HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2022
23. Jahrgang
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Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des BVerfG/EGMR/EuGH


Entscheidung

462. EuGH C-562/21 (C-563/21) PPU – Urteil des EuGH (Große Kammer) vom 22. Februar 2022

ECLI:EU:C:2022:100; Eilvorabentscheidungsverfahren; Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen; Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens; Europäischer Haftbefehl (Vollstreckungsvoraussetzungen und laufendes Rechtsstaatsverfahren gegen Anordnungsstaat, echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht und zuvor durch Gesetz errichteten Gerichts; Darlegungslast des zu Übergebenden/Auszuliefernden).

Art. 2 EUV; Art. 3 EUV; Art. 6 EUV; Art. 7 EUV; Art. 19 EUV; Art. 267 AEUV; Art. 47 GRC; Art. 48 GRC; Art. 6 EMRK; Art. 1 Abs. 2 und 3 RBEuHB; Art. 3 RBEuHB; Art. 4 RBEuHB; Art. 4a RBEuHB; Art. 5 RBEuHB; Art. 7 RBEuHB; Art. 15 RBEuHB; Art. 107 EuGH-Verfahrensordnung

1. Art. 1 Abs. 2 und 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die vollstreckende Justizbehörde, wenn sie über die Übergabe einer Person zu entscheiden hat, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, und über Anhaltspunkte für das Bestehen systemischer oder allgemeiner Mängel in Bezug auf die Unabhängigkeit der Justiz des Ausstellungsmitgliedstaats verfügt, insbesondere was das Verfahren zur Ernennung

der Mitglieder der Justiz betrifft, die Übergabe dieser Person nur dann verweigern darf, wenn sie

– bei einem zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehl feststellt, dass es unter den besonderen Umständen des Falles ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass insbesondere unter Berücksichtigung der Angaben dieser Person zur Zusammensetzung des Spruchkörpers, der mit ihrer Strafsache befasst war, oder zu jedem anderen für die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Spruchkörpers relevanten Umstand das in Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundrecht dieser Person auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht verletzt wurde, und

– bei einem zur Strafverfolgung ausgestellten Europäischen Haftbefehl feststellt, dass es unter den besonderen Umständen des Falles ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass diese Person insbesondere unter Berücksichtigung ihrer Angaben zu ihrer persönlichen Situation, der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat, dem Sachverhalt, auf dem der Europäische Haftbefehl beruht, oder jedem anderen Umstand, der für die Beurteilung der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des Spruchkörpers, der voraussichtlich mit dem Verfahren gegen sie befasst sein wird, relevant ist, im Fall der Übergabe einer echten Gefahr der Verletzung dieses Grundrechts ausgesetzt ist. (EuGH)

2. Es ist Sache der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, konkrete Anhaltspunkte dafür vorzubringen, dass sich die systemischen oder allgemeinen Mängel des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaats im Fall eines Übergabeverfahrens zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung konkret auf die Behandlung ihrer Strafsache ausgewirkt haben bzw. im Fall eines Übergabeverfahrens zum Zweck der Strafverfolgung konkret auswirken können. (Bearbeiter)

3. Die Information, dass ein oder mehrere Richter, die an dem Verfahren beteiligt waren, das zur Verurteilung der Person geführt hat, um deren Übergabe ersucht wurde, auf Vorschlag eines Gremiums ernannt worden sind, das sich überwiegend aus Mitgliedern zusammensetzt, die die Legislative oder die Exekutive vertreten oder von diesen ausgewählt werden, wie dies im Falle Polens beim KRS seit dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 8. Dezember 2017 der Fall ist, reicht zur Darlegung der echten Gefahr einer Verletzung des Art. 47 Abs. 2 GRC nicht aus. Gleiches gilt für die Möglichkeit, dass einer oder mehrere Richter im Fall einer begehrten Übergabe zur Strafverfolgung unter Beteiligung der KRS ernannt worden sind. Eine solche Feststellung setzt in jedem Fall eine Einzelfallprüfung des Verfahrens zur Ernennung des betreffenden Richters oder der betreffenden Richter voraus. Dies gilt auch dann, wenn eine solche Prüfung erst nach der Übergabe möglich sein sollte. (Bearbeiter)

4. Die vollstreckenden Justizbehörden können die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls grundsätzlich nur aus den im Rahmenbeschluss 2002/584 abschließend aufgezählten Gründen für die Ablehnung der Vollstreckung verweigern, und die Vollstreckung des Haftbefehls kann nur an eine der Bedingungen geknüpft werden, die in Art. 5 des Rahmenbeschlusses erschöpfend aufgeführt sind. Folglich stellt die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung der Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist. (Bearbeiter)

5. Bei der Auslegung des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschluss 2002/584 ist sicherzustellen, dass nicht nur die Grundrechte der Personen gewahrt werden, deren Übergabe beantragt wird, sondern auch andere Interessen berücksichtigt werden, wie die Notwendigkeit, gegebenenfalls die Grundrechte der Opfer der betreffenden Straftaten zu wahren. (Bearbeiter)

6. Die Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gegenüber einem Mitgliedstaat darf gemäß Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht faktisch ausgesetzt werden, wenn nicht eine schwere und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze, einschließlich des Rechtsstaatsprinzips, durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Europäischen Rat gemäß Art. 7 Abs. 2 EUV mit den Folgen von Art. 7 Abs. 3 EUV festgestellt wird. (Bearbeiter)

7. Zum Beispiel Informationen, über die die vollstreckende Justizbehörde verfügt und aus denen sich ergibt, dass ein bestimmter Richter an den mit der Strafsache gegen die betreffende Person befassten Spruchkörper abgeordnet wurde wobei der Justizminister diese Abordnung nach Kriterien, die nicht im Vorhinein bekannt sind, beschließen und jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann, können ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Feststellung sein, dass in diesem konkreten Fall eine echte Gefahr der Verletzung des besagten Grundrechts besteht. (Bearbeiter)

8. Gesichtspunkte, die eine echte Gefahr der Verletzung des besagten Grundrechts belegen, können unter anderem in Erklärungen staatlicher Behörden bestehen, die sich auf den konkreten Fall auswirken könnten. Die vollstreckende Justizbehörde kann sich auch auf jede andere ihr relevant erscheinende Information stützen, wie beispielsweise Informationen über die persönliche Situation der betroffenen Person, die Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des der Ausstellung des betreffenden Europäischen Haftbefehls zugrunde liegenden Sachverhalts, aber gegebenenfalls auch auf alle sonstigen Informationen, über die sie in Bezug auf die Richter verfügt, mit denen die Spruchkörper besetzt sind, die für das Verfahren gegen diese Person nach ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat wahrscheinlich zuständig sein werden. (Bearbeiter)


Entscheidung

348. EGMR Nr. 1128/17 – Urteil der Dritten Sektion vom 16. Februar 2021 (Meng v. Deutschland)

Unparteilichkeit (subjektiver und objektiver Ansatz; Mitwirkung eines Berufsrichters bei früherer Verurteilung des Mitbeschuldigten; rechtliche Beurteilung des Verhaltens der später angeklagten Person; Feststellung der zur Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen

Kriterien auch im Hinblick auf die später angeklagte Person; Vorwegnahme der Schuld; Vorverurteilung).

Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 23 StPO; § 24 StPO; § 30 StPO

1. Ob Unparteilichkeit im Sinne von Artikel 6 Abs. 1 EMRK gegeben ist, ist zum einen anhand einer Prüfung nach subjektiven Kriterien zu bestimmen, bei der auf die persönliche Überzeugung und das Verhalten des betreffenden Richters in einem bestimmten Fall abzustellen ist, und zum anderen anhand einer Prüfung nach objektiven Kriterien, bei der festgestellt wird, ob der Richter hinreichend Gewähr dafür bot, dass diesbezüglich alle berechtigten Zweifel auszuschließen sind.

2. Beim objektiven Ansatz muss bestimmt werden, ob es – abgesehen von dem persönlichen Verhalten der einzelnen Mitglieder dieses Spruchkörpers – feststellbare Tatsachen gibt, die Zweifel an dessen Unparteilichkeit begründen können. In dieser Hinsicht kann bereits der Anschein von einer gewissen Bedeutung sein.

3. Die Besorgnis der Unparteilichkeit lässt sich nicht schon allein damit begründen, dass ein Tatrichter frühere Entscheidungen wegen derselben Straftat erlassen hat. Gleichermaßen reicht allein die Tatsache, dass ein Richter bereits über ähnliche, aber selbständige Tatvorwürfe entschieden hat oder in einem gesonderten Strafverfahren gegen einen Mitbeschuldigten verhandelt hat, nicht aus, um Zweifel an der Unparteilichkeit dieses Richters in einem nachfolgenden Fall zu begründen.

4. Objektiv gerechtfertigte Zweifel können sich ergeben, wenn die innerstaatlichen Gerichte über die Beschreibung der Tatsachen, die die später angeklagte Person betreffen, hinaus auch eine rechtliche Bewertung des Verhaltens dieser Person vornahmen.

5. Zu prüfen ist, ob das vorangegangene Urteil Feststellungen enthielt, durch welche die Beurteilung über die Frage der Schuld der später angeklagten Person tatsächlich vorweggenommen wurde. Dies ist insbesondere zu bejahen, wenn das Gericht detaillierte Feststellungen zur Tatausführung und zum Tatmotiv der später angeklagten Person getroffen und damit zum Ausdruck gebracht hat, dass die zur Erfüllung eines Straftatbestands erforderlichen Kriterien auch im Hinblick auf die später angeklagte Person erfüllt waren.


Entscheidung

351. BVerfG 2 BvR 1214/21 (1. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 27. Januar 2022 (Saarländisches OLG)

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen eine Auslieferung nach Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls (unionsgrundrechtliches Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung; gerichtliche Aufklärungspflicht; zweistufiges Prüfprogramm; Gesamtwürdigung der konkret zu erwartenden Haftbedingungen; Bedeutung der Haftraumgröße; Vermutung eines Verstoßes bei unter 3 m² Bodenfläche pro Gefangenem in einem Gemeinschaftshaftraum; mögliche Grundrechtsverletzung zwischen 3 m² und 4 m² bei Hinzutreten weiterer defizitärer Haftbedingungen; Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens; konkrete Zusicherungen des Ausstellungsmitgliedstaats; Überprüfung der Belastbarkeit durch gerichtliche Gefahrenprognose).

Art. 4 GRCh; Art. 3 EMRK; Art. 15 Abs. 2 RbEuHb; Art. 17 RbEuHb

1. Ein Oberlandesgericht kommt bei der Entscheidung, mit der es eine Auslieferung nach Rumänien zum Zwecke der Strafvollstreckung aufgrund eines europäischen Haftbefehls für zulässig erklärt, seiner sich aus Art. 4 GRCh ergebenden Pflicht zur Prüfung und Aufklärung, ob dem Verfolgten im Zielstaat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, nicht hinreichend nach, wenn es hinsichtlich der Haftanstalt, in welcher der Verfolgte eine Quarantänezeit verbringen soll, nicht berücksichtigt, dass Art. 4 GRCh bei Hinzutreten weiterer defizitärer Haftbedingungen auch bei einer Unterbringung des Verfolgten in einer Gemeinschaftszelle mit einem persönlichen Raum zwischen 3 m² und 4 m² verletzt sein kann. Dasselbe gilt, wenn das Gericht von einer Kompensation defizitärer Haftbedingungen durch die Möglichkeit von Besuchen, Telefonaten oder Aktivitäten außerhalb der Haftzelle ausgeht, es diesbezüglich jedoch an einer eigenen Gefahrenprognose fehlen lässt, die erforderlich ist, um die Belastbarkeit der mitgeteilten Angaben einschätzen zu können (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 13. Juli 2021 [= HRRS 2021 Nr. 738]).

2. Aus Art. 4 GRCh folgt für ein mit einem Überstellungsersuchen befasstes Gericht die Pflicht, in zwei Prüfungsschritten – zunächst mit Blick auf systemische Mängel der Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat, sodann hinsichtlich der für die Situation des Verfolgten maßgeblichen materiellen Haftbedingungen – von Amts wegen aufzuklären, ob die konkrete Gefahr besteht, dass der zu Überstellende nach einer Übergabe einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Der zweite Prüfungsschritt erfordert eine Gesamtwürdigung der maßgeblichen materiellen Haftbedingungen und darf nicht auf offensichtliche Unzulänglichkeiten beschränkt werden.

3. Bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung der Haftbedingungen ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei Gemeinschaftszellen hinsichtlich des einem Inhaftierten zur Verfügung stehenden Raums zu unterscheiden, ob dieser unter 3 m², zwischen 3 m² und 4 m² oder über 4 m² liegt. Bei der Berechnung der verfügbaren Fläche in einer Gemeinschaftszelle ist die Fläche der Sanitärvorrichtungen nicht einzuschließen, wohl aber die durch Möbel eingenommene Fläche, wobei es den Gefangenen möglich bleiben muss, sich in der Zelle normal zu bewegen.

4. Liegt der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle unter 3 m², so besteht eine starke Vermutung für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK, die regelmäßig nur widerlegt werden kann, wenn es sich kumulativ erstens um eine kurze, gelegentliche und unerhebliche Reduzierung des persönlichen Raums gegenüber dem geforderten Minimum von 3 m² handelt, diese Reduzierung zweitens mit genügend Bewegungsfreiheit und ausreichenden Aktivitäten außerhalb der Zelle einhergeht sowie drittens die Haftanstalt allgemein angemessene Haftbedingungen

bietet und die betroffene Person keinen anderen Bedingungen ausgesetzt ist, die als die Haftbedingungen erschwerende Umstände anzusehen sind.

5. Liegt der einem Inhaftierten zur Verfügung stehende Raum in einer Gemeinschaftszelle zwischen 3 m² und 4 m², so kann Art. 4 GRCh beziehungsweise Art. 3 EMRK verletzt sein, wenn zu dem Raummangel weitere defizitäre Haftbedingungen hinzutreten, wie etwa fehlender Zugang zum Freistundenhof beziehungsweise zu Frischluft und Tageslicht, schlechte Belüftung, eine zu niedrige oder zu hohe Raumtemperatur, fehlende Intimsphäre in den Toiletten oder schlechte Sanitär- und Hygienebedingungen.

6. Mit dem zweistufigen Prüfprogramm sind Aufklärungspflichten des mit einem Überstellungsersuchen befassten Gerichts verbunden. Dieses muss den Ausstellungsmitgliedstaat um die unverzügliche Übermittlung aller notwendigen Informationen in Bezug auf die konkret zu erwartenden Haftbedingungen bitten. Der Ausstellungsmitgliedstaat ist verpflichtet, diese Informationen innerhalb der ihm vom ersuchten Mitgliedstaat gesetzten Fristen zu übermitteln. Die Aufklärungspflicht beschränkt sich auf die Prüfung derjenigen Haftanstalten, in denen der Verfolgte nach den vorliegenden Informationen wahrscheinlich, sei es auch nur vorübergehend oder zu Übergangszwecken, konkret inhaftiert werden soll.

7. Auf eine konkrete Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats muss sich das mit dem Überstellungsersuchen befasste Gericht zumindest dann verlassen, wenn keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Haftbedingungen in einer bestimmten Haftanstalt gegen Art. 4 GRCh verstoßen. Auch eine Zusicherung des Ausstellungsmitgliedstaats entbindet das mit einem Überstellungsersuchen befasste Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um so die Belastbarkeit der Zusicherung einschätzen zu können.


Entscheidung

349. BVerfG 1 BvR 2588/20 (2. Kammer des Ersten Senats) – Beschluss vom 9. Februar 2022 (BayObLG / LG Landshut)

Schutz der Meinungsfreiheit und Strafbarkeit wegen Beleidigung (ehrbeeinträchtigende Äußerung über eine Staatsanwältin in einem Beschwerdeschreiben an den Dienstvorgesetzten; grundsätzliches Erfordernis einer Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht; besonderes Schutzbedürfnis der Machtkritik; Schutz von Amtsträgern vor Verächtlichmachung und Herabwürdigung; Berücksichtigung von Form, Begleitumständen, konkreter Verbreitung und Wirkung der Äußerung; „Kampf ums Recht“).

Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG; § 185 StGB

1. Die Verurteilung eines Beschuldigten wegen Beleidigung, welcher in einer schriftlichen Eingabe an den Dienstvorgesetzten eine Staatsanwältin, die gegen ihn den Erlass eines Strafbefehls beantragt hatte, in gänzlicher Unkenntnis der hinter dem Strafbefehlsantrag stehenden Person wegen vermeintlicher Mängel der Ermittlungsarbeit als „selten dämlichen Staatsanwalt“ bezeichnet hatte, verletzt das Grundrecht auf Meinungsfreiheit, wenn die Strafgerichte den Aspekt des „Kampfs ums Recht“ nur deshalb nicht für einschlägig erachten, weil der Strafbefehl bereits in Rechtskraft erwachsen war. Dasselbe gilt, wenn die Gerichte bei der gebotenen Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht den Gesichtspunkt der zulässigen Machtkritik nicht hinreichend würdigen und außer Acht lassen, dass die Äußerung nur einem eng begrenzten Personenkreis bekannt wurde.

2. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit findet seine Schranken in den allgemeinen Gesetzen, zu denen auch die Strafvorschrift des § 185 StGB gehört. Dessen Anwendung erfordert grundsätzlich eine die konkreten Umstände des Falles berücksichtigende Abwägung zwischen der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Bei der Abwägungsentscheidung kommt der Meinungsfreiheit kein genereller Vorrang gegenüber dem Persönlichkeitsschutz zu.

3. Bei der Gewichtung der grundrechtlichen Interessen ist dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik Rechnung zu tragen. Hierzu gehört die Freiheit der Bürger, Amtsträger ohne Furcht vor Strafe grundsätzlich auch in anklagender und personalisierter Weise für deren Art und Weise der Machtausübung angreifen zu können. Auch der Gesichtspunkt der Machtkritik bleibt allerdings in eine Abwägung eingebunden und erlaubt nicht jede ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern.

4. Bezüglich der Form und der Begleitumstände einer Äußerung kann von Bedeutung sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder mit Vorbedacht gefallen ist und ob für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand. So ist es im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Anliegen zu unterstreichen (sogenannter „Kampf ums Recht“).

5. Bei der Abwägung ist außerdem die konkrete Verbreitung und Wirkung einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung in Rechnung zu stellen. Maßgeblich ist, welcher Kreis von Personen von der Äußerung Kenntnis erhält, ob die Äußerung schriftlich oder anderweitig perpetuiert wird und ob sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird.


Entscheidung

350. BVerfG 2 BvR 723/20 (2. Kammer des Zweiten Senats) – Beschluss vom 11. Februar 2022 (OLG Frankfurt am Main)

Recht auf effektive Strafverfolgung (Zulässigkeit eines Klageerzwingungsantrags; fehlender Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft; Behandlung einer Einstellungsbeschwerde als Dienstaufsichtsbeschwerde mangels Verletzteneigenschaft; Straftaten von Amtsträgern bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben; Vertrauen in die Integrität staatlichen Handelns); Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde (Grundsatz der Subsidiarität; Rechtswegerschöpfung; Erfordernis einer Anhörungsrüge).

Art. 103 Abs. 1 GG; § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG; § 33a Satz 1 StPO; § 172 Abs. 1 Satz 1 StPO; § 172 Abs. 2 Satz 1 StPO; § 258a Abs. 1 StGB; § 339 StGB

1. Ein Oberlandesgericht verkennt Bedeutung und Tragweite des Rechts auf effektive Strafverfolgung, wenn es einen Klageerzwingungsantrag unter Hinweis auf einen fehlenden Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft als unzulässig verwirft, nachdem diese eine gegen die Verfahrenseinstellung durch die Staatsanwaltschaft gerichtete Eingabe lediglich als Dienstaufsichtsbeschwerde behandelt hat, weil dem Betroffenen eine Verletzteneigenschaft nicht zukomme.

2. Steht der Vorwurf im Raum, dass Amtsträger bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben und kann ein Verzicht auf eine Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen, so kommt ein in den Grundrechten wurzelndes Rechts auf effektive Strafverfolgung in Betracht.

3. Zu dem vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg gehört auch eine nicht offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge, wenn der Beschwerdeführer – ausdrücklich oder der Sache nach – eine Verletzung seines Rechts auf rechtliches Gehör geltend macht.