HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

April 2022
23. Jahrgang
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IV. Strafverfahrensrecht (mit Gerichtsverfassungsrecht)


Entscheidung

393. BGH 5 StR 457/21 – Beschluss vom 2. März 2022 (LG Hamburg)

BGHSt; Verwertbarkeit von im Wege der Rechtshilfe erlangten Daten im sog. EncroChat-Komplex (grenzüberschreitende Überwachung des Telekommunikationsverkehrs; kein Beweisverwertungsverbot; europäischer Rechtshilfeverkehr; Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen; Vermutung rechtmäßigen Handelns; Verwertung personenbezogener Informationen in einer gerichtlichen Entscheidung; europäische Ermittlungsanordnung; Prüfung der hypothetisch rechtmäßigen Erlangung im

Anordnungsstaat; Verhältnismäßigkeit; Kernbereichsschutz; Schutzzweck von Rechtshilfevorschriften).

§ 261 StPO; § 91g Abs. 6 IRG; Art. 30 RL 2014/41/EU; Art. 82 AEUV

1. Verwertbarkeit von EncroChat-Daten. (BGHSt)

2. Die von Nutzern verschlüsselter „EncroChat-Mobiltelefone“ im Wege der Rechtshilfe erlangten Daten unterliegen in der Regel keinem Beweisverwertungsverbot. (Bearbeiter)

3. Bei EncroChat handelt es sich um eine Art kriminelles Netzwerk eines verdeckt operierenden Kryptohandy-Anbieters, der Kriminellen bewusst für ihre Aktivitäten wie insbesondere den Drogenhandel ein unüberwachbares Kommunikationsmittel an die Hand gibt, diese kriminellen Aktivitäten damit aktiv unterstützt und davon in erheblichem Umfang finanziell profitiert. Vor diesem Hintergrund lässt die zeitlich befristete Erhebung aller Nutzerdaten des EncroChat-Dienstes angesichts der Schwere der in Rede stehenden Straftaten sowie vor dem Hintergrund des staatlichen Auftrags zum Schutz seiner Bürger insbesondere vor den von Drogenhandel und organisierter Kriminalität ausgehenden Gefahren und des verfassungsrechtlichen Gebots einer funktionsfähigen Strafrechtspflege grundlegende Rechtsstaatsdefizite oder einen Verstoß gegen menschen- oder europarechtliche Grundwerte nicht erkennen. (Bearbeiter)

4. Die im Wege europäischer Rechtshilfe erlangten Beweisergebnisse aus dem EncroChat-Komplex dürfen in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden. Hierbei sind die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisierenden einschränkenden Voraussetzungen in § 100b Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO in den Blick zu nehmen. Danach muss die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein. Für diese Prüfung ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen. Auf die Rekonstruktion der Verdachtslage im Anordnungszeitpunkt kommt es insoweit nicht an. (Bearbeiter)

5. Die Verwertung personenbezogener Informationen in einer gerichtlichen Entscheidung greift zwar in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) ein. Verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Beweisverwertung in einem strafgerichtlichen Urteil ist aber § 261 StPO. Das Gewicht des in der Verwertung liegenden Eingriffs hängt maßgeblich davon ab, welchen Grad an Persönlichkeitsrelevanz die betroffenen Informationen haben und auf welchem Weg sie erlangt wurden. Die Eingriffsintensität ist insbesondere dann gesteigert, wenn die ursprüngliche Erhebung der verwerteten Informationen mit einem Eingriff in Art. 10 oder Art. 13 GG verbunden war. (Bearbeiter)

6. Die Frage, ob im Wege der Rechtshilfe erlangte Beweise verwertbar sind, richtet sich ausschließlich nach dem nationalen Recht des um Rechtshilfe ersuchenden Staates, soweit der um Rechtshilfe ersuchte Staat die unbeschränkte Verwendung der von ihm erhobenen und übermittelten Beweisergebnisse gestattet hat. Demgegenüber ist die Rechtmäßigkeit von Ermittlungshandlungen – jenseits etwaiger Vorgaben des ersuchenden Staates – nach dem Recht des ersuchten Staates zu bewerten. Eine Überprüfung hoheitlicher Entscheidungen des ersuchten Staates am Maßstab von dessen Rechtsordnung durch die Gerichte des ersuchenden Staates findet dabei grundsätzlich nicht statt. Im Rechtshilfeverkehr ist es vielmehr geboten, Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen und -anschauungen grundsätzlich zu achten, auch wenn sie im Einzelnen nicht mit den innerstaatlichen – hier deutschen – Auffassungen übereinstimmen. (Bearbeiter)

7. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist bei im Wege der Rechtshilfe erlangten Beweismitteln nicht Voraussetzung der Beweisverwertung, dass das deutsche Strafprozessrecht eine entsprechende Maßnahme vorsieht. Bei der Erlangung von Beweismitteln, die ein anderer Staat nach seiner nationalen Rechtsordnung in eigener Zuständigkeit erhoben hat, kann die Anwendung deutscher Verfahrensregeln grundsätzlich nicht erwartet werden. Die bloße Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme kann daher nicht per se ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot begründen. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards wird in solchen Fällen durch Prüfung der Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem nationalen und europäischen ordre public und eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beweisverwertung unter Annahme besonderer Verwendungsvorbehalte gewährleistet. (Bearbeiter)

8. Der Rechtshilfeverkehr im Rahmen der EU ist vom Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen geprägt. Die Schaffung eines Raums der Freiheit, Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist widerlegbar, weshalb der Vollstreckungsstaat die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung verweigern kann, wenn berechtigte Gründe für die Annahme eines nicht kompensierten Grundrechtsverstoßes sprechen. Diese Vermutung rechtmäßigen Handelns wird nicht ohne Weiteres dadurch in Frage gestellt, dass von dem ersuchten Staat eingesetzte Ermittlungsmethoden teilweise der Geheimhaltung unterliegen. (Bearbeiter)

9. Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (RL EEA) und § 91g Abs. 6 IRG sollen den Betroffenen nicht vor einer Beweisverwendung im unterrichteten Staat (hier Deutschland), sondern allein vor einer Beweisverwendung im unterrichtenden Staat (hier Frankreich) bzw. im sonstigen europäischen Ausland schützen. Der individuelle Schutzzweck von Art. 31 Abs. 1 RL EEA und § 91g Abs. 6 IRG ist damit auf die Beweisverwendung im Ausland beschränkt und betrifft die Beweisverwendung im Inland nicht. Den Schutz von Betroffenen vor einer Verwendung von Beweismitteln in einem deutschen Strafverfahren können das deutsche Verfassungs- und Prozessrecht ausreichend durch die Annahme eines Beweisverwendungs- oder -verwertungsverbots oder durch bestimmte Verwendungsvorbehalte

leisten; hierfür bedarf es keiner Rechtshilfevorschriften, die lediglich den zwischenstaatlichen Rechtsverkehr regeln. (Bearbeiter)

10. Die auf eine hypothetisch rechtmäßige Erlangung im Anordnungsstaat abzielende Prüfungspflicht des Art. 6 Abs. 1 Buchst. b RL EEA bezieht sich nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut und der Systematik lediglich auf ausdrücklich in der Europäischen Ermittlungsanordnung angegebene Ermittlungsmaßnahmen, die der Vollstreckungsstaat noch vornehmen soll, nicht auf solche, die er bereits nach seinem nationalen Recht vorgenommen hat und die dem Transfer bereits vorliegender Beweise lediglich zugrunde liegen. (Bearbeiter)

11. Die RL EEA enthält keinen abschließenden Kanon von Ermittlungsmaßnahmen, deren Ergebnisse im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung übermittelt werden könnten; sie legt in Kapitel IV lediglich für bestimmte Ermittlungsmaßnahmen besondere Regeln fest. (Bearbeiter)


Entscheidung

431. BGH 2 StR 41/21 – Urteil vom 2. Februar 2022 (LG Limburg)

BGHSt; Wirkung einer Revision der Nebenklage (unbegründete Revision der Nebenklage: keine Erstreckung der Kontrollbefugnis des Revisionsgerichts auf Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf den Rechtsfolgenausspruch, Aufgabe der bisherigen Senatsrechtsprechung, Argumentation, Wortlaut, Neukonzeption der Nebenklage 1986, Gesetzessystematik, Zweck); Versuch (strafbefreiender Rücktritt: Freiwilligkeit, außertatbestandliches Handlungsziel, unbeendeter Versuch).

§ 400 Abs. 1 StPO; § 401 Abs. 3 Satz 1 StPO; § 301 StPO; § 23 StGB; § 24 StGB

Bei einer unbegründeten Revision der Nebenklage erstreckt sich die aus § 301 analog StPO folgende Kontrollbefugnis des Revisionsgerichts auf Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten nicht auf den Rechtsfolgenausspruch (Aufgabe der bisherigen Se-natsrechtsprechung; Beschluss vom 16. Februar 2001 – 2 StR 501/00). (BGHSt)


Entscheidung

419. BGH 6 StR 639/21 – Beschluss vom 8. Februar 2022 (LG Rostock)

Verwertbarkeit der aus der Überwachung der Kommunikation über den Krypto-Messengerdienst „EncroChat“ durch französische Behörden gewonnenen Erkenntnisse im Strafverfahren (Recht auf ein faires Verfahren).

§ 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO; Art. 6 EMRK

Die aus der Überwachung der Kommunikation über den Krypto-Messengerdienst EncroChat durch französische Behörden gewonnenen Erkenntnisse sind deutschen Strafverfahren regelmäßig verwertbar.


Entscheidung

388. BGH 5 StR 243/21 – Beschluss vom 8. Februar 2022 (LG Hamburg)

Selbstleseverfahren (Bestimmtheit; Bezeichnung der eingeführten Urkunden; Identifizierbarkeit; Individualisierbarkeit).

§ 249 StPO

1. Urkunden, die im Selbstleseverfahren nach § 249 Abs. 2 StPO eingeführt werden, sind im Hauptverhandlungsprotokoll zu bezeichnen (§ 273 Abs. 1 StPO). Die Bezeichnung muss so genau sein, dass die Urkunden identifizierbar sind, wobei bei umfangreichen Konvoluten eine zusammenfassende und pauschale Benennung der nach § 249 Abs. 2 StPO zu behandelnden Urkunden genügen kann. Dadurch soll sichergestellt werden, dass bei den Verfahrensbeteiligten über Gegenstand und Umfang der Beweisverwendung kein Zweifel entstehen kann.

2. Die Urkunden sind dergestalt zu bezeichnen, dass sie von den Verfahrensbeteiligten ohne weiteres individualisiert werden können. Diese sollen so darauf hingewiesen werden, dass der nach § 249 Abs. 2 StPO ausnahmsweise außerhalb der Hauptverhandlung gewonnene Beweisstoff dennoch als Inbegriff der Hauptverhandlung im Sinne des § 261 StPO der Überzeugungsbildung des Gerichts zugrunde gelegt werden kann. Können die Verfahrensbeteiligten nach dem Wortlaut der Anordnung die Urkunden leicht identifizieren, die zum Gegenstand der Beweisaufnahme gemacht werden, genügt die Anordnung dem Bestimmtheitserfordernis des § 249 Abs. 2 StPO.

3. Das Selbstleseverfahren dient nicht dem Zweck, ohne vorherige Bewertung der Beweisbedeutung große Teile der Akten in die Hauptverhandlung einzuführen und sie so zur potentiellen Grundlage des Urteils zu machen. Vielmehr ist es geboten, die durch ein Selbstleseverfahren einzuführenden Urkunden mit Sorgfalt zusammenzustellen und bereits zu diesem Zeitpunkt ihre (mögliche) Erheblichkeit ebenso wie ihre Verlesbarkeit (insbesondere nach den § 249 Abs. 1, §§ 250, 251 ff. StPO) zu prüfen.


Entscheidung

449. BGH 4 StR 434/21 – Beschluss vom 3. Februar 2022 (LG Essen)

Verständigung (gescheiterte Verständigung: keine Bindungswirkung, kein Vertrauensschutz, Geständnis, Abweichen von dem vorgeschlagenen Verständigungsstrafrahmen, kein förmlicher Hinweis notwendig).

§ 257c StPO; § 265 StPO

Eine gescheiterte Verständigung kann von vornherein weder Bindungswirkung noch Vertrauensschutz begründen. Legt der Angeklagte im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung ein Geständnis ab, kann das Gericht daher regelmäßig ohne förmlichen Hinweis nach § 265 Abs. 2 Nr. 2 StPO von dem vorgeschlagenen Verständigungsstrafrahmen abweichen. Denn ohne Hinzutreten besonderer Umstände fehlt es an einem schutzwürdigen Vertrauen des Angeklagten, das Tatgericht werde im Falle eines Geständnisses dennoch eine Strafe in dem in Aussicht gestellten Strafrahmen verhängen.


Entscheidung

434. BGH 2 ARs 223/21 2 AR 166/21 – Beschluss vom 18. Januar 2022

Zuständigkeitsbestimmung durch das gemeinschaftliche obere Gericht (Anfechtungsantrang gegen eine Verlegungsanordnung); Verlegung eines Strafgefangenen (maßgebliches Landesrecht; Zuständigkeit: örtlich, Verweisungsbeschluss, Bindungswirkung, willkürliche Verweisungsentscheidung;); Abweichen vom Vollstreckungsplan (Verlegung in ein anderes Bundesland:

Einigung der obersten Vollzugsbehörden, verwaltungsinterne Voraussetzung).

§ 14 StPO; § 109 StVollzG; § 110 StVollzG; § 26 StrVollstrO

1. Die Verlegung eines Gefangenen in die Vollzugsanstalt eines anderen Bundeslandes bedarf als länderübergreifende Verlegung zwar gemäß § 26 Abs. 2 Satz 3 StrVollstrO einer Einigung der obersten Vollzugsbehörden beider Länder. Die erforderliche Einigung regelt die Verlegung aber nur im Verhältnis der beteiligten Länder zueinander. Sie ist selbst noch keine Verlegungsanordnung, sondern bildet lediglich eine bundesstaatlich notwendige und lediglich verwaltungsinterne Voraussetzung für die Anordnung der (einseitig nicht umsetzbaren) länderübergreifenden Verlegung, die im Außenverhältnis zum Strafgefangenen weiterhin nur nach Maßgabe des einschlägigen Landesrechts durch die danach zuständige Behörde angeordnet werden kann.

2. Wurde ein Strafgefangener aus einer Justizvollzugsanstalt in eine Justizvollzugsanstalt in einem anderen Bundesland verlegt, findet das für diese Justizvollzugsanstalt maßgebliche Landesrecht Anwendung. Dem Landesrecht kommt nur eine räumlich auf das Staatsgebiet des jeweiligen Bundeslandes begrenzte Geltung zu und es erfasst grundsätzlich alle Personen, die sich innerhalb des Staatsgebietes befinden.

3. Zwar ist ein Beschluss, durch den das Verfahren an eine andere Strafvollstreckungskammer verwiesen wird, entsprechend § 83 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit grundsätzlich bindend. Eine Bindungswirkung tritt jedoch nicht ein, wenn die Verweisungsentscheidung willkürlich erscheint, namentlich, wenn eine örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer, an welche die Sache verwiesen worden ist, unter keinem Gesichtspunkt in Betracht kommt oder die Verweisung sonst inhaltlich grob und offensichtlich fehlerhaft ist.


Entscheidung

430. BGH 2 StR 399/21 – Urteil vom 16. Februar 2022 (LG Frankfurt am Main)

Beweiswürdigung (eingeschränkte Revisibilität; Zweifel: Zweifelssatz, keine tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Annahme zu Gunsten des Angeklagten, Zweifel theoretischer Natur, vernünftige Zweifel).

§ 261 StPO

Es ist weder im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen das Beweisergebnis keine konkreten tatsächlichen Anhaltspunkte erbracht hat. Zweifel, welche sich als bloße Vermutungen ohne gesicherte Tatsachengrundlagen erweisen, sind theoretischer Natur in diesem Sinn. Was völlig abseits liegt, darf und muss außer Betracht bleiben. Daraus folgt, dass nur solche Gründe, die zu vernünftigen Zweifeln in einer für den Schuldspruch relevanten Frage Anlass geben, einer Verurteilung entgegenstehen; nur dann ist „in dubio pro reo“ zu entscheiden.


Entscheidung

409. BGH 6 StR 48/22 – Beschluss vom 24. Februar 2022 (LG Bamberg)

Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe (Keine Bildung einer Gesamtfreiheitsstrafe aus mit an sich gesamtstrafenfähigen Einzelgeldstrafen wegen des Grundsatzes der Spezialität; Vollstreckungshindernis).

§ 55 StGB; Art. 14 EurAuslÜbk; § 83h Abs. 1 IRG

1. Die Nichtbeachtung des auslieferungsrechtlichen Spezialitätsgrundsatzes bewirkt ein Vollstreckungshindernis mit der Folge, dass eine wegen dieses Hindernisses nicht vollstreckbare Strafe (hier: Einzelgeldstrafen) nicht in eine Gesamtstrafe einbezogen werden darf.

2. Aus dem Umstand, dass es sich bei den nicht vollstreckbaren Strafen um Geldstrafen handelt, folgt nichts anderes. § 83h Abs. 2 Nr. 3 IRG bestimmt zwar, dass das Verbot des § 83h Abs. 1 IRG nicht gilt, wenn die Strafverfolgung nicht zur Anwendung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme führt. Die Regelung kann aber bei Einbeziehung einer Geldstrafe in eine nicht aussetzungsfähige Gesamtfreiheitsstrafe nicht eingreifen, weil ungeachtet der teilweise verbleibenden Eigenständigkeit der in eine Gesamtstrafe eingestellten Einzelstrafe es insgesamt zur Vollstreckung einer die persönliche Freiheit beschränkenden Maßnahme kommen würde.


Entscheidung

378. BGH 3 StR 74/21 – Urteil vom 27. Januar 2022 (LG Duisburg)

Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen (Anforderungen an die Individualisierung einzelner Taten bei Aburteilung in Serie begangener sexueller Missbrauchshandlungen; Beweiswürdigung; Begriff des rechtlichen Abkömmlings).

§ 174 StGB; § 261 StPO

1. Bei der Aburteilung in Serie begangener sexueller Missbrauchshandlungen dürfen zur Vermeidung unvertretbarer Strafbarkeitslücken an die Individualisierung der einzelnen Taten im Urteil keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden, da eine Konkretisierung der jeweiligen Straftaten nach genauer Tatzeit und exaktem Geschehensablauf oft nicht möglich ist. Das Tatgericht muss sich aber in objektiv nachvollziehbarer Weise zumindest die Überzeugung verschaffen, dass es in einem gewissen Zeitraum zu einer bestimmten Mindestzahl von Straftaten gekommen ist. Entscheidend dabei ist nicht, dass eine – möglicherweise auf nicht völlig sicherer Grundlage hochgerechnete – Gesamtzahl festgestellt wird, sondern dass das Gericht von jeder einzelnen individuellen Straftat, die es aburteilt, überzeugt ist.

2. Ist eine Individualisierung einzelner Taten mangels Besonderheiten im Tatbild oder der Tatumstände nicht möglich, sind zumindest die Anknüpfungspunkte zu bezeichnen, anhand derer das Tatgericht den Tatzeitraum eingrenzt und auf die sich seine Überzeugung von der Mindestzahl und der Begehungsweise der Missbrauchstaten des Angeklagten in diesem Zeitraum gründet. Dabei sind grundsätzlich bei Verurteilungen, die den sexuellen Missbrauch von Geschädigten über 14 Jahren betreffen, an die Konkretisierung einzelner Handlungsabläufe größere Anforderungen zu stellen als bei Tatserien zu Lasten von Kindern.

3. Rechtliche Abkömmlinge eines Mannes i.S.d. § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB sind adoptierte Kinder, die nach § 1754

BGB die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden erlangen, oder Kinder, die nach § 1592 Nr. 1 bis 3 BGB rechtlich einem Mann zugeordnet werden, ohne von diesem abzustammen.


Entscheidung

386. BGH 5 StR 2/21 – Urteil vom 6. Januar 2022 (LG Hamburg)

Gewährenlassen des Täters beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (kein Anspruch des Täters auf rechtzeitiges Einschreiten); Täterschaft bei Einfuhr von Betäubungsmitteln; Doppelverwertungsverbot beim Zusammentreffen von Milderungsgründen.

§ 29 BtMG; § 50 StGB; Art. 6 EMRK

1. Ein Straftäter hat keinen Anspruch darauf, dass die Ermittlungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten, um seine Taten zu verhindern. Allerdings kann eine engmaschige und lückenlose polizeiliche Überwachung eines Betäubungsmittelgeschäfts ein bestimmender Strafzumessungsgrund zugunsten des Angeklagten sein, dem neben der Sicherstellung der Drogen ein eigenes Gewicht zukommt, wenn hierdurch eine tatsächliche Gefahr für das Rechtsgut der Volksgesundheit durch das In-Verkehr-Gelangen der Betäubungsmittel nicht bestand.

2. Es ist nicht erforderlich, dass der Täter einer Einfuhr von Betäubungsmitteln diese eigenhändig ins Inland verbringt (st. Rspr.; siehe zuletzt etwa BGH HRRS 2021 Nr. 99 mwN). Hat jedoch ein mit den eingeführten Betäubungsmitteln Handel treibender Beteiligter keinen Einfluss auf den Einfuhrvorgang und wartet er nur darauf, dass der Lieferant ihm die eingeführten Betäubungsmittel bringt, ist er zwar wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln und gegebenenfalls wegen Teilnahme an der Einfuhr strafbar, jedoch nicht Mittäter der Einfuhr.

3. Die Vorschrift des § 50 StGB verbietet bei der Strafrahmenwahl jedoch nicht nur die doppelte Heranziehung des vertypten Strafmilderungsgrundes als solchen, sondern auch die doppelte Berücksichtigung der für seine Annahme entscheidenden Gründe.


Entscheidung

376. BGH 3 StR 440/21 – Beschluss vom 8. Februar 2022 (LG Oldenburg)

Prozessualer Tatbegriff (einheitlicher geschichtlicher Vorgang; Veränderung des Tatbildes im Verlauf des Verfahrens; Umgrenzung durch Tatort, Tatzeit und Tatbild).

§ 264 StPO

1. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll.

2. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes noch gewahrt ist, nach dem Kriterium der ?Nämlichkeit? der Tat zu beurteilen. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann gegeben, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen.

3. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt. Wann die Tat in dem dargelegten Sinne hinreichend umgrenzt ist, kann nicht abstrakt, sondern nur nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgelegt werden.


Entscheidung

384. BGH 3 StR 484/21 – Beschluss vom 22. Februar 2022 (LG Krefeld)

Teilfreispruch bei gegenüber Anklage und Eröffnungsbeschluss abweichender konkurrenzrechtlicher Beurteilung.

§ 199 StPO; § 200 StPO; § 52 StGB; § 53 StGB

Geht der Eröffnungsbeschluss davon aus, dass die dem Angeklagten angelasteten strafbaren Handlungen sich aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen als eine einheitliche Tat im materiellrechtlichen Sinne darstellen, muss ein Teilfreispruch dann nicht ergehen, wenn sich eine der Handlungen nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung als nicht nachweisbar oder nicht strafbewehrt erweist, es im Übrigen aber bei der konkurrenzrechtlichen Bewertung der Einzelakte verbleibt. Wenn dagegen die Hauptverhandlung ergibt, dass es sich bei den dem Angeklagten angelasteten Handlungen um selbständige, tatmehrheitliche Delikte handelt, und sich ein dem Angeklagten von Anklage und Eröffnungsbeschluss vorgeworfener Einzelakt als nicht nachweisbar erweist, so ist der Angeklagte insoweit aus Billigkeitsgründen freizusprechen.


Entscheidung

389. BGH 5 StR 365/21 – Urteil vom 2. März 2022 (LG Zwickau)

Beweiswürdigung beim freisprechenden Urteil; verständigungsbezogene Mitteilungspflicht (Zeitpunkt der Mitteilung; Rügeanforderungen).

§ 243 Abs. 4 StPO; § 261 StPO; § 267 StPO; § 244 Abs. 2 S. 2 StPO

1. Zwar müssen die Gründe auch eines freisprechenden Urteils nicht jeden irgendwie beweiserheblichen Umstand ausdrücklich würdigen. Das Maß der gebotenen Darlegung hängt vielmehr von der jeweiligen Beweislage und insoweit von den Umständen des Einzelfalls ab; dieser kann so beschaffen sein, dass sich die Erörterung bestimmter einzelner Beweisumstände erübrigt. Insbesondere wenn das Tatgericht auf Freispruch erkennt, obwohl nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung gegen den Angeklagten ein ganz erheblicher Tatverdacht besteht, muss es allerdings in seine Beweiswürdigung und deren Darlegung die ersichtlich wesentlichen, möglicherweise gegen den Angeklagten sprechenden Umstände und Erwägungen einbeziehen.

2. Der Revisionsführer muss nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO sämtliche Tatsachen unterbreiten, die das Revisionsgericht für die Prüfung benötigt, ob – den Vortrag als zutreffend unterstellt – ein Verfahrensfehler vorliegt, wobei auch dem Rügeziel potentiell nachteilige Tatsachen vorzutragen sind.

3. Das Gesetz enthält keine feste zeitliche Vorgabe für die nach § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO gebotene Mitteilung darüber, ob im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung verständigungsbezogene Gespräche stattgefunden haben.