HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2023
24. Jahrgang
PDF-Download




Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

485. BVerfG 2 BvR 626/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 21. März 2023 (LG Hamburg/AG Hamburg)

Verletzung des Fernmeldegeheimnisses durch Telekommunikationsüberwachung beim Sohn eines Mordverdächtigen (Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses; Beachtung der grundlegenden Bedeutung des Grundrechts; Telekommunikationsüberwachung gegenüber Nichtbeschuldigten; Eigenschaft als Nachrichtenmittler; Unerlässlichkeit einer gesicherten Tatsachenbasis; fehlende Grundlage für die Erwartung einer Kontaktaufnahme).

Art. 10 Abs. 1 GG; Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG; § 100a Abs. 1 Satz 1 StPO; § 100a Abs. 3 StPO

1. Eine Telekommunikationsüberwachung bei dem Sohn eines Mordverdächtigen, der nach der 1980 begangenen Tat alsbald nach Costa Rica ausgewandert ist und dessen letzter Kontakt zu seinem Sohn 30 Jahre zurückliegt, ist von Verfassungs wegen nicht haltbar, wenn die Behörden den selbst nicht verdächtigen Sohn als „Nachrichtenmittler“ im Sinne des § 100a Abs. 3 StPO einstufen, obwohl keine konkreten Tatsachen für die Annahme sprechen, er könnte mit seinem Vater in Verbindung treten.

2. Das Fernmeldegeheimnis schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs und umfasst nicht nur den Inhalt, sondern auch die Umstände der

Kommunikation. Das Grundrecht will den Gefahren begegnen, die sich aus dem Übermittlungsvorgang einschließlich der Einschaltung eines Dritten ergeben. Die Nutzung des Kommunikationsmediums soll in allem vertraulich sein.

3. Beschränkungen des Fernmeldegeheimnisses dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet werden. Dieses ist in seiner grundrechtsbegrenzenden Wirkung seinerseits wieder im Lichte des Fernmeldegeheimnisses und unter Beachtung der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts auszulegen.

4. Unter den Voraussetzungen des § 100a Abs. 3 StPO kann eine Telekommunikationsüberwachung auch gegenüber einem Nichtbeschuldigten angeordnet werden. Für die Annahme der insoweit gesetzlich vorausgesetzten Eigenschaft als Nachrichtenmittler ist von Verfassungs wegen eine gesicherte Tatsachenbasis unerlässlich. Das Gewicht des Eingriffs verlangt Verdachtsgründe, die über vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausreichen. Erforderlich ist, dass aufgrund der Lebenserfahrung oder der kriminalistischen Erfahrung fallbezogen aus Zeugenaussagen, Observationen oder anderen sachlichen Beweisanzeichen auf die Eigenschaft als Nachrichtenmittler geschlossen werden kann.


Entscheidung

483. BVerfG 2 BvR 116/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 24. März 2023 (LG Berlin)

Einstweiliger Rechtsschutz gegen die Verlegung eines Strafgefangenen aus der Sozialtherapeutischen Anstalt in den Regelvollzug (Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz bei Eilanträgen gegen belastende vollzugliche Maßnahmen; Recht auf wirksame gerichtliche Kontrolle in angemessener Zeit; Verhinderung des Eintritts vollendeter Tatsachen; verzögerte Entscheidung erst nach mehreren Monaten und nach Vollzug der Maßnahme; keine Rechtfertigung überlanger Verfahrensdauer durch angespannte Personalsituation oder Erkrankung des zuständigen Richters; richterlicher Ermessensspielraum bei der Prioritätensetzung nur innerhalb des Rahmens der Rechtsschutzgarantie; keine Erledigung eines Eilantrages mit Vollziehung einer anstaltsinternen Verlegung).

Art. 19 Abs. 4 GG; § 114 Abs. 2 StVollzG; § 18 StVollzG Bln

1. Eine Strafvollstreckungskammer verletzt einen Strafgefangenen in dessen Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, wenn sie über seinen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die langfristig angekündigte Verlegung aus der Sozialtherapeutischen Anstalt in den Regelvollzug erst nach knapp drei Monaten und nach zwischenzeitlichem Vollzug der Verlegung entscheidet, nachdem der zuständige Richter zeitweise erkrankt und zeitweise mit der Abfassung eines Urteils in einem anderen Verfahren befasst war.

2. Begehrt ein Gefangener im Eilrechtsschutzverfahren die vorläufige Aussetzung einer angekündigten anstaltsinternen Verlegung beziehungsweise nach deren Vollzug dessen Rückgängigmachung, so ist es mit dem Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht vereinbar, wenn die Strafvollstreckungskammer den Eilantrag mit der Begründung zurückweist, dieser habe sich mit dem Vollzug der Maßnahme erledigt, so dass das Rechtsschutzbedürfnis entfallen sei. Vielmehr ist die vorläufige Aussetzung des Vollzugs auch in diesem Fall gerade der typische Regelungsgehalt des vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes gegen belastende Maßnahmen.

3. Wenngleich es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden ist, dass der Gesetzgeber im Bereich des Strafvollzugs die sofortige Vollziehung einer Maßnahme als Regel und die Aussetzung des Vollzugs als Ausnahme vorsieht, muss mit Blick auf das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gewährleistet sein, dass der Gefangene umgehend eine gerichtliche Entscheidung darüber herbeiführen kann, ob sein Interesse an der Aussetzung das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung im konkreten Einzelfall überwiegt. Bei dieser Abwägung fällt der Rechtsschutzanspruch des Betroffenen umso stärker ins Gewicht, je schwerer die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahme Unabänderliches bewirkt.

4. Für die Fachgerichte ergeben sich aus der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes Anforderungen auch für den vorläufigen Rechtsschutz, der eine wirksame Kontrolle in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in angemessener Zeit zu eröffnen und so weit wie möglich dem Eintritt vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat.

5. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer bestimmt sich dabei nach den Umständen des Einzelfalls, wobei innerhalb des staatlichen Verantwortungsbereichs liegende Umstände, wie etwa eine allgemein angespannte Personalsituation, eine überlange Verfahrensdauer nicht rechtfertigen können. Im Falle der Erkrankung des zuständigen Richters obliegt es dem Gericht, die erforderliche Vertretung sicherzustellen oder andere geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um Verzögerungen durch einen krankheitsbedingten Ausfall auf ein Maß zu reduzieren, das dem Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit Rechnung trägt.

6. Zwar steht einem Gericht für die Bearbeitung anhängiger Verfahren grundsätzlich ein Ermessensspielraum zu, innerhalb dessen es nach eigener Gewichtung Prioritäten setzen kann. Eine solche Prioritätensetzung darf aber insbesondere in einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht dazu führen, dass Anträge wegen Zeitmangels nicht mehr zu einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle führen oder der Eintritt vollendeter Tatsachen durch das Gericht in Kauf genommen wird.


Entscheidung

484. BVerfG 2 BvR 325/23 (1. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 15. März 2023 (Schleswig-Holsteinisches OLG)

Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen eine Auslieferung nach Polen (Abwesenheitsurteil auf Grundlage einer Verfahrensverständigung; Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde; Erfordernis der Anhörungsrüge auch bei Geltendmachung eines anderen Grundrechtsverstoßes; Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör bei fehlender Bescheidung des Kerns des Parteivorbringens).

§ 32 Abs. 1 BVerfGG; § 90 Abs. 2 BVerfGG; § 33a StPO; § 77 Abs. 1 IRG; § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG

1. Die Entscheidung eines Oberlandesgerichts, mit der eine Auslieferung nach Polen für zulässig erklärt wird, verletzt den Verfolgten in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn die Beschlussgründe auf den Kern seines Vorbringens nicht eingehen, wonach es ein Auslieferungshindernis begründe, dass das dem Auslieferungsersuchen zugrundeliegende polnische Strafurteil - wenngleich diesem eine mit der Staatsanwaltschaft getroffene Verfahrensabsprache zugrunde lag - in seiner Abwesenheit ergangen ist.

2. Zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist ein Beschwerdeführer gehalten, eine unter Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör ergangene Entscheidung zunächst mit einer Anhörungsrüge anzugreifen. Dies gilt auch dann, wenn der Beschwerdeführer zwar keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG rügen will, durch die Anhörungsrüge aber die Möglichkeit wahrt, dass damit auch die geltend gemachten Grundrechtsverletzungen beseitigt werden.

3. Das Recht auf rechtliches Gehör gewährleistet den Verfahrensbeteiligten das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern.

4. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass ein Gericht seiner aus Art. 103 Abs. 1 GG folgenden Verpflichtung, das Vorbringen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen, nachgekommen ist, auch wenn es sich in den Entscheidungsgründen nicht ausdrücklich damit befasst. Schweigt eine Entscheidung jedoch zum Kern des Parteivorbringens, der für den Verfahrensausgang eindeutig von entscheidender Bedeutung ist, so lässt dies den Schluss zu, dass der Vortrag nicht beachtet worden ist.


Entscheidung

486. BVerfG 2 BvR 829/21 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 13. März 2023 (OLG Frankfurt am Main / LG Marburg)

Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre in einem „Altfall“ (Voraussetzungen der gesetzlichen Übergangsvorschrift; psychische Störung; hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten; Gefährlichkeitsprognose; Konkretisierung künftig zu erwartender Delikte; Grad der Wahrscheinlichkeit; Gebot bestmöglicher Sachaufklärung; Einholung eines Sachverständigengutachtens; Verweigerung der Exploration; Heranziehung von Vorgutachten; Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; Freiheitsgrundrecht; Sicherungsbelange der Allgemeinheit; Abwägung im Einzelfall; Bedeutung von Vollzugslockerungen; Rückfallrisiko bei unvorbereiteter Entlassung; Hinweispflicht der Strafvollstreckungsgerichte gegenüber der Vollzugsbehörde; Eigenverantwortung des Untergebrachten).

Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG; § 62 StGB; § 67d Abs. 3 Satz 1 StGB; Art. 316f Abs. 2 EGStGB

1. Die Anordnung der Fortdauer einer seit über zehn Jahre vollzogenen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung in einem sogenannten Altfall verletzt den Untergebrachten nicht in seinem Freiheitsgrundrecht, wenn die Strafvollstreckungskammer unter Heranziehung des Maßstabs aus der Übergangsregelung des Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB vertretbar darlegt, dass bei dem Verurteilten zwar keine dissoziale Persönlichkeitsstörung, jedoch eine gleichwohl als psychische Störung zu qualifizierende antisoziale und psychopatische Persönlichkeitsstruktur fortbesteht, infolge derer er mit hoher Wahrscheinlichkeit den Anlasstaten vergleichbare, mit impulshaften Gewalthandlungen verbundene und besonders schwerwiegende Raubtaten begehen wird.

2. Im Zusammenhang mit der Feststellung einer psychischen Störung und der Gefahrprognose ist das Vollstreckungsgericht zur Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nicht verpflichtet, wenn der Untergebrachte bereits eine Exploration durch die gerichtlich beauftragte, von ihm selbst benannte Sachverständige verweigert hat. Die Heranziehung von Vorgutachten ist insoweit ebenfalls verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn das Gericht gleichwohl die aktuelle Entwicklung in den Blick nimmt.

3. Die Entscheidung über die Fortdauer der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung erfordert eine eigenständige, auf die Besonderheiten des Einzelfalls bezogene Prognoseentscheidung des Gerichts, die sich darauf zu erstrecken hat, ob und welche Art rechtswidriger Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist (Häufigkeit, Rückfallfrequenz) und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Die von dem Untergebrachten ausgehende Gefahr ist hinreichend zu konkretisieren; der Grad der Wahrscheinlichkeit zukünftiger rechtswidriger Taten ist zu bestimmen.

4. Das auch für den Vollzug der Sicherungsverwahrung geltende Gebot bestmöglicher Sachaufklärung erfordert es, dass sich eine Fortdauerentscheidung auf ein hinreichend substantiiertes und anerkannten wissenschaftlichen Standards genügendes Sachverständigengutachten stützt. Dabei kommt auch einem ohne Exploration des Betroffenen allein nach Aktenlage erstellten Gutachten Bedeutung zu, weil der Sachverständige die Stellungnahmen der Unterbringungseinrichtung einer eigenständigen Bewertung zuführen wird, bei der sich seine gesteigerte Unvoreingenommenheit und kritische Distanz entfalten können. Ist der Untergebrachte zu einer Exploration nicht bereit, so hat er es hinzunehmen, dass das Gutachten nur auf eingeschränkter Beurteilungsgrundlage erstellt werden kann.

5. Bei dem Begriff der psychischen Störung im Sinne des Art. 316f Abs. 2 Satz 2 EGStGB handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der mit den überkommenen Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich ist. Ob seine Merkmale im Einzelfall erfüllt sind, haben die Gerichte - regelmäßig auf der Grundlage eines Sachverständigengutachtens - eigenständig zu prüfen. Abzustellen ist dabei auf den aktuellen psychischen (Dauer-)Zustand des Betroffenen und die daraus resultierende künftige Gefährlichkeit.

6. Bei der Entscheidung über die Fortdauer einer freiheitsentziehenden Maßregel ist dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dadurch Rechnung zu tragen, dass das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit und der Freiheitsan-

spruch des Untergebrachten einander als wechselseitiges Korrektiv gegenübergestellt und im Einzelfall gegeneinander abgewogen werden. Angesichts der unbestimmten Dauer der Sicherungsverwahrung kommt der Prüfung der Verhältnismäßigkeit insbesondere bei langandauernden Unterbringungen zur Wahrung einer realisierbaren Freiheitsperspektive über die strengen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Fortdaueranordnung hinaus eine eigenständige Bedeutung zu. Dabei sind die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzugs umso strenger, je länger die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung andauert.

7. Dem zunehmenden Gewicht des Freiheitsanspruchs kann insbesondere auch bei der Entscheidung über die Gewährung von Vollzugslockerungen Rechnung zu tragen sein. Denn bei langandauernden Unterbringungen kommt eine unvorbereitete Entlassung in der Regel nicht in Betracht. Den in Freiheit nicht erprobten Untergebrachten nach langen Jahren der Unterbringung unvorbereitet in die Freiheit zu entlassen, begründete für sich genommen einen erheblichen Risikofaktor für einen Rückfall.

8. Ist die Vollzugsbehörde bei der Gewährung von Vollzugslockerungen dem Freiheitsgrundrecht nicht hinreichend gerecht geworden, müssen die Strafvollstreckungsgerichte ihr unter Ausschöpfung ihrer prozessualen Möglichkeiten deutlich machen, dass Vollzugslockerungen geboten sind. Zugleich verlangt allerdings die Eigenverantwortung des Untergebrachten, dass er die Möglichkeit nutzt, sich (weitergehende) Lockerungen zu erstreiten, und dass er gewährte Lockerungen auch in Anspruch nimmt.