gescheiterten - Gesetzesinitiativen war. Zwar entfällt schutzwürdiges Vertrauen in die geltende Rechtslage bereits dann, wenn mit einer Neuregelung ernsthaft zu rechnen ist.[152] Die zur Vertrauensbeseitigung erforderliche hohe Wahrscheinlichkeit, mit der die Rechtsänderung absehbar gewesen sein muss, besteht grundsätzlich erst mit dem Gesetzesbeschluss.[153]
Soweit - wohlbemerkt nur für die hier nicht einschlägige unechte Rückwirkung - ausnahmsweise genügen soll, dass ein initiativberechtigtes Organ einen Gesetzentwurf in den Bundestag einbringt,[154] ist zu bedenken, dass die Gesetzesinitiativen sich zwar auf die Einführung einer ungünstigen Wiederaufnahme propter nova bezogen, aber insbesondere an das neue Erkenntnismittel unterschiedliche Anforderungen stellten:
· In BTDrucks 12/6219, S. 3 und BTDrucks 13/3594, S. 3 ging es um "neue Tatsachen oder Beweismittel[…], die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen jeden begründeten Zweifel ausschließen, daß der Angeklagte in einer neuen Hauptverhandlung der Begehung eines Mordes (§ 211 StGB) oder Völkermordes (§ 220a StGB) überführt werden wird."
· In BTDrucks 16/7957, S. 5 sowie in BRDrucks 222/10, S. 7 sollte die ungünstige Wiederaufnahme zugelassen werden, "wenn auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils, in dem die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, nicht zur Verfügung standen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früheren Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen" wegen "vollendeten Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuchs), Völkermordes (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder Kriegsverbrechend gegen eine Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder wegen der mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahndenden vollendeten Anstiftung zu einer dieser Taten" geeignet sind.
Mit § 362 Nr. 5 StPO vergleichbar sind indessen nur die ersten beiden Gesetzesinitiativen. Ihr Scheitern durfte das Vertrauen der Betroffenen in den Fortbestand der früheren Rechtslage bestärken. Hieran änderten auch die im Jahr 2007 mit BTDrucks 16/7957 und im Jahr 2010 mit BRDrucks 222/10 unternommenen Anläufe nichts, weil sie den Kreis der wiederaufnahmebegründenden neuen Erkenntnismittel auf Früchte des kriminaltechnischen Fortschritts beschränkten und weil auch sie scheiterten. Frühestens mit dem Gesetzesentwurf BTDrucks 19/30399 hätte also mit einer Verschlechterung der Rechtslage gerechnet werden müssen, wobei wiederum nach der Vielzahl von gescheiterten Initiativen bezweifelt werden darf, ob wirklich "ernsthaft" mit deren Erfolg zu rechnen war, zumal die vergangene Regierungskoalition das Thema auf die lange Bank geschoben und erst in den letzten Tagen des letzten Bundestages erledigt hat.
Die empirisch nicht valide fundierte und damit rein spekulative Annahme, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Integrität der Rechtsordnung nähme ohne den neuen Wiederaufnahmegrund Schaden, weswegen ein die echte Rückwirkung rechtfertigender zwingender Gemeinwohlbelang verfolgt würde, greift nicht durch. Wenn die Mütter und Väter des Grundgesetzes mit Art. 103 Abs. 3 GG in der Abwägung zwischen Rechtskraft und Gerechtigkeit klar für den Vorrang der Rechtskraft eingeräumt haben,[155] kann der Ungelegenheit dieses Abwägungsergebnisses für die von § 362 Nr. 5 StPO betroffenen Fälle nicht die Eigenschaft als zwingender Gemeinwohlbelang zugesprochen werden.[156] Bei der Beurteilung, ob eine echte Rückwirkung ausnahmsweise zulässig ist, sind über die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit hinaus auch die von der Rückwirkung beeinträchtigten Grundrechtspositionen zu berücksichtigen.[157]
Eine Wiederaufnahme nach § 362 Nr. 5 StPO kann nicht den Anspruch erheben, materielle Gerechtigkeit herzustellen, weil für eine solche Wiederaufnahme schon der Verdacht bestimmter Straftaten genügt. Die Strafrechtspflege richtet hier realen Schaden an, ohne sicher zu wissen oder auch nur sicher wissen zu können, ob der frühere Freispruch auch tatsächlich zu Unrecht erfolgt war. Die Idee, man könne diesmal ein besseres - also materiell gerechteres - Ergebnis erzielen, ist realitätsfern, weil sich typischerweise die Beweislage zwischenzeitlich verschlechtert und hat damit das Risiko von Fehlverurteilungen zugenommen hat. Eine Strafrechtspflege, die dieses Fehlurteilsrisiko sehenden Auges hinnimmt und dem Freigesprochenen, der ja bereits ein Verfahren durchlaufen hat, die erheblichen Belastungen weiterer Strafverfahren zumutet, ohne Gewissheit über die Berechtigung dieses Ansinnens haben zu können, ist kurzsichtig.
Selbst unterstellt, der Freispruch wäre aus tatsächlichen Gründen zu Unrecht erfolgt, gibt die Schwere der Katalogtaten nach § 362 Nr. 5 StPO keinen Anlass zur Überwindung der Rechtskraft. Im Gegenteil: Die Schwere der Katalogtaten verlangt gerade nach besonderem Schutz der Rechtskraft. Rechtskraft soll Rechtsfrieden schaffen; weil aber Schwerkriminalität den Rechtsfrieden besonders empfindlich stört, besteht gerade hier ein besonderer Bedarf nach Rechtskraft. Denn das erst späte Auftauchen neuer Erkenntnisse ist bei § 362 Nr. 5 StPO grundsätzlich niemandem vorzuwerfen. Bei den herkömmlichen
Wiederaufnahmegründen ist das anders. § 362 Nr. 1 bis 3 StPO betreffen strafbare Vorgänge. Hier lässt sich ein Vorwurf an den Staat begründen: Die strafbaren Vorgänge sind im früheren Verfahren unerkannt geblieben und auch die Strafgesetzgebung vermochte sie nicht zu verhindern. Bei Nr. 4 StPO tritt die Rechtskraft zurück, weil der Angeklagte mit seinem glaubhaften Geständnis den Rechtsfrieden selbst stört. Hier gibt er selbst Anlass für die Überwindung der Rechtskraft. Das Auftauchen neuer Tatsachen oder Beweismittel ist dagegen schicksalhaft, es ist niemandem anzulasten.
[*] Der Verfasser ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Nebengebiete an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Im Verfassungsbeschwerdeverfahren mit dem Aktenzeichen 2 BvR 900/22 vertritt der Verfasser die Bundestagsfraktionen der FDP und von Bündnis 90/Die Grünen. Der Beitrag beruht auf der vom Verfasser in diesem Verfahren abgegebenen schriftlichen Stellungnahme.
[1] So die herrschende Lehre, s. Brade NStZ 2020, 717; Aust/Schmidt ZRP 2020, 251; Ruhs ZRP 2021, 88, 90; Arnemann StraFo 2021, 442, 443 ff.; Eichhorn KriPoZ 2021, 358; Leitmeier StV 2021, 341; Slogsnat ZStW 133 (2021), 741; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 362 Rn. 16 ff.; Jahn JuS 2022, 554; Kaspar GA 2022, 21; Singelnstein NJW 2022, 1058; Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2022, § 362 Rn. 27 f.; vgl. auch Frister/Müller ZRP 2019, 101, 103; Schmahl, in: Schmidt-Bleibtreu, GG, 15. Aufl. (2021), Art. 103 Rn. 88; Bayer, Die strafrechtliche Wiederaufnahme im deutschen, französischen und englischen Recht, 2019, S. 324; Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, 2016, passim; Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 978 ff.
[2] Begriff nach Nolte, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 5, § 135 Rn. 1; zur Anwendbarkeit von Art. 103 Abs. 3 GG auch auf Freisprüche s. BVerfGE 12, 62, 66; Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 42 m.w.N.
[3] Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 312; vgl. auch Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 40; Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 189; ähnlich Swoboda HRRS 2009, 188, 197.
[4] Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 35 m.w.N.
[5] Nolte, in: HGR, Bd. 5, § 135 Rn. 7.
[6] Treffend Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 981.
[7] Eingehend mit zahlenreichen Nachweisen Gaede ZStW 129 (2017), 911.
[8] Vgl. OLG Karlsruhe VersR 2016, 839.
[9] Die entehrende Wirkung von Strafe erkennt auch das Bundesverfassungsgericht an, wenn es in der Strafe ein autoritatives Unwerturteil sieht (BVerfGE 22, 49, 79) oder hervorhebt, dass die Strafe den in der Menschenwürde wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch berührt (BVerfGE 109, 133, 171 ff.; 140, 317, 343 ff.).
[10] Vgl. Gaede ZStW 129 (2017), 911, 914 m.w.N.
[11] Vgl. aber auch die auf Sachverhaltsaufklärung zielenden, nicht selten besonders grundrechtsinvasiven Zwangsmaßnahmen nach §§ 81 ff., 100a ff. StPO.
[12] Bennefeld-Kersten, Suizide von Gefangenen in Deutschland 2000 bis 2010, passim.
[13] Im Schnitt nimmt ein Entschädigungsverfahren 15 Monate in Anspruch, Hoffmann/Leuschner, Rehabilitation und Entschädigung nach Vollstreckung einer Freiheitsstrafe und erfolgreicher Wiederaufnahme, 2017, S. 47.
[14] Krit. Pohlreich JöR 69 (2021), 233, 241.
[15] Gaede ZStW 129 (2017), 911, 915.
[16] BVerfGE 152, 152, 200; EGMR, Urteil vom 28. Juni 2018, Nr. 60798/19 u.a., M.L. und W.W. ./. Deutschland, §§ 104 f.
[17] Vgl. BVerfGE 35, 202, 231.
[18] Dass der in § 362 Nr. 5 StPO vorausgesetzte Freispruch sich auf einen der dort genannten Straftatbestände bezogen haben muss, für die typischerweise Untersuchungshaft anzuordnen ist, lässt sich der Vorschrift nicht entnehmen. Vielmehr genügt jeder Freispruch.
[19] Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3, Rechtspflege Strafverfolgung, 2021, S. 380 f.
[20] Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3, Rechtspflege Strafverfolgung, 2021, S. 406 f.
[21] Während der Beschuldigte zu seiner Entlastung mitunter auf Spenden angewiesen ist, um eine hierzu notwendige sachverständige Begutachtung zu finanzieren, verfügt die Staatsanwaltschaft über entsprechende kriminaltechnische Labore. Fälle wie der von Manfred Gendetzki, der als vermeintlicher Badewannenmörder 13 Jahre unschuldig in Haft verbrachte und nur durch Spenden empörter Menschen ein Wiederaufnahmeverfahren anstrengen und das Gericht von seiner Unschuld überzeugen konnte (https://www.sueddeutsche.de/bayern/jusitz-badewannen-1.5638601?reduced=true, abgerufen am 16. Mai 2023), haben in Deutschland bemerkenswerterweise nicht zu allgemeineren Initiativen nach Beispiel des US-amerikanischen Innocence Projects geführt, mit dessen Hilfe unschuldige Gefangene die Unterstützung bekommen, derer sie zur Wiedererlangung ihrer Freiheit bedürfen (https://innocenceproject.org/about/, abgerufen am 16. Mai 2023).
[22] Vgl. BVerfGE 63, 45, 67; 63, 380 392 f.; 122, 248, 272; 133, 168, 200.
[23] BVerfGE 38, 105, 111; 63, 45, 61; 122, 248, 272; BVerfG NJW 2007, 499, 500; 2014, 2563.
[24] Stock, Strafprozeßrecht, 1952, S. 175.
[25] Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), Vor § 359 Rn. 15.
[26] Grünewald ZStW 120 (2008), 545, 549 ff. m.w.N.
[27] Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 190.
[28] Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. (1985), S. 671; vgl. auch Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), § 362 Rn. 4.
[29] Wornier, Das Verhältnis von materiellem und formellem Strafrecht während des Nationalsozialismus, 2010, S. 35 f.
[30] Entwurf eines Grundgesetzes des Verfassungskonvents der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948 - Darstellender Teil, abgedruckt bei Bucher, Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 2, 1981, S. 504, 572 f.
[31] Vgl. Hoven JZ 2021, 1154, 1160.
[32] Zinn, Wortprotokoll der 8. Sitzung des Ausschusses für Verfassungsgerichtshof und Rechtspflege vom 7. Dezember 1948, abgedruckt bei Büttner/Wettenger, Rat 13/II, S. 1449, 1465; s.a. Zinn, a.a.O., S. 1472.
[33] Schaedler, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 2, https://www.bundestag.de/resource/blob/848910/afb0dcd0044b2ccf64528079af787a12/stellungnahme-schaedler-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023 ).
[34] Schmitt JW 1934, 713, 714.
[35] Grünewald ZStW 120 (2008), 545, 553 m.w.N.
[36] VGH DJ 1938, 1193; vgl. die ähnliche Begründungsstruktur in VGH DJ 1941, 1077.
[37] § 3 des Gesetzes zur Änderung von Vorschriften des allgemeinen Strafverfahrens, des Wehrmachtsstrafverfahrens und des Strafgesetzbuches vom 16. September 1939, RGBl I, S. 1841. Weil die neue Entscheidung durch das Vordergericht ihrerseits mit Rechtsmitteln angegriffen werden konnte, ermöglichte die Nichtigkeitsbeschwerde, rechtskräftige Erkenntnisse der Strafjustiz so lange anzugreifen, bis das Urteil "gerecht" war, Wornier, Das Verhältnis von materiellem und formellem Strafrecht während des Nationalsozialismus, 2010, S. 65.
[38] Art. V §§ 34 ff. der Verordnung über die Zuständigkeit der Strafgerichte, die Sondergerichte und sonstige strafverfahrensrechtliche Vorschriften vom 21. Februar 1940, RGBl I, S. 405.
[39] Art. 7 § 2 der Verordnung zur weiteren Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 13. August 1942, RGBl I, S. 508.
[40] Art. 6 Nr. 2 der Dritten Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1943, RGBl I, 342.
[41] Doerner, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren, 1938, S. 428, 431. Dass die Erweiterung der ungünstigen Wiederaufnahme zugleich die Selbstbelastungsfreiheit der Angeklagten beeinträchtigen würde, ging in der damaligen Diskussion durchaus nicht unter: "Wenn sich künftig die Angeklagten infolge der Aussicht einer späteren Wiederaufnahme bei Aufkommen neuer Verdachtsmomente dazu bequemen sollten, selbst die Wahrheit anzugeben, dann wäre dies gewiß kein Schaden und würde eine Wiederaufnahme in den hier in Rede stehenden Fällen in zunehmendem Maße entbehrlich machen.", Niederreuther GS 1939, 303, 333.
[42] Freisler DJ 1937, 730, 731; Siegert DS 1935, 283, 287.
[43] Doerner, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren, 1938, S. 428, 429; vgl. auch Niederreuther GS 1939, 303, 335 ff.; Freisler DJ 1937, 730, 734: "Damm gegen Uferlosigkeiten".
[44] Doerner, in: Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren, 1938, S. 428, 431; vgl. auch Henkel, Das deutsche Strafverfahrensrecht, 1943, S. 447.
[45] Art. 6 Nr. 2 der Dritten Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1943, RGBl I, 342.
[46] Henkel, Das deutsche Strafverfahrensrecht, 1943, S. 447 f.
[47] Vgl. Gürtner, Das kommende deutsche Strafverfahren, 1938, S. 591 f.
[48] Bader, Die deutschen Juristen, 1947, S. 14.
[49] BVerfGE 3, 248, 252.
[50] BVerfGE 56, 22, 34 f.
[51] Conen, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 5 f., https://www.bundestag.de/resource/blob/848592/64681eb33676f05 e69226708321d1bc7/stellungnahme-conen_dav-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023 ).
[52] Jahn JuS 2022, 554, 556.
[53] Kries GA 1878, 169, 184.
[54] BTDrucks 19/30399, S. 10.
[55] https://www.change.org/p/bmjv-bund-gerechtigkeit-f%C3%BCr-die-ermordete-frederike-nachweislich-falsch-freigesprochene-mordtaten-verdienen-nicht-den-schutz-des-gesetzes-362-der-strafprozessordnung-muss-erg%C3%A4nzt-werden (abgerufen am 16. Mai 2023).
[56] So aber Kubiciel GA 2021, 380, 387.
[57] Vgl. die Pressemitteilung auf https://germancircle.blogspot.com/2016/04/wenn-neue-methoden-vorliegen.html (abgerufen am 16. Mai 2023).
[58] Löwe, StPO, 5. Aufl. (1888), § 402 Rn. 8.
[59] Conen, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 6, https://www.bundestag.de/resource/blob/848592/64681eb33676f05e69 226708321d1bc7/stellungnahme-conen_dav-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023); Frister/Müller ZRP 2019, 101, 103.
[60] Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 191.
[61] Schmidt, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl. (2019), Vor § 359 Rn. 5, unter Hinweis auf Hanack JZ 1973, 393 f. (Fn. 8).
[62] Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 65 m.w.N.
[63] Frister, in: Systematischer Kommentar, StPO, 5. Aufl. (2018), Vorbem. § 359 Rn. 6.
[64] Grünewald ZStW 120 (2008), S. 545, 547 f.
[65] Engländer/Zimmermann, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. (2019), Vor § 359 Rn. 3.
[66] Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Bd. III, 3. Aufl. (2018), Art. 103 Abs. 3 Rn. 13 und 37; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. (2018), Art. 103 Rn. 181; Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 62; Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 36.
[67] Im Ergebnis ebenso Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 362 Rn. 19 f.: "Paradigmenwechsel".
[68] Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S. 432.
[69] Grünewald ZStW 120 (2008), 545, 574 f.; Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 66; Bayer, Die strafrechtliche Wiederaufnahme im deutschen, französischen und englischen Recht, 2019, S. 315.
[70] Motive des RStPO-Entwurfs von 1874 zu § 323, S. 217, in: Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen III/1, 1880, S. 263.
[71] Vgl. Kaspar GA 2022, 21, 30, demzufolge Art. 103 Abs. 3 GG keinen Schutz des Täters "gegen sich selbst" garantiere.
[72] Motive des RStPO-Entwurfs von 1874 zu § 323, S. 218, in: Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen III/1, 1880, S. 263.
[73] A.A. Letzgus NStZ 2020, 717, 718.
[74] Am Rande sei bemerkt, dass die Verursachung von Spuren hier nicht Anknüpfungspunkt der Betrachtungen sein kann, auch wenn dies in der Literatur vereinzelt versucht wird (Zehetgruber JR 2020, 157, 163). Denn das Gesetz stellt seinem Wortlaut nach auf neue Tatsachen oder Beweise ab, die etwa im Fall des Beschwerdeführers nicht auf die Verursachung einer Spur zurückgehen, sondern auf die erst nach Rechtskrafteintritt möglich gewordene Spurenuntersuchung und -auswertung.
[75] Frister/Müller ZRP 2019, 101, 102.
[76] Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. (2017), Rn. 1374 ff.; Eschelbach, in: KMR-StPO, § 362 Nr. 5 (August 2005).
[77] Vgl. Bayer, Die strafrechtliche Wiederaufnahme im deutschen, französischen und englischen Recht, Baden-Baden 2020, S. 35 f. m.w.N.
[78] Kreicker, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. (2016), § 250 Rn. 2.
[79] Kreicker, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. (2016), § 250 Rn. 1.
[80] Diemer, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 9. Aufl. (2023), § 250 Rn. 1.
[81] Kreicker, in: Münchener Kommentar, StPO, 1. Aufl. (2016), § 250 Rn. 5.
[82] BVerfGE 65, 377, 382 f.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 362 Rn. 20; Aust/Schmidt ZRP 2020, 251, 252. Zur entsprechenden Rechtfertigung des Wiederaufnahmegrundes in § 89 Abs. 3 Satz 2 OWiG s. BTDrucks V/1269, S. 110.
[83] Eschelbach , in: KMR-StPO, § 362 Rn. 10 (August 2005).
[84] Vgl. Eschelbach, in: KMR-StPO, § 362 Rn. 10 (August 2005); vgl. auch Leitmeier StV 2021, 341, 345.
[85] BTDrucks 19/30399, S. 2.
[86] BTDrucks 19/30399, S. 10.
[87] BTDrucks 19/30399, S. 10. Eindeutig ist freilich auch dies nicht, soll der neue Wiederaufnahmegrund doch nach dem Willen des Gesetzgebers nur "nachträglich verfügbare Beweismittel" (BTDrucks 19/30399, S. 2) genügen lassen, was wiederum für ein anderes Begriffsverständnis spräche als im Zusammenhang mit § 359 Nr. 5 StPO.
[88] BVerfG NJW 2007, 207, 208; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 359 Rn. 30.
[89] Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), § 359 Rn. 93.
[90] OLG Frankfurt a.M. NJW 1978, 841; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 359 Rn. 31 m.w.N.
[91] Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 359 Rn. 32 m.w.N.
[92] Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 362 Rn. 14.
[93] Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), § 359 Rn. 110.
[94] Mit Blick hierauf krit. Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), § 362 Rn. 32.
[95] Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), § 362 Rn. 27.
[96] Leitmeier StV 2021, 341 (346); vgl. auch Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2022, § 362 Rn. 27.
[97] Die entsprechende Beurteilung von Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188 (190) zum Gesetzesentwurf in BR-Drucks 655/07 trifft auch auf § 362 Nr. 5 StPO zu.
[98] Leitmeier StV 2021, 341, 346.
[99] Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 190.
[100] Brade ZIS 2021, 362, 363.
[101] Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 362 Rn. 20: "Ein[…]rechtskräftig Freigesprochener befindet sich unter diesen Voraussetzungen potentiell in einem permanenten Beschuldigtenstatus".
[102] Zitiert nach Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 192.
[103] Vgl. die Redebeiträge der MdB Müller und Hoffmann in BTPlenProt 19/234, S. 30372 ff.
[104] So Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 362 Rn. 20; Ruhs ZRP 2021, 88, 89; vgl. auch Conen, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 9, https://www.bundestag.de/resource/blob/848592/ 64681eb33676f05e69226708321d1bc7/stellungnahme-conen_dav-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023 ).
[105] BTDrucks 19/30399, S. 10.
[106] Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 66. Aufl. (2023), § 362 Rn. 19; Frister/Müller ZRP 2019, 101, 103; Aust/Schmidt ZRP 2020, 251, 252 ff.
[107] Remmert, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 62; Brade ZIS 2021, 362, 363; Eichhorn KriPoZ 2021, 358, 359.
[108] So aber Sachs/Degenhart, GG, 9. Aufl. (2021), Art. 103 Rn. 84; Radtke, in: BeckOK, GG, Stand August 2022, Art. 103 Rn. 47; Dreier/Schulze-Fielitz, GG, Bd. III, 3. Aufl. (2018), Art. 103 Rn. 32; Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke/Schmahl, GG, 15. Aufl. (2021), Art. 103 Rn. 87.
[109] Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 GG Rn. 64 f.; Nolte/Aust, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. (2018), Art. 103 Rn. 181.
[110] Aust/Schmidt ZRP 2020, 251, 253.
[111] Aust/Schmidt ZRP 2020, 251, 253 f. unter Hinweis auf Suliak, in: LTO vom 19. November 2019, https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/strafrecht-freispruch-verurteilung-mord-dna-wiederaufnahme-doppelbestrafungsverbot/ (abgerufen am 16. Mai 2023); Kaspar GA 2022, 21, 33.
[112] Eichhorn KriPoZ 2021, 358, 369; Frister/Müller ZRP 2019, 101, 104; Pabst ZIS 2010, 126, 133; Scherzberg ZRP 2010, 271; a.A. Zehetgruber JR 2020, 157, 167; Hoven JZ 2021, 1154, 1160.
[113] Art. 75 ff. Criminal Justice Act 2003.
[114] The Law Commission (N° 267), Double Jeopardy and Prosecution Appeals, March 2001, §§ 4.22, 4.29-4.32, 4.41.
[115] Vgl. Schedule 5 Part 1 zum Criminal Justice Act 2003.
[116] Für eine Erweiterung um schwere Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter wie Leib und Leben, die sexuelle Selbstbestimmung oder die Freiheit Hörnle GA 2022, 184, 190 f.
[117] Slogsnat ZStW 133 (2002), S. 741, 756 f.
[118] Vgl. BTDrucks 19/30399, S. 9 f.
[119] Leitmeier StV 2021, 341, 343.
[120] Kaspar GA 2022, 21, 31.
[121] Vgl. BTDrucks 19/30399, S. 10.
[122] Frister/Müller ZRP 2019, 101, 103.
[123] In diesem Zusammenhang sind die in § 362 Nr. 5 StGB aufgeführten unverjährbaren Delikte nach dem VStGB im Vergleich zum Mord vernachlässigbar: Im Jahr 2020 steht die Aburteilung von 176 wegen vollendeten Mordes angeklagten Personen der Aburteilung von gerade einmal 5 wegen Straftaten nach dem VStGB angeklagten Personen gegenüber; von diesen 5 Personen wurde keine freigesprochen, vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3, Rechtspflege Strafverfolgung, 2021, S. 60 f. und 88.
[124] Vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 3, Rechtspflege Strafverfolgung, 2021, Tabelle 6.2, S. 416 f.
[125] Hörnle GA 2022, 184, 193 f.
[126] Gärditz, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 6, https://www.bundestag.de/resource/blob/848600/9 936b15d9f8bb01892ff71409db0b46b/stellungnahme-gaerditz-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023).
[127] Vgl. Letzgus, in: FS Geppert, S. 785, 797.
[128] Isfen , in: Oğlakcıoğlu/Schuhr/Rückert, Axiome des nationalen und internationalen Strafverfahrensrechts, 2016, S. 37, 49.
[129] Vgl. etwa BTDrucks 19/30399, S. 2: "Diese neuen technischen Verfahren führen dazu, dass zum Zeitpunkt des betreffenden Strafverfahrens bereits vorhandene und den Ermittlungsbehörden bekannte Beweismittel neu ausgewertet werden können, mit denen ein Tatnachweis so sicher geführt werden kann, dass ein Festhalten an der Rechtskraft des freisprechenden Urteils einen unerträglichen Gerechtigkeitsverstoß darstellen würde."
[130] Näher zur Fehleranfälligkeit der DNA-Analyse Artkämper StV 2017, 553, 555 ff.
[131] Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 191; Pabst ZIS 2010, 126, 129; Frister/Müller ZRP 2019, 101, 103.
[132] Marxen/Tiemann ZIS 2008, 188, 193 f.
[133] Bröckers KriPoZ 2022, 15, 17.
[134] Vgl. Bohn Betrifft Justiz 2016, S. 182, 185; Mansdörfer, in: Legal Tribune Online vom 11. September 2015, abrufbar unter http://www.lto.de/persistent/a_id/16851 (abgerufen am 16. Mai 2023 ).
[135] Vgl. Gärditz, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 2, https://www.bundestag.de/resource/blob/848600/9 936b15d9f8bb01892ff71409db0b46b/stellungnahme-gaerditz-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023 ); Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), § 362 Rn. 30; Hoven JZ 2021, 1154, 1162.
[136] Eisele, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 5, https://www.bundestag.de/resource/blob/848326/7b398e9ecb912 c0345208dd82c3fd5ba/stellungnahme-eisele-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023 ).
[137] Höcker, Lexikon der Rechtsirrtümer, S. 199; vgl. auch OLG Celle, Urteil vom 14. April 2016 - 5 U 121/15 - juris, Rn. 32.
[138] Vgl. BVerfGE 108, 52, 75; 110, 33, 53 f.
[139] BVerfGE 98, 106, 118 f.; 108, 169, 181 und 183; 119, 331, 366.
[140] Statt vieler Hörnle GA 2022, 184 f.
[141] Näher Pohlreich, in: Bonner Kommentar, GG, Stand November 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 18 m.w.N.
[142] Eingehend zu Anlass und Gang der parlamentarischen Debatte in Frankreich Bayer, Die strafrechtliche Wiederaufnahme im deutschen, französischen und englischen Recht, 2019, S. 192 ff.
[143] EGMR, Urteil der Grand Chamber vom 8. Juli 2019 - 54012/10 (Mihalache v. Rumänien), § 131.
[144] Thienel, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, 3. Aufl. 2022, Art. 53 Rn. 2.
[145] Hierzu etwa BVerfGE 157, 30; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1789/16 -, juris, Rn. 18 f.
[146] Exemplarisch BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021 - 1 BvR 2656/18 - oder BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1789/16.
[147] Aust/Schmidt ZRP 2020, 251, 254; Eichhorn KriPoZ 2021, 358, 361; Kuhli/May GA 2022, 37, 50; Gerson StV 2022, 124, 126; Schuster, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. (2022), § 362 Rn. 28; vgl. auch Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, S. 269 f.; Pabst ZIS 2010, 126, 130; Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 7 - 3000 - 121/16, S. 13; Kubiciel GA 2021, 380, 394.
[148] BVerfGE 132, 302, 318; 148, 217, 255.
[149] Kühne, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. (2006), Einl. Abschn. K Rn. 69.
[150] Vgl. Kaspar GA 2022, 21, 34.
[151] Gärditz, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz zu BTDrucks 19/30399, S. 7, https://www.bundestag.de/resource/blob/848600/9 936b15d9f8bb01892ff71409db0b46b/stellungnahme-gaerditz-data.pdf (abgerufen am 16. Mai 2023).
[152] BVerfGE 126, 369, 396.
[153] BVerfGE 72, 200, 262; stRspr.
[154] Vgl. BVerfGE 127, 31, 50; 132, 302, 324 f.; 145, 20, 98.
[155] S. die Nachweise in Fußnote 66.
[156] Aust/Schmidt ZRP 2020, 251, 254.
[157] BVerfGE 72, 200, 242.